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Wir standen noch immer am Bahnsteig und winkten dem Zug nach, als er schon längst nicht mehr zu sehen war. Hektor und ich taten es, damit Nevas Eltern keinen Verdacht schöpften. Mavie und Karlo hingegen waren aufrichtig betrübt, und Val weinte.

»He«, sagte ich und zog Val an mich, damit sie ihren Kopf auf meine Schulter legen konnte. »Sie ist ja nicht für immer weg.«

Statt einer Antwort bekam ich Vals Schnäuzen zu hören.

»Wollt ihr noch was mit uns trinken gehen?« Mavie sah Val mitfühlend an und zupfte an ihrer Jacke herum. »Hab gar nicht gewusst, dass du Neva so sehr magst?«

»Quatsch. Kann nur nicht besonders gut mit Abschieden umgehen. Das ist alles.« Es wirkte wenig überzeugend, und Val machte sich daran, ihre Anlage in der Umhängetasche zu verstauen. »Ich komm mit.«

»Und ihr?« Mavie blickte von mir zu Hektor.

»Nein. Wir haben schon was vor«, sagte ich, und Hektor kniff die Lippen zusammen.

»Schade. Aber …« Mavie ließ sich von Karlo unterhaken. »Wir sollten uns bald mal zusammensetzen. Wir alle.«

»Wegen Krämer?« Hektor hatte das Transparent zusammengerollt und wusste nun offensichtlich nicht so recht, wohin damit.

Mavie sah uns der Reihe nach an. »Ihr habt auch keine Ahnung, wo er steckt?«

Betretenes Kopfschütteln machte die Runde.

»Ausgerechnet jetzt haut Neva ab.« Karlo zeigte in die Richtung, in die der Zug verschwunden war. »Wir müssen doch irgendwas unternehmen, damit sich die ASGA nicht einfach so in Luft auflöst, als ob es sie nie gegeben hätte. Oder, Leute? Was meint ihr? Wir …«

»Ah. Schön, dass ihr alle kommen konntet.« Alexander Bruderherz trat zu uns. Val und Mavie kannte er scheinbar, denn er sprach sie mit Namen an, als er ihnen die Hände schüttelte. Karlo und mich hingegen blickte er eher verwundert als interessiert an, bedankte sich aber ebenfalls bei uns mit einem Handschlag für unsere Anwesenheit und wünschte uns so glatt poliert wie ein Politiker im Wahlkampf noch einen schönen Tag. Danach wandte er sich Hektor zu. Geschickt führte er ihn ein paar Schritte von uns weg, um sich ungestört mit ihm zu unterhalten.

Ich beobachtete sie dabei und bemerkte, wie sehr Hektor sich zusammenreißen musste, um freundlich zu bleiben. Er trug noch immer Vals Banner mit sich, seine Knöchel zeichneten sich weiß ab, so fest umklammerten seine Hände die Stangen.

Nevas Vater schien gar nicht mitzubekommen, dass er Hektor verärgerte. Unverdrossen redete er auf ihn ein.

Endlich zog Alexander Bruderherz ab. Hektor blieb noch kurz allein stehen, ehe er mit einem gezwungenen Lächeln zu uns zurückkehrte.

»Okay, ich muss los«, sagte er knapp und drückte Val das Banner in die Hand. »Wir telefonieren.«

Er drehte sich zu mir um, zog mich an sich und gab mir einen leidenschaftlichen Kuss. Während ich noch um Atem rang, flüsterte er mir ins Ohr, dass er in zwei Stunden in der Wohnung auf mich warten würde. Dann lief er den Bahnsteig entlang auf den Ausgang zu.

»Hast du nicht gesagt, ihr hättet etwas vor?«, fragte Karlo verwirrt, da ich keine Anstalten machte, hinter Hektor herzurennen.

Ich zuckte mit den Schultern. »Ja. Ich habe aber nicht gesagt, dass wir zusammen was vorhaben. Ich treff mich gleich mit meiner Schwester.«

Karlo bot Mavie den Arm, und sie stützte sich auf ihn. Wegen der von der Versteinerung noch tauben Zehen humpelte sie leicht und nahm seine Hilfe offensichtlich gern an. Val folgte ihnen und hatte dabei mit ihrem sperrigen Banner zu kämpfen, beinahe traf sie einen Mann damit am Bein und einen anderen am Kopf. Sie wollten in ein Café in der Nähe vom Bahnhof und hatten vorgeschlagen, dass ich mit meiner Schwester später dazustoßen sollte. Eigentlich eine gute Idee, doch ich hatte meine Antwort absichtlich vage formuliert, weil ich nicht wusste, wie Vicky drauf sein würde. Wespenschwarm und so.

Da es noch dauern würde, bis Vickys Zug eintraf, beschloss ich, in das Bahnhofscafé zu gehen und mich dort mit einem Heißgetränk aufzuwärmen.

Das Café war klein und zweckmäßig eingerichtet, aber es gab eine erstaunliche Auswahl an Tee, sogar mit richtig heißem Wasser zubereitet. Nur wenige Gäste waren dort, was mir sehr entgegenkam. Ich musste nachdenken.

Zielgerichtet marschierte ich zur Theke und gab meine Bestellung auf. Während ich wartete, sah ich mich nach einem geeigneten Sitzplatz um und staunte nicht schlecht, als ich an einem der Tische einen dunklen Lockenschopf entdeckte, tief über eine Zeitschrift gebeugt.

Auf dem Weg zu Vickys Tisch hatte ich mein Handy gezückt und die Uhrzeit gecheckt. Sie war fast eine Stunde zu früh dran. »Hast du nicht gesagt, dein Zug käme um halb drei?«

Vicky sah auf. Scheinbar war sie so überrascht, mich zu sehen, dass ihre Augen verwundert durch das Lokal huschten, als ob sie nach einer versteckten Kamera suche.

»Oh … He! Ja, hatte mich verguckt. Kam doch noch einer früher.« Sie schlug die Zeitschrift zu und fasste ihre Locken zu einem dicken Knoten zusammen, den sie mit einem dünnen Haarband fixierte. »Super, dass du auch schon da bist. Dachte, ich müsste ewig hier rumsitzen und auf dich warten.«

»Hättest ja eine Nachricht schicken können«, gab ich trocken zurück. Es war purer Zufall, dass ich hereingekommen war, ebenso gut hätte es passieren können, dass wir wenige Meter voneinander entfernt herumgesessen und gelangweilt auf das Eintreffen der jeweils anderen gewartet hätten.

Der junge Mann, der meinen Tee zubereitet hatte, gab mir ein Zeichen, dass ich ihn abholen konnte. Ich bezahlte und kehrte mit dem Tee zu Vicky zurück, um mich zu ihr an den Tisch zu setzen. Sie lächelte mich an. Es war Dads Lächeln, und es fühlte sich gut an. Dieses Lächeln war nicht für immer verloren, sondern ich hatte es bei einem anderen Menschen wiedergefunden.

»Und, äh, was treibst du eigentlich schon so früh hier? Fernweh?«, hakte sie belustigt nach. Eine berechtigte Frage. Ich überlegte kurz und beschloss, Vicky nichts von Nevas oberdämlichem Plan zu erzählen.

»Keine Ahnung. Hatte Lust auf einen Tee«, schwindelte ich und wischte energisch die Vorstellung beiseite, wie zwei geheimnisvolle junge Frauen an einem einsamen Bahnhof aus dem Nebel traten, sich beim Vorübergehen kaum merklich zunickten und anschließend die Plätze im Zug und im Leben tauschten. Hoffentlich war alles so reibungslos vonstattengegangen, wie Neva das vorgesehen hatte.

Der eigentliche Grund für unser Treffen war ja Goldhaar, weshalb ich jetzt zügig dieses Thema anschnitt. Zuerst schuldete ich Vicky eine Erklärung für mein sonderbares Verhalten.

»Es tut mir echt leid, was ich da am Telefon so erzählt habe. Von wegen glänzender Haaren und so. Goldhaar, dieses hinterhältige Biest, hat mich mit irgendeinem Feenzauber belegt. Mir selbst ist gar nicht aufgefallen, wie bescheuert ich mich da aufgeführt habe.«

»Interessant.« Vicky legte den Kopf auf die Seite. »Und wie konntest du diesen Feenzauber dann brechen? Ich meine, wenn du gar nicht wusstest, dass du unter einem gestanden hast?«

Vicky jetzt alles über Scitus zu erzählen, hätte viel zu lange gedauert. Ich verschob die kleine Einführung in die Spiegelkunde und behauptete: »Äh … Reines Glück.«

Was Scitus’ unaufgefordertes Auftauchen betraf, stimmte das sogar. Ich konnte wirklich von Glück reden, dass er ausgerechnet zu diesem Zeitpunkt hereingeschneit war. Gerade so, als hätten wir eine besondere Verbindung zueinander.

Vicky lauschte aufmerksam und ließ mich die Unterhaltung mit der ersten Vorsitzenden im Haus der Genaver haarklein wiedergeben. Mein Tee war bereits ordentlich abgekühlt, als ich das erste Mal daran nippte.

»Auf jeden Fall bedeutet das, dass es Gracia gutgeht«, sagte ich, da Vicky schweigend mit den Fingern über den Rand ihrer nun leeren Glastasse fuhr. »Sie ist nicht Goldhaars Gefangene, sondern eher ihr Gast. Goldhaar kann nur mit allen übrigen Feen zusammen die Unsterblichkeit zurückerlangen.«

»Und du meinst, deshalb wird Gracia gut behandelt?«

An der Oberfläche machte Vicky einen sehr ernsten und gefassten Eindruck. Doch ich wusste, tief in ihr tobte das Verlangen, ans Ufer der Zeit zu reisen.

Um sie nicht noch zusätzlich zu stressen, sagte ich zuversichtlich: »Klar. Goldhaar wird nicht riskieren, noch eine ihrer Schwestern zu verlieren.«

»Nein«, sagte Vicky zustimmend, und ihre Finger rutschten von dem Tassenrand. Da die Tasse dabei umkippte und fast zu Boden fiel, stellte Vicky sie gereizt auf den unbesetzten Nachbartisch, wo bereits eine halb geleerte Tasse stand. »Was wirst du ihr sagen?«

Die mürrische Vicky hatte keine Lust, unter Leute zu gehen. Sie versicherte mir, dass sie einfach nur ihre Ruhe haben wollte, ein bisschen in der Zeitschrift blättern und noch eine Tasse Tee trinken, bis ihr Zug zurück nach Kassel kommen würde. Dass sie das offenbar am liebsten ohne mich machen wollte, nahm ich ihr nicht übel und ließ sie allein in dem kleinen Bahnhofscafé zurück.

Ich überlegte, noch kurz bei Val und den anderen vorbeizuschauen, doch da Hektor mich in gut einer halben Stunde in der Wohnung erwartete, stieg ich in den nächsten Bus, der in diese Richtung fuhr.

Auf Vickys Frage, was ich Goldhaar sagen würde, hatte ich erstaunlicherweise mit einem Schulterzucken geantwortet. Bis zu diesem Zeitpunkt hätte ich beide Hände dafür ins Feuer gelegt, dass ich kein Interesse an ewigem Leben hatte, schon gar nicht, solange nicht auch Hektor unsterblich würde.

Doch bei eingehender Betrachtung wurde mir klar, wie egoistisch es von mir war, es kategorisch abzulehnen. Eine Menge Feen würden meinetwegen sterben, meine eigene Großmutter inbegriffen.

Ich musste es irgendwie hinbekommen, mit Gracia darüber zu sprechen. Es war Quatsch, mir einzureden, dass Gracia schon alt und ihre Zeit eben bald abgelaufen war, denn ich wusste, dass das nicht stimmte. Sie würde nur sterben, wenn ich es zuließ. Weil ich es zuließ. Sollte ich mich auf Goldhaars Angebot einlassen, würden Gracia und ihre Schwestern die Jugend zurückerlangen. Durfte ich ihnen das einfach verwehren? Andererseits, was war mit mir und meinem sterblichen Leben? Was mit Hektor? Und wo zum Teufel steckte Krämer?

Er war der Einzige, dem ich in dieser Angelegenheit zutraute, mir einen wirklich guten objektiven Rat geben zu können. Als mir bewusst wurde, wie sehr ich den grummeligen kleinen Mann vermisste, spürte ich ein Ziepen in der Nasenspitze. Rasch tupfte ich mir die Augen trocken.

Die Bushaltestelle war zum Glück nur wenige Straßen von der Wohnung entfernt, so stand ich schon kurz darauf im Eingang und drückte auf die Klingel, auf der H. Falkenfeder stand.

Es summte, und ich konnte die Haustür aufdrücken. Wie bei meinem ersten Besuch schlug mir im Treppenhaus ein strenger Mix aus Angebranntem und nassem Hund entgegen. Ich stellte mir Neva vor, deren verwöhntes Näschen sicher Amok lief, sobald sie den Hausflur durchqueren musste. Aber die Tarnung war perfekt. Wer würde das jüngste Schneewittchen aus dem Hause Bruderherz schon in einem solchen Haus vermuten?

Hektor kam mir auf halber Treppe entgegen. Er sah mich mit einem Lächeln an, das ein Kribbeln verursachte, von dem ich nicht mit Bestimmtheit sagen konnte, ob es auf der Haut lag oder darunter.

Auf halber Treppe blieb er stehen, doch ich ging an ihm vorbei, stieg eine Stufe weiter. Er drehte sich zu mir um. Wir sagten nichts, sondern sahen uns nur tief in die Augen. Ich legte eine Hand in seinen Nacken, mit der anderen fuhr ich ihm sanft durch die Haare am Hinterkopf und berührte ganz zart mit meinen Lippen seinen Mund. Sein Atem ging schneller, er schloss seine Augen und schlang seine Arme um mich, als sich jemand räusperte.

»Ich stör ja nur ungern …«

Hektor öffnete unwillig seine Augen und blinzelte an mir vorbei zum Treppenabsatz hoch, ohne sich aus unserer Umarmung zu lösen. Auch ich drehte den Kopf, bis ich Neva sah, die halb über das Geländer gebeugt dastand.

»Ja?«, fragte Hektor so leise, als wünschte er, Neva würde es nicht hören, und die Unterhaltung sei damit beendet. Doch Neva blieb hartnäckig. »Du hast die Tür aufgelassen. Jetzt ist dieser komische Geruch in die ganze Wohnung gezogen.«

»Dann mach die Tür doch zu«, schlug Hektor gelassen vor und wollte unseren Kuss fortsetzen, doch Neva sagte noch: »Und dein Handy klingelt.«

»Lass klingeln.«

»Ist dein Vater.«

Hektor rückte steif von mir ab, als hätte er einen Stromschlag bekommen. Sein Blick ging von mir zu Neva, und er wirkte beunruhigt. Eine Entschuldigung murmelnd, ließ er mich stehen, sprang die Stufen hinauf und lief in die Wohnung.

Ich sah ihm verblüfft hinterher. Neva, die noch immer über das Geländer gelehnt war, hob die Brauen: »Ich würde jetzt wirklich gern diese Tür schließen. Kommst du?«

Damit mir besagte Tür nicht vor der Nase zugemacht wurde, beeilte ich mich, hinaufzukommen.

Die Wohnung war die gleiche, und dennoch war es völlig anders, als ich sie diesmal betrat. Es fehlten das sanfte Licht und die Musik, Hektors schüchterne Angespanntheit, mit der er mich im Flur zum Tanz aufgefordert hatte.

Diesmal stand ich dort mit Neva, die eine Hand ausstreckte und auf die Garderobe zeigte: »Gib mir deine Jacke.«

Sie wollte mir behilflich sein, die Jacke abzulegen, wodurch sie den Vorgang nur unnötig verkomplizierte und ich fast in einem Ärmel stecken blieb. Ich ließ sie gewähren, da ich Hektors Stimme hörte. Sie kam aus der Küche und klang ganz fremd.

»Haben er und sein Vater kein gutes Verhältnis?«, wollte ich wissen, als Neva meine Jacke nach einigem Hin und Her endlich an einen Garderobenhaken hängte.

»Nein.«

»Aha.« Damit konnte ich mich nicht zufriedengeben. »Warum nicht?«

»Erbangelegenheiten.«

Ich fuhr herum. »Ist jemand in Hektors Familie gestorben?«

»Nicht kürzlich«, beruhigte mich Neva. »Diese Erbgeschichte ist schon ein bisschen älter.«

Sie machte das Gesicht, das sie immer machte, wenn sie nicht weiter auf ein Thema eingehen wollte. Ich akzeptierte, dass ich nicht mehr aus ihr herausbekommen würde, und beschloss, Hektor einfach selbst zu fragen.

Wir gingen ins Wohnzimmer. Ohne den festlich gedeckten Tisch in der Mitte wirkte der Raum gar nicht so klein. Der Tisch stand an eine Wand geschoben und nahm auf diese Weise nicht viel Platz weg.

»Setz dich.«

»Danke.«

»Willst du was trinken? Tee? Wasser?«

»Oh. Ich würde einen Tee nehmen, bitte.«

»Okay.« Neva wollte gerade das Wohnzimmer in Richtung Küche verlassen, da hörten wir Hektor, wie er wütend rief: »… zu euch bestellen, wie einen kleinen Jungen? Das könnt ihr vergessen.«

»Ähm. Das mit dem Tee muss noch warten, fürchte ich«, sagte sie.

»Kein Ding.«

Wir versuchten, eine Unterhaltung in Gang zu bringen, wurden jedoch immer wieder dadurch unterbrochen, dass wir beide auf Hektors Stimme lauschten.

»Wann? … Bitte, Vater, ich … Ja. Entschuldige, Vater! Gut … Bis dann.«

Obwohl er eindeutig aufgelegt hatte, blieb Hektor noch ein paar Minuten in der Küche.

Als er dann zu uns ins Wohnzimmer kam, hatte er ein künstliches Lächeln aufgesetzt.

»Was war denn los?«, frage Neva besorgt.

Hektor ging zum Fenster, steckte die Hände in die Hosentaschen und sah eine Weile hinaus, ehe er sagte:

»Vater will mich sehen.«

»Mist.« Neva wirkte schockiert. Da ich nicht wusste, worum es ging, fragte ich: »Was ist denn so schlimm daran?«

»Ach … Es …« Hektor drehte sich zu mir um und lächelte. Diesmal war es ein aufrichtiges Lächeln, doch es war traurig, und es lag etwas so Trostloses darin, dass ich am liebsten aufgesprungen und zu ihm gelaufen wäre, um ihn fest an mich zu drücken. Mein Gefühl sagte mir aber, dass das keine gute Idee war, also blieb ich still auf dem Sofa sitzen. Noch etwas, das Neva und Hektor verband. Beide hatten mit ihren Familien anscheinend nicht das große Los gezogen.

»Ich muss erst morgen fahren. Das heißt, wir haben heute den ganzen Abend für uns. Was wollt ihr essen?«

Wir überließen es Neva, einen Essensvorschlag zu machen. Sie entschied sich für Spaghetti mit Rahmspinat, und Hektor ging in die Küche. Ich wollte ihm folgen, um ihm beim Kochen zu helfen, doch sie griff nach meinem Arm und hielt mich zurück.

»Lass ihn«, sagte sie leise. »Normalerweise geht er in den Garten, Bumerang werfen, wenn er sich abregen muss. Da er hier keinen Garten zur Verfügung hat, lassen wir ihm die Küche, ja?«

Ich unternahm keinen Versuch, mich von Neva zu befreien. Sie kannte ihn besser, wenn sie meinte, Hektor brauche die Zeit, um runterzukommen, dann sollte ich sie ihm besser lassen.

Tatsächlich klang das Klappern von Töpfen in der Küche, als würden sie übertrieben fest auf die Arbeitsplatte geknallt.

»Wie lange braucht er denn dafür gewöhnlich?«

»Nicht lange. Halbe Stunde, höchstens«, beruhigte sie mich lächelnd. »Und die Zeit können wir auch gut gebrauchen.«

»So? Wofür?« Überrascht sah ich ihr nach, als sie aus dem Wohnzimmer lief. Da sie nicht zurückkam und das Topfgeklapper sich noch kein bisschen entspannter anhörte, machte ich mich auf die Suche nach Neva.

Die Wohnung war ja nicht besonders groß, und da ich Küche und Badezimmer bereits kannte, ging ich auf das Zimmer zu, dessen Tür nur angelehnt war. Ich klopfte, und da keine Reaktion von drinnen kam, warf ich einen vorsichtigen Blick durch den Spalt. Neva lehnte gerade einen in Decken gewickelten großen, flachen Gegenstand an die Wand.

»Flo?«, rief sie, ohne sich umzudrehen.

Ich trat ein. Das war unverkennbar Nevas Zimmer, alles war weiß und fliederfarben. Es herrschte noch ein wildes Umzugschaos, halb geöffnete Kartons standen überall verteilt herum, die Türen der Kleiderschränke waren noch nicht angeschraubt, und in einer Ecke stapelten sich die Schalenkoffer, die Nevas Vater so mühevoll in den Zug geladen hatte.

»Ah. Schön«, sagte ich, da ich mir durchaus vorstellen konnte, wie dieser Raum fertig eingerichtet aussehen würde. »Und wo ist Hektors Zimmer?«

»Er hat keins.« Neva schlug die Decken zurück und legte dadurch einen goldgerahmten Spiegel frei. »Er schläft im Wohnzimmer. Auf der Couch.«

»Oh.« Mir war das Bett aufgefallen, das Neva offensichtlich neu gekauft hatte. Der Werkzeugkasten, mit dem es zusammengebaut worden war, lag aufgeklappt auf dem Tischchen daneben. Die ebenfalls neue Matratze lag noch quer darüber, damit sie sich zur vollen Dicke aufplustern konnte.

Wenn man Neva ein bisschen besser kannte, wusste man, dass sie ein sehr selbstloser Mensch war. Obwohl mir Hektor leidtat, konnte ich mir lebhaft ausmalen, wie die beiden stundenlang diskutiert hatten, wer nun nachgab und märtyrerhaft in das Zimmer einzog.

Neva hatte den Spiegel in der Zwischenzeit ganz von den Decken befreit. Sie saß vor ihm auf dem Boden und sah zu mir rüber. Ich ging zu ihr und setzte mich neben sie. Sie tippte ungeduldig mit einem Fingernagel gegen das Glas und sagte:

»Okay. Ruf ihn!«

Mein Mund hatte sich schon geöffnet, um die absolut überflüssige Frage zu stellen, wen. Sie meinte Scitus. Und sie wusste, dass ich das konnte.

»Mach dich auf eine Überraschung gefasst«, warnte ich. Dann rief ich seinen Namen. Nur ein einziges Mal.

Scitus erschien prompt. Er sah von Neva zu mir und wieder zu Neva, und ein klägliches »Auweia« entwich ihm.

»Ganz recht, du mieser, hinterhältiger Wurm«, sagte Neva bedrohlich leise.

»Oh. Aber … Es ist eine solche Freude, Euch zu sehen, Angebetete. Ihr seid ja noch strahlender, als …«

»Spar dir die Luft, Scitus«, fauchte Neva, so ganz und gar nicht empfänglich für seine Schmeicheleien. »Was hast du dir dabei gedacht?«

»Wobei?«

Ich hielt mich zurück, immerhin war Neva Scitus’ rechtmäßige Herrin gewesen, bevor Goldhaar ihn aus meiner Obhut gestohlen hatte. Und Neva nahm kein Blatt vor den Mund. Überdeutlich ließ sie Scitus spüren, was sie von ihm hielt. Ihrer Ansicht nach war Scitus nichts weiter als eine auf den eigenen Vorteil bedachte Geißel der Menschheit, die für alle Zeiten hinter Schloss und Riegel gehörte. Wo er auch mehr oder weniger gewesen war, bevor ich ihn in die Hände bekommen hatte, was Neva nun also geradewegs zu mir führte.

»Ihr beide habt euch absolut verantwortungslos verhalten. Flo, du solltest nichts weiter tun, als diese Spiegelheimsuchung …«

»Ich muss doch sehr bitten«, fiel Scitus ihr ins Wort, doch ein einziger Blick des wütenden Schneewittchens genügte, um ihn zum Schweigen zu bringen.

»Du solltest nur einen Kosmetikspiegel aufbewahren. Und was tust du stattdessen? Lässt dich mit dieser falschen Schlange auf einen Handel ein und lässt ihn frei.«

»Aus Versehen«, verteidigte ich mich kleinlaut.

»Das macht es nicht besser«, stieß Neva genervt aus.

Da hatte sie nicht ganz unrecht. Alle drei wechselten wir schweigend Blicke, die dennoch jeden Drehbuchautor inspiriert hätten. Ich wich Nevas Anklage aus eisblauen Augen aus und konzentrierte mich stattdessen auf Scitus.

Mir war schon bei unserer letzten Begegnung bei mir zu Hause im Bad aufgefallen, dass er besser aussah. Seine Wunden heilten schnell. Neva, die gar nicht gewusst zu haben schien, dass man Scitus Verletzungen zufügen konnte, nahm das erst zur Kenntnis, als sie schon eine Weile Dampf abgelassen hatte. Sie lehnte sich vor und hob eine Hand, als könne sie Scitus berühren.

»Scitus …« Sie klang erschüttert. »Was ist denn mit dir passiert?«

Scitus, der schlaue Fuchs, begriff sofort, dass dies seine Chance war, ein paar Mitleidspunkte bei Neva zu sammeln. Theatralisch ließ er das Kinn erzittern und den Krokodilstränen nahe sagte er: »Dolora. Nomen est Omen.«

»Sie kann dir Schmerz zufügen?«

Neva starrte Scitus mit leicht geöffnetem Mund an. Sie würde wohl nie ein großer Fan des Spiegelbewohners werden und ihm immer mit Argwohn begegnen, doch ihr war anzusehen, dass Scitus ihr in diesem Augenblick aufrichtig leidtat. Sie empfand offensichtlich Mitleid für das Geschöpf, dem sie bisher Hinterlist und Heimtücke zugetraut hatte, jedoch nicht die Fähigkeit, zu leiden.

Genau die richtige Gelegenheit also, um sie für unsere Sache einzuspannen und um Hilfe zu bitten. »Neva, du musst uns helfen, Scitus zu befreien.«

Scitus, der ganz meiner Meinung war, sah Neva eindringlich an. »Ich würde wirklich tief in Eurer Schuld stehen, Angebetete.«

Der Zauber war gebrochen, Nevas Mitleid verflog. »Du steckst bereits bis zur Nasenspitze in meiner Schuld, schon vergessen? Noch ein winziges bisschen tiefer, und du ertrinkst darin, Freundchen.«

»Ihr könnt euch später noch über olle Kamellen streiten«, ging ich dazwischen. »Also? Hilfst du uns?«

Neva verschränkte die Arme vor der Brust. »Es wäre ein Fehler, Scitus da rauszuholen.«

»Was? Aber … Aber … Angebetete, das kann doch unmöglich Euer Ernst sein«, lamentierte Scitus mit entsetzt aufgerissenen Augen. Auch ich wollte meinen Ohren nicht trauen.

»Neva! Schau ihn dir doch an. Sie foltert ihn. Willst du das wirklich einfach so zulassen?«

»Regt euch ab!« Neva stand auf und lief, verfolgt von Scitus’ und meinem Blick, auf und ab. »Scitus ist die reinste Pest. Nicht nur so unangenehm, sondern auch so widerstandsfähig. Selbst meiner Großmutter ist es nicht gelungen, ihn loszuwerden.«

»Und sie hat es wahrlich versucht«, pflichtete Scitus bei.

»Kann Goldhaar dich töten?«

»Ähm. Wenn sie es drauf anlegt … Bestimmt«, räumte Scitus widerwillig ein. »Aber leicht mache ich es ihr nicht.«

»Wunderbar.«

»Moment!« Ich stand ebenfalls auf und brachte Neva dazu, stehen zu bleiben. »Was ist daran wunderbar, dass Scitus weiterhin dieser Irren ausgeliefert ist?«

»Verstehst du denn nicht? Er kann uns über alles informieren, was Goldhaar treibt. Wen sie trifft, was sie tut, wohin sie geht. Scitus ist unser Maulwurf bei den Genavern.«

»Spion.«

»Wie bitte?«, fragten Neva und ich gleichzeitig und sahen Scitus an, der stolz seine spitze Nase hob.

»Maulwürfe sind gewiss ehrbare Tiere, Eure Erhabenheiten, aber mir wäre es lieber, wir könnten mir den Rang eines Spions verleihen.«