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Hektor hatte uns Schmetterlingsnudeln in einer würzigen Sauce aus Rahmspinat serviert. Auch wenn es kein Dinner für zwei war und keine Rosenblätter auf einem edel eingedeckten Tisch lagen, ich genoss das Essen.

Wir hatten Hektor von unserem Vorhaben erzählt, Scitus vorerst als Spionagemaulwurf einzusetzen. Ich hatte letztlich zugestimmt, weil wir ohnehin keine andere Wahl hatten. Wir wussten nicht, wie wir Scitus aus Goldhaars Klauen retten konnten, nicht einmal, ob es überhaupt eine Möglichkeit dazu gab. Schon allein deshalb war es ein guter Einfall, Scitus mit einer Aufgabe zu betrauen. Es litt sich leichter, wenn man beschäftigt war.

Auch für Hektor war es neu, dass Scitus Wunden zugefügt werden konnten. Er zeigte trotzdem wenig Mitleid und sagte: »Ich hoffe, dieser doppelzüngige Verräter überlegt es sich demnächst zweimal, wen er hintergeht.«

»Was meinst du damit?« Ich nickte Neva zu, die mir Wasser nachgeschenkt hatte.

»Hätte Scitus dir nicht eingeflüstert, ihn zu befreien, würde er noch immer sicher und gemütlich in seinem Kosmetikspiegel hausen. Neva wäre seine Herrin, Goldhaar hätte keine Macht über ihn, und alle wären zufrieden.«

»Ja. Bis auf eine winzige Einschränkung.« Rasch hielt ich die Hand über meinen Teller, damit Neva mir nicht noch eine Portion geben konnte. »Ohne Scitus wäre ich nicht lebend aus dem Gewächshaus herausgekommen. Schon vergessen?«

»Wo ist der Kerl?« Hektor hob sein Wasserglas. »Ich möchte ihn für diese edle Tat küssen.«

»Das will ich sehen«, murmelte Neva grinsend. Sie spießte eine Nudel auf und hob die Gabel. Doch statt sie in den Mund zu stecken, hielt sie in der Bewegung inne. »Hektor, kannst du dich daran erinnern, was er zu uns gesagt hat? Als wir auf die Idee gekommen waren, ihn Flo aufs Auge zu drücken?«

»Er redet so viel«, erwiderte Hektor schulterzuckend.

»Ja. Schon.« Sie lachte. »Und es wäre wirklich das erste Mal, dass sein Geschwätz irgendwie von Nutzen ist, wenn er als Spion für uns arbeitet.«

»Hoffentlich ist es nicht gefährlich für ihn«, sagte ich leise. »Er ist nicht so übel, wie ihr beide denkt.«

»Unsinn. Er ist sogar noch viel übler.« Neva legte die Gabel weg und ließ sich mit einem wohlig satten Geräusch gegen die Rückenlehne sinken. »Scitus wollte von Anfang an in deine Nähe, Flo. Er hat es irgendwie so aussehen lassen, als sei es mein Einfall gewesen, ihn zu dir zu bringen. Jetzt ist mir natürlich klar, was er sich davon versprochen hat. Er wusste, dass du ihn aus seinem Gefängnis aus Silber, Glas und Zeit befreien kannst.«

Schuldbewusst sah ich auf meinen fast leeren Teller.

»Aber du hast recht«, gab Neva schließlich zu. »Damit wir ihn nicht gefährden, dürfen wir ihn nicht zu oft rufen. Ich würde vorschlagen, ein Mal am Tag. Zu unterschiedlichen Zeiten. Goldhaar darf nicht misstrauisch werden.«

Nach dem Essen bat ich Hektor, mich nach Hause zu fahren. Ich hatte gesagt, es sei wegen des Englischtests, für den ich noch lernen müsse, aber in Wahrheit wollte ich nicht, dass Hektor zu spät ins Bett kam. Er musste am nächsten Morgen früh aufbrechen und war dann den ganzen Tag unterwegs. Da sollte er lieber ausgeschlafen sein.

Hektor legte einen Arm um meine Schulter, und ich schlang meinen um seine Hüfte, als wir zum Cabrio gingen. Er hatte zwei Straßen weiter parken müssen, da es in dieser Gegend nur wenige Parkplätze gab. Das passte mir gut, denn es war herrlich, mit ihm durch die kalte, klare Abendluft zu spazieren. Ich wollte am liebsten immer weiter und weiter an seiner Seite gehen.

»Wann kommst du denn wieder?«, fragte ich traurig.

»Ich bleibe nur eine Nacht dort. Länger halten mein Vater und ich es nicht unter einem Dach aus.«

»Mhm«, machte ich verständnisvoll. »Dann bist du übermorgen also abends wieder zurück?«

»Wenn alles gut geht«, sagte Hektor sanft und zog mich enger an sich.

»Erzählst du mir dann, um was es bei dieser geheimnisvollen Sache geht?«

»Kommt drauf an«, sagte Hektor und machte es dadurch kein bisschen weniger geheimnisvoll. Seine nächste Äußerung machte es aber wieder gut. »Es gefällt mir nicht, ohne dich wegfahren zu müssen.«

»Tja. Wir alle haben unsere Pflicht zu erfüllen«, sagte ich im Scherz. Hektor antwortete nicht darauf.

Ein Radfahrer, der auf Licht und helle Klamotten verzichtet hatte, hielt uns auf, weil er in der Mitte der Straße fuhr. Hektor blieb so lange wie möglich hinter ihm, damit dieser Kamikazeradler nicht noch durch andere, weniger rücksichtsvolle Verkehrsteilnehmer gefährdet werden konnte.

Ich lächelte in mich hinein. Hektor dachte immerzu an andere, selbst wenn sie ihm völlig unbekannt waren.

Plötzlich musste ich an Lavina denken. Hektor hatte sich um sie gekümmert und sie getröstet, als Krämer sie aus der Mühle geschmissen hatte. Und als sie dann verschwunden war, hat er überall nach ihr gesucht. Natürlich war ich eifersüchtig auf sie gewesen. Lavina war zu hübsch, um nicht eifersüchtig auf sie zu sein. Zugegeben, ich hatte mich dafür geschämt, als wir sie schließlich im Feenversteck gefunden hatten, denn Lavina war in einem erbärmlichen Zustand gewesen und auf ärztliche Hilfe angewiesen.

Ich drehte mich zu Hektor, der gerade lachend von seinem letzten Besuch im Baumarkt mit Neva sprach. Neva hatte dort alle Mitarbeiter in den Wahnsinn getrieben, und ich musste nicht dabei gewesen sein, um das zu glauben.

Er hatte mir gar nicht erzählt, ob er seine Ex-Verlobte gesehen hatte, seit wir sie gefunden hatten …

Ich riss meinen Kopf herum, als könne Hektor mir ansehen, auf was für blöde Ideen ich schon wieder gekommen war. Hektor hätte all das auch für Val oder Mavie getan. Hätte nach Vicky genauso gesucht wie nach Yuki. Und für Neva würde er barfuß über glühende Kohlen laufen. So oft sie wollte. Würde er je nur mir gehören?

Es gelang mir die restliche Fahrt über nicht, die aufkeimende Eifersucht auf alle und jeden abzuschütteln, weshalb unsere Verabschiedung relativ knapp ausfiel.

Hektor bekam das zum Glück gar nicht so richtig mit, denn er war mit seinen Gedanken ganz woanders.

Der Test in Englisch ging in die Hose. Aber so richtig. Ich wusste so gut wie nichts und fragte mich die gesamte Zeit über, ob wir das überhaupt je im Unterricht behandelt hatten. Nun, wahrscheinlich schon, wenn ich das fleißige Schreiben meiner Klassenkameraden richtig deutete.

Frustriert gab ich ab und verließ die Klasse.

Da mir der Kopf schwirrte, freute ich mich auf den Pausenhof und darauf, frische Luft zu schnappen. In meine Jacke gemummelt, hielt ich nach ein paar Leuten Ausschau, mit denen ich quatschen konnte, vorzugsweise nicht über den Test. Tatsächlich fand ich jemanden. Val.

Sie stand beim überdachten Fahrradparkplatz und rief nach mir, winkte dabei wie verrückt.

»Flo! He, Flo! Hier drüben!«

»Ist ja gut! Ich hab dich ja gesehen.« Ich lief schnell auf sie zu und sah mich verschämt um. »Hör auf, so herumzubrüllen. Was ist denn los?«

»Gut, dass du gerade herauskommst«, sagte Val aufgeregt. Ihr Kurzhaarschnitt war praktisch und ließ sie entschlossen wirken. »Wir müssen los!«

»Äh, ich kann nicht.« Wie stellte sie sich das vor? »Ich hab noch zwei Stunden.«

Val sank ein Stück in sich zusammen. »Dann ist es zu spät.«

»Wofür?«

Fünf Minuten später lagen meine Schulsachen auf der Rücksitzbank in Vals Auto, ich saß auf dem Beifahrersitz, und wir fuhren mit röhrendem Auspuff und klapperndem Schiebedach aus der Stadt hinaus. Meinem Lehrer gegenüber hatte ich behauptet, unter akuten Magen-Darm-Beschwerden zu leiden. Da dieser für seine Hypochondrie bekannt war, hatte er mich mit einem Taschentuch vor dem Mund eilig aus dem Klassenraum gewunken.

Ich hatte es nicht gern gemacht und hätte mir diese weitere fette Lüge gern erspart, doch wenn die Gesundheit eines unschuldigen Menschen in Gefahr war, durften wir Fabulae nicht zögern und mussten selbst Leib und Leben riskieren.

»Folgendes«, klärte Val mich auf. Ich schloss die Klappe vom Handschuhfach, nachdem sie sich in der Kurve geöffnet hatte. »Ein junger Mann irrt im Wald herum.«

»Dafür habe ich Mathe sausen lassen?« Erneut klappte ich das Handschuhfach zu. Energischer diesmal. »Ist da nicht irgendjemand anderes zuständig? Seine Mama vielleicht? Oder ein Förster?«

»Im Normalfall schon.« Val hatte die Scheibenwischer angestellt, da es auch noch zu regnen begonnen hatte. Die quietschten so laut, dass sie lauter sprechen musste. »Aber dieser Knabe hat eine Axt dabei.«

»Oh.« Ich nahm nicht an, dass er ein gewöhnlicher Holzfäller war. »Gefährlich?«

»Kennst du das Märchen Die goldene Gans

»Nicht so richtig«, gab ich zu.

»In diesem Märchen gibt es drei Brüder, die nacheinander zum Holzhacken gehen.«

Während ich immer wieder die Klappe zudrückte, gab Val in Kurzform das Märchen wieder. Darin ging zuerst der älteste Bruder in den Wald, um Holz zu hacken. Die Mutter hatte ihm feinste Speisen eingepackt, und als er sich zur Rast niederließ, kam ein graues Männlein und bat darum, mitessen zu dürfen. Der Bruder jagte das Männlein fort. Als er satt und ausgeruht ans Werk gehen wollte, rutschte er mit der Axt aus und hieb sich in den Arm. Daraufhin wurde der zweitälteste Bruder geschickt. Auch für ihn hatte die Mutter gute Speisen. Als auch zu ihm das Männlein kam, lehnte er wie zuvor sein Bruder ab und jagte es davon. Er hieb sich mit der Axt ins Bein.

Dann kam der jüngste Bruder dran. Der wurde von allen nur Dummling genannt, und seine Mutter packte ihm nur Aschekuchen und saures Bier ein. Doch als das Männlein schließlich auch zu ihm trat, lud er es ein und teilte gern mit ihm.

»Und aus lauter Dankbarkeit«, sagte Val und kniff angestrengt die Augen zusammen, damit sie im dichten Regen noch die Straße sehen konnte, »führte das Männlein ihn zu einem Baum. Diesen sollte er umhauen, um darin die Goldene Gans zu finden.«

»Mist.«

»Du sagst es!«

Ich war dazu übergegangen, die Klappe gar nicht mehr loszulassen. Wir fuhren nur sehr langsam, da es wie aus Eimern goss.

Nachdenklich sah ich aus dem Fenster. Ein Waldspaziergang bei diesem Wetter war schon mal nicht sehr verlockend. Die Aussicht, dabei auf einen Axt schwingenden Mann zu treffen, der dem Wahn verfallen war, eine Goldene Gans zu finden, war hingegen im höchsten Maße verstörend.

»Woher weißt du davon?«, frage ich.

Früher waren wir durch die Agentur verständigt worden, doch nun stand die Mühle ja leer, Bertas Schreibtisch war unbesetzt.

»Paul.«

»Paul?«

»Paul Martin.«

»Ach so«, sagte ich und musste schmunzeln. »Der Ex-Fabulus bei der Polizei. Weißt du, dass ich, bis wir ihn in der Mühle getroffen und er sich vorgestellt hatte, dachte, Martin sei sein Vorname?«

»Wäre ja auch gut möglich.«

»Schon. Aber ich hatte mich trotzdem darüber gewundert, weil Krämer doch immer alle mit Nachnamen anspricht.«

»Nicht alle«, sagte Val und setzte den Blinker, um auf einen Parkplatz am Waldrand zu fahren. »Neva nennt er Neva.«

»Bestimmt, weil sich Bruderherz so männlich anhört«, mutmaßte ich.

»Nein. Weil Neva gesagt hat, dass er sie gefälligst Neva nennen soll.«

»Echt?« Ich ließ die Klappe los, die direkt wieder runterfiel. »So einfach wäre es gewesen? Ich hätte es ihm nur sagen müssen, und er hätte mich nicht immerzu mit Allenstein angebellt?«

»Gib zu, du vermisst es.« Val zog den Schlüssel ab.

Wir blieben noch einen Moment sitzen, in der Hoffnung, der Regen würde nachlassen. »Ich vermisse es jedenfalls schrecklich, wie er meinen Namen schreit. Und ich vermisse Neva, die mich anschnauzt. Ich mag es nicht, wenn die Dinge sich verändern.«

Ich sah ihr zu, wie sie die Brille abnahm und die Gläser polierte, während eine Träne über ihre Wange lief.

»Es wird nie mehr so sein wie früher, Flo. Wenn die Mühle erst offiziell aufgelöst ist, dann gibt es keine Fabulae mehr. Wir können dann entweder zu den Genavern gehen und langweiligen Behördenkram erledigen, oder wir leben ein normales, unauffälliges Leben wie die anderen Menschen ohne M-Gen. Aber das hier«, sie zeigte zur Windschutzscheibe hinaus, auf die zwar noch immer sehr dicke, aber dafür deutlich weniger Tropfen prasselten, »wird es für uns nicht mehr geben. Damit ist dann ein für allemal Schluss!«

»Und was ist mit den Gegenständen?«, fragte ich erstaunt. Irgendwer musste die doch einsammeln, ob es die Mühle nun gab oder nicht. Was war mit der giftigen Magie?

»Offenbar wird es demnächst keine offizielle Stelle mehr geben, die dafür zuständig ist. Scheinbar plant Goldhaar, das künftig irgendwelchen privaten Unternehmen zu überlassen, die dann …«

Weiter kam sie nicht, denn eine kreischende Frau kam aus dem Wald gestürmt, prallte gegen unser Auto und rannte, hysterisch mit den Armen rudernd, weiter.

Val und ich sprangen sogleich raus, und als sie uns sah, schrie sie uns an, wir sollten sofort wieder einsteigen und so schnell wie möglich wegfahren, weil sich hier ein Verrückter mit Axt rumtreiben würde.

»Danke! Genau den suchen wir«, rief Val und lief auf den Weg zu, über den die offenkundig zu Tode erschreckte Frau gekommen war.

Ich vergewisserte mich erst, ob es ihr soweit gut ging, und bat sie, bloß vorsichtig zu fahren, dann folgte ich Val in den Wald.

Der Boden war vom Regen glitschig, und immer wieder fielen dicke Tropfen aus den Bäumen. Mir war gar nicht klar gewesen, dass Val derart sportlich war. Es gelang mir nicht, den Vorsprung aufzuholen, den sie bereits hatte, schaffte es aber mit einiger Mühe, unseren Abstand nicht noch größer werden zu lassen.

Als Val stehen blieb, tat ich das instinktiv auch. Sie drehte sich zu mir um, gab mir ein Zeichen, leise zu sein, und schien auf etwas zu lauschen.

Dann hörte ich es auch. Jemand redete.

Wir verließen den Waldweg und liefen zwischen den Bäumen hindurch auf die Stimme zu, wodurch unsere Positionen auch wieder näher zusammenrückten, bis wir schließlich nebeneinander herrannten. Meine Lungen brannten von der kalten Luft, und das Stechen in meiner Seite machte jeden weiteren Schritt zur Qual, dennoch hielt ich nicht an, lief neben Val über oder um Baumstämme, Wurzeln, Blätter, Senken und Äste herum, bis wir so nah waren, dass wir ihn sehen konnten.

»War … ja … klar«, stieß ich außer Atem hervor und stützte mich, weit nach vorn gebeugt, mit einer Hand an einem Baum ab. Es erleichterte mich ein wenig, dass auch Val ordentlich schnaufte.

Wir beobachteten aus sicherer Entfernung den jungen Mann, der auch aus einem anderen Märchen hätte stammen können. Aus einem mit Riesen, nämlich. Rübezahl, oder so.

Er war gut zwei Meter groß, und die Axt, die er fröhlich über seinem Kopf kreisen ließ, sah in seinen gewaltigen Pranken aus wie ein Kinderspielzeug. Dabei lachte er vergnügt und sprach mit sich selbst.

»… Ei, willst du dich bald zeigen, graues Männlein? Ich will mein Essen mit dir teilen. Komm nur! Komm!«

Val und ich mussten nun nicht mehr so sehr um Atem ringen, doch der Hindernislauf im Herbstwald steckte uns so in den Knochen, dass wir gerne ein paar Minuten verstreichen lassen wollten, bevor wir riesentechnisch tätig wurden. Darauf hatten wir uns nur per Handzeichen verständigt. Zufrieden mit unserer gelungenen Absprache, richtete ich mich auf, straffte die Schultern und brachte mit meinem rechten Fuß einen Ast dazu, laut zu knacken. Klasse!

»Männlein?« Der Riese horchte auf.

Wir starrten uns entsetzt an.

»Männlein, bist du das?«

»Ja!«, gab Val zurück. Sie gab mir ein Handzeichen. Hoffentlich bedeutete es, dass wir uns unauffällig in die entgegengesetzte Richtung davonmachen würden.

Falsch gedacht. Val sprang an mir vorbei auf den Holzhacker zu. Meine Hände, mit denen ich sie zurückhalten wollte, griffen ins Leere. Entsetzt lief ich ihr nach, versteckte mich jedoch hinter einem Baum, damit Rübi mich nicht entdecken konnte.

»Ah. Da bist du ja. Setz dich zu mir und iss mit mir. Greif zu! Nimm reichlich!«

Vorsichtig riskierte ich einen genaueren Blick auf unseren Rübezahl. Er mochte zwanzig sein, höchstens. Seine Kleidung war modern, sein Haarschnitt ebenso. Nur seine Ausdrucksweise machte deutlich, dass er sich tief in einem Märchen befand. Er war mit Haut und Haaren der dritte Sohn, der im Wald auf das Männlein traf, seinen Proviant mit ihm teilte und dafür die Belohnung einstrich: Die Goldene Gans. Und das alles nur, weil er diese vermaledeite Axt gefunden hatte und die Finger nicht von ihr hatte lassen können.

Wie ein Hund von einem Knochen, war Rübi von der Magie des Gegenstandes angelockt worden.

»Du sollst essen!«

»Aber das ist …«, protestierte Val.

»Du sollst essen und mir dann meine Belohnung geben«, schrie Rübi ungehalten und ließ eine Handvoll Blätter auf Val niederregnen. »Das ist alles, was meine gute Mutter mir eingepackt hat. Willst du mich und mein Mütterlein beleidigen, indem du es verschmähst?«

Mit einem wütenden Grollen stieß der Typ Val grob um. Sie landete ächzend auf dem mit Blättern bedeckten Boden. Ich hielt die Luft an, bis sie sich endlich regte und aufsetzte. Ihre Brille war heruntergerutscht.

»Willst du mich um meine Belohnung betrügen?«

»Was? Nein! Ich kann dir …«, begann Val, doch schon in der nächsten Sekunde warf sie sich mit einem Schrei zur Seite, weil die Axt auf sie niedersauste.

Der gemeingefährliche Rübezahl hieb wie von Sinnen immer wieder nach Val, und die entkam jedes Mal nur mit knapper Not dem scharfen Blatt, das in den Waldboden fuhr und Klumpen von Dreck hoch aufbersten ließ.

Ich hatte viel Mitgefühl für Menschen, die unter Magischer Vergiftung litten. Sie taten mir leid, und ich versuchte immer so sanft wie möglich, sie von den Gegenständen zu trennen, die sie vergifteten. Doch das hier war zu viel! Dieser Kerl war lebensgefährlich, wie er mit der Axt um sich schlug. Er ließ mir keine Wahl!

Längst hatte ich einen besonders dicken Ast auf dem Boden in meiner Nähe ausgemacht. Jetzt griff ich danach. Er war nass und glitschig, deshalb packte ich ihn fest und sprang mit einem lauten Kampfschrei aus meiner Deckung. Rübi fuhr zu mir um, sah mich verblüfft an, und schon im nächsten Augenblick zersplitterte mein Ast mit einem hässlichen Knacken an seinem Kopf. Er wankte kurz, ließ endlich die Axt fallen, und kippte einfach nach hinten um.

»Val? Alles in Ordnung?«

Val nickte und stand auf. Sie hatte sich eine Handvoll Blätter gegriffen, die sie nun auf den bewusstlos vor sich liegenden Rübi rieseln ließ. Mit einem ungewohnt schneidenden Ton sagte sie: »Nimm reichlich! Es ist genug davon da!«

Val war auf dem Waldboden herumgekrochen, bis sie ihre Brille gefunden hatte. Nun saßen wir nebeneinander auf einem Baumstamm und begutachteten unser Werk. Nur um sicherzugehen, hatten wir Rübi die Jacke ausgezogen und damit seine Arme auf dem Rücken gefesselt.

Er musste schon seit Tagen durch den Wald geirrt sein, auf der Suche nach dem Männlein und der Belohnung.

Magische Vergiftung im kritischen Stadium, ohne jeden Zweifel.

»Was glaubst du, hat er gegessen?«, fragte Val. »Blätter?«

»Er schien ja sehr überzeugt, dass die bekömmlich sind«, antwortete ich.

Wir betrachteten ihn wieder schweigend, bis Val sagte:

»Danke.«

»Kein Ding.«

»Der hätte mich fast umgebracht.«

Ich nickte und warf einen schaudernden Blick zu den tiefen Löchern, die er mit der Axt in den Boden geschlagen hatte. Wir konnten von Glück sagen, dass niemand damit verletzt worden war.

Val seufzte. »Was sollen wir jetzt machen?«

»Zum Auto tragen werde ich den jedenfalls nicht.«

»Ich auch nicht«, gab Val zurück. »Aber hier liegen lassen können wir ihn auch nicht.«

»Und wenn du fährst und Hilfe holst?«

Val dachte nach, nahm ihre deutlich in Mitleidenschaft gezogene Brille ab und sagte schließlich: »Und dich hier mit diesem Holzhacker alleine lasse? Vergiss es, Flo.«

»Du könntest die Axt mitnehmen. Dann kann die ihn nicht weiter vergiften.«

»Keine gute Idee. Schau ihn dir an.«

Das hatte ich bereits gründlich getan. Seine Haut war gelblich wächsern, der Schweiß rann ihm nur so über das Gesicht, und seine Augenlider flatterten.

Mit einem traurigen Kopfschütteln fort Val fort: »Der hat so viel Magie in sich, da braucht er keinen Gegenstand mehr. Machen wir uns nichts vor, wenn er zu sich kommt, wird er sich losmachen und dich wie ein dünnes Ästchen zerbrechen. Einfach so! Das werde ich auf keinen Fall zulassen.«

Wir überlegten weiter. Mein Handy war noch in der Schultasche. Val hatte ihres zwar dabei, doch ein kurzer Blick aufs Display genügte, um auch diese zarte Hoffnung zerplatzen zu lassen wie eine Seifenblase auf dem Nadelkissen. Kein Netz im Wald!

Rübi begann zu zucken und wand sich bald darauf in schlimmen Krämpfen. Er bäumte sich immer wieder auf, und unsere provisorische Jackenfessel löste sich und fiel einfach ab. Wir wurden nervös, Val lief hektisch auf der Suche nach Empfang mit ihrem Handy umher. Sie entfernte sich dabei immer weiter von uns, und als Rübi sich aufsetzte, war von ihr nichts mehr zu sehen.

Ich wollte laut nach Val rufen, um Hilfe schreien, doch es kam nur ein dünnes »Mistmistmist«.

Mit weichen Knien erhob ich mich von dem Baumstamm und starrte Rübi an. Er schien sich noch gut daran zu erinnern, wer ihm die mächtige Beule an der Schläfe verpasst hatte. Der fiebrige Glanz, den ich nun schon so oft bei Magisch Vergifteten gesehen hatte, flackerte in Rübis Augen. Die Lage war ernst.

Rübi hatte sich wankend auf die Beine gekämpft, streckte die Arme nach mir aus, und machte einen wackligen Schritt auf mich zu. Meine Kehle war wie zugeschnürt, als ich leise ausstieß: »Äh … Val?«

Rübi brüllte mich an: »Wo! Ist! Meine! Gans!«

Es mochte an den Gruselgeschichten gelegen haben, die man sich über menschenfressende Riesen erzählte, auf mich machte Rübi jedenfalls einen enorm einschüchternden Eindruck. Ich war sicher, dass nun alles vorbei war.

Ich war im Begriff, schicksalsergeben die Augen zu schließen, da nahm ich von überall her Bewegung war. Es musste hinter jedem Baum jemand gestanden haben, nun stürzten sich diese Leute alle wie auf ein einziges Kommando hin auf Rübi. Einer von ihnen war Wassermann. Er jagte Rübi eine Spritze in den Hals und setzte den wütenden Riesen damit sofort außer Gefecht.