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»Warum?«

»Was meinst du?«, fragte ich zurück, obschon mir ziemlich klar war, worauf Timus hinauswollte.

»Warum hast du zugelassen, dass Val allein zu Salien fährt? Wir wissen doch gar nicht, wie er drauf ist. Was, wenn die Flöte ihn gefährlich macht?«

»Das hoffe ich nicht.« Es war das erste Mal seit dem großen Agenturball, dass Timus und ich uns in die Augen sahen, ohne dass zornige Funken sprangen. »Ich habe aber Angst, dass die Flöte für Salien selbst gefährlich ist. Dieses verfluchte Ding könnte ihn zu irgendetwas verleiten. Zu etwas wirklich Blödem.«

»Was meinst du?«

»Keine Ahnung. Aber ich bin sicher, er bringt sich noch in Gefahr.«

»Möglich«, räumte Timus ein und fuhr schweigend bis zur nächsten Ampel, an der wir anhalten mussten. »Du hast übrigens recht gehabt, Val zu ihm zu schicken. Sie würde nie zulassen, dass ihm etwas passiert.« Mit unverhohlener Ironie fügte er hinzu: »Ich sollte öfter auf dich hören.«

»Gerne. Ich stehe mit Rat und Tat zur Seite.«

Timus warf mir einen finsteren Blick zu und war offensichtlich drauf und dran, etwas zu erwidern. Doch dann schien ihm etwas anderes einzufallen, und er fragte: »Mavie! Was ist eigentlich mit Mavie?«

»Mist!« Eilig zerrte ich mein Handy aus der Tasche. Zuletzt hatte ich auf dem Weg zu Val versucht, Mavie zu erreichen, und es seither nicht wieder probiert. Auch diesmal hatte ich keinen Erfolg. »Sie geht nicht dran.«

Die Ampel wurde grün, Timus fuhr wieder an und fragte: »Was meinst du, wäre mit mir passiert? Wegen der Uhr, meine ich.«

»Oh. Da können wir nur spekulieren«, antwortete ich ausweichend. Timus wäre geliefert gewesen, so viel war sicher. Ich sah es förmlich vor mir, wie er zusammengekauert in einer Ecke hockte, auf seine schicke Uhr starrte und dabei zusah, wie seine Zeit einfach so verstrich.

Timus fuhr sich durchs Haar und sagte: »Das einzig Gute ist, dass Neva gerade nicht da ist. Wenn wir uns auch noch um sie kümmern müssten, kämen wir gar nicht mehr hinterher.«

»Ja«, sagte ich gedehnt und wählte auf dem Handy, das ich noch immer in Händen hielt, unauffällig Nevas neue Nummer. Auch sie meldete sich nicht.

Ein Backstein hätte nicht schwerer in meinem Magen liegen können. Dennoch zwang ich mich, ruhig zu bleiben. Niemand wusste, dass Neva noch in der Stadt war, folglich würde ihr auch niemand einen verfluchten Gegenstand schicken. Bestimmt hatte es einen ganz und gar harmlosen Grund, warum sie nicht ans Telefon ging. Sicher war sie gerade mit etwas anderem beschäftigt. Hochzeitsvorbereitungen für Hektor und Lavina, oder so.

Jetzt fühlte es sich an, als würde der Backstein, der sich zweifelsohne in mir befand, zu glühen beginnen, meine Gedärme gleichzeitig zermalmen und verbrennen, und der Schmerz verschlug mir endgültig den Atem, als ich Hektor vor mir sah.

Seit unserer letzten Begegnung hatte ich es irgendwie geschafft, jeden Gedanken an Hektor weit von mir zu schieben. Hatte mir eingeredet, dass ich nicht anders handeln konnte und auf ihn verzichten musste. Hatte es nicht gewagt, auch nur an Hektor zu denken, weil ich wusste, dass meine Vernunft niemals gegen mein Gefühl ankommen würde.

Es war richtig, dass Hektor sich für die Freiheit seiner Familie und aller Nachkommen, die jemals aus dem Hause Falkenfeder hervorgehen würden, entschieden hatte.

Wie sollten wir zusammen sein, wenn für unser Glück so viele Menschen bezahlen mussten? Früher oder später würde uns diese egoistische Entscheidung einholen. Spätestens, wenn wir irgendwann vielleicht eine eigene Familie planten. Wäre Hektors Liebe stark genug, mir zu verzeihen, wenn unsere Kinder durchmachen mussten, was er erlebt hatte? Wenn sie »Sträfler« genannt wurden? Ihr Leben riskieren mussten für verzogene Genavergören?

Ich zuckte vor Schreck zusammen, als Timus mich ansprach.

»Ja?«

»Vorhin. In Vals Zimmer. Als du ihr die Stricknadeln abgenommen hast …« Timus setzte den Blinker, und ich wartete, bis er abgebogen war. Er musste sich offensichtlich einen Ruck geben, um weiter zu sprechen. »Hab ich mich da verguckt, oder hat es gequalmt, als du die Nadeln hochgehalten hast.«

»Gequalmt?«, wiederholte ich unschuldig. Eine Spur zu unschuldig, wie es schien, denn Timus nahm es mir nicht ab.

»Ach, komm schon, Flo. Dir ist es doch auch aufgefallen. Ich hab genau gesehen, wie du die Nase gerümpft hast.«

»Ja, es hat ja auch nach faulen Eiern gestunken. Zumindest ganz kurz.«

»Hast du sie noch?«

»Wen?«

»Die Stricknadeln. Ich würde sie mir gern mal anschauen.«

»Äh … Von mir aus.«

»Gut. Vielleicht wird der Fluch ja gebrochen, sobald der Gegenstand von der betreffenden Person getrennt wird. Das würde es uns natürlich sehr viel einfacher machen.«

Ich stimmte zu, obwohl ich nicht so recht daran glaubte. Es hatte mit mir zu tun, mit meiner Gabe. Ich war eine Fluchbrecherin, und auf der kurzen Liste der Namen, die davon wissen durften, würde Timus niemals auftauchen.

Wir hielten vor einem Haus, das in seiner schlichten Eleganz an einen riesigen scharfkantigen Würfel erinnerte, der mitten in einen baumbestandenen Garten gefallen war. Es war, als würden Architektur und Natur den Beweis antreten wollen, dass sie sich gegenseitig ergänzen konnten.

Bisher hatte ich mich nie gefragt, wie Karlo wohl wohnen würde, aber es passte sehr gut zu ihm, und ich kam nicht umhin, mir vorzustellen, wie Karlo sich im Sommer von einem Baum zum nächsten schwang.

Als ich zu Timus trat, hatte der bereits geklingelt und wartete ungeduldig darauf, dass sich etwas tat. Niemand öffnete.

»Keiner da«, murmelte er. »Wo kann Karlo denn nur stecken?«

Da ich zu wenig über Karlo wusste, um darauf eine Antwort geben zu können, zuckte ich mit den Schultern. Timus sah mich niedergeschlagen an und drehte sich schon wieder zu seinem Auto um, da hörten wir im Innern des Hauses ein dumpfes Pollern. Timus klingelte erneut, und als er zusätzlich klopfen wollte, hielt ich seinen Unterarm fest.

»Warte«, flüsterte ich und legte einen Finger vor den Mund. Nun waren deutlich Schritte zu hören. Jemand lief umher. Dann war wieder alles still.

»Das gefällt mir gar nicht«, sagte Timus.

Mir gefiel es ebenso wenig, und als Timus sich in Bewegung setzte, lief ich, ohne Fragen zu stellen, hinter ihm her.

Der hintere Teil des Hauses, der zum Garten zeigte, war komplett verglast. Die untere Etage schien aus einem einzigen Raum zu bestehen, der Küche, Esszimmer und Wohnzimmer weitläufig miteinander verband. Eine freie Treppe führte zur oberen Etage, in der sich, soweit ich erkennen konnte, geschlossene Räume befanden. Von Karlo jedoch war nichts zu sehen.

Ich stellte mich näher an die Scheibe und schirmte mit den Händen das Licht ab, damit es mir die Sicht nicht verspiegelte. »Und jetzt?«

Wir machten beide unwillkürlich einen Schritt nach hinten, als über uns ein Geräusch ertönte. Eines der Glaselemente wurde wie eine Schiebetür geöffnet, und noch bevor Karlo seinen Kopf nach draußen geschoben hatte, verpasste Timus mir einen unsanften Schubs. Ich stolperte nach vorn und prallte beinahe gegen die Glasscheibe.

Statt mich aber darüber zu beschweren, sah ich nach oben.

Ich fuhr zusammen. So schlecht hatte Karlo nicht einmal ausgesehen, als ich ihn in Wassermanns Klinik vor Mavies Zimmer getroffen hatte. Sein Gesicht war gerötet und glänzte vor Schweiß, als hätte er sich körperlich stark verausgabt. Und das, obwohl Karlo über eine angeborene Ausdauer verfügte, die ich noch bei keinem anderen erlebt hatte. Überdies waren seine Haare schlimm zerzaust, und nur noch kümmerliche Reste seines Markenzeichens, der Katzenohren, waren zu erkennen.

»Was gibt’s, Timus?« Karlo hatte sich über die hüfthohe Balconette gelehnt und schien nicht einmal zu bemerken, dass ich in geringer Entfernung zu Timus ebenfalls auf der Terrasse stand, so sehr war er auf sein rotes, faustgroßes Jo-Jo konzentriert. Er ließ es herabschnellen, nur um es sogleich wieder zu sich hinaufzuholen. Er fing es nicht auf, sondern ließ es in einer irrwitzig schnellen Bewegung über seinen Handrücken laufen, damit es auf der anderen Seite wieder nach unten fiel.

»Ähm … Wie geht es dir?«, fragte Timus.

»Gut. Hab aber keine Zeit für Besuch. Mach’s gut!« Er ließ das Jo-Jo jetzt nach oben schießen, eine Drehung vollführen und nach einem seitlichen Schwung wieder auf und ab jagen. Es war schwindelerregend, ihm dabei zuzusehen, und ich war sogar ein bisschen froh, als er sich wieder ins Innere verzog.

»Okay!« Timus drehte sich um. »Geh nach vorne, Flo, und pass auf, dass er nicht entwischt.«

Timus marschierte zu einem der Bäume. Nach einem raschen Blick hinauf zu dem Fenster, das Karlo nicht wieder geschlossen hatte, ging ich also vor das Haus. Timus würde den Baum hinauf- und durch das offene Fenster hineinklettern, wo er Karlo dann stellen konnte. Falls der Jo-Jo-Weltmeister in spe glaubte, durch die Haustür entkommen zu können, hatte er sich geschnitten, denn dort würde ich stehen und ihn bereits mit offenen Armen erwarten.

Ich hatte zwar ohnehin nicht angenommen, dass mir in der Zwischenzeit langweilig werden würde, dennoch war ich überrascht, wie schnell nun alles ging. Kaum hatte ich meine Position vor der Tür eingenommen, hörte ich, wie Karlo Timus wüst bedrohte. Kurz darauf stieß Timus einen Schmerzensschrei aus, und Karlo lachte. Es klang eindeutig, als springe jemand geschmeidig die Treppe hinab. Dann näherten sich schnelle Schritte der Tür, sie wurde aufgerissen, und Karlo riss die Augen auf, als er statt der freien Bahn, die er zweifellos erwartete hatte, mich erblicken musste. Seine hohe Geschwindigkeit erlaubte es ihm nicht, jetzt noch einen Rückzieher zu machen, und auch ich dachte nicht im Mindesten daran, auszuweichen. So knallte er mit Karacho in mich rein, wir gerieten beide ins Taumeln und stürzten schließlich hintüber zu Boden. Karlo schaffte es tatsächlich noch im Fallen, sein Jo-Jo einen zweifachen Überschlag machen zu lassen.

»Danke! Das nehmen wir dann besser mal an uns«, sagte Timus. Er war aus der weit offen stehenden Haustür getreten und hatte sich mit einem Fuß auf das Jo-Jo gestellt. Dadurch gelang es Karlo nicht, es an der Schnur, die um seinen Mittelfinger gebunden war, an sich zu ziehen.

Das war die Gelegenheit! Ich setzte mich auf und streckte mich nach dem verfluchten Spielzeug aus, doch da sprang Karlo auf die Beine und wollte sich wütend auf mich stürzen. Dass ihm das nicht gelang, war nur Timus zu verdanken, der Karlo so freundschaftlich wie möglich in den Schwitzkasten nahm. Karlo führte sich auf wie eine Katze, für die man ein Vollbad eingelassen hatte. Timus musste also seinen Fuß von dem Jo-Jo nehmen, um nicht ebenfalls mit ihm hinzustürzen.

Wir drei führten ein Tänzchen auf, bei dem sich Timus langsam im Kreis drehte, um Karlos Bemühungen zu entgehen, ihm einen saftigen Nierenhaken zu verpassen, während ich um sie herumlief und wild in der Luft herumfuchtelte, um das blitzschnell herumsausende Jo-Jo zu schnappen.

»Flo! Beeilst du dich bitte?«, stieß Timus aus und ging leicht in die Knie, als Karlo ihm tatsächlich einen gut platzierten Haken verpasst hatte.

Es war ein Glückstreffer, der zu guter Letzt zum Erfolg führte, denn die Schnur des Jo-Jos wickelte sich eher zufällig um meinen Unterarm, als ich seine Bahn kreuzte, und ich konnte es mir endlich greifen. Wie bei den Stricknadeln gab es ein leises Zischen, ein dünner Rauchfaden und ein flüchtiger Gestank nach Schwefel stiegen auf.

Timus, der Karlo noch immer nicht losgelassen hatte, sah mich an.

Karlo hing nun ohne jede Gegenwehr in Timus’ Schwitzkasten, sein Blick war jedoch starr auf das Jo-Jo in meinen Händen geheftet.

»Was meinst du? Können wir riskieren, unseren tollwütigen Freund loszulassen.«

»Lass den Scheiß«, meckerte Karlo und versuchte ruppig, sich von dem viel größeren und deutlich kräftigeren Fürchtenicht zu befreien. »Du weißt genau, dass es nicht meine Schuld war.«

»Klingt, als ob Karlo wieder ganz bei sich ist«, sagte ich entschieden. Daraufhin ließ Timus ihn los und klopfte ihm leicht auf den Rücken, als Karlo hustete und sich über den Hals fuhr.

»Das nächste Mal eine Spur sanfter, ja?« Karlo streifte sich die Schnur vom Finger. »Bist du immer so grob?«

»Bitte sehr. Gern geschehen.« Timus schüttelte den Kopf und wandte sich dann an mich. »Alles klar bei dir, Flo?«

Ich hatte gerade die Schnur aufgewickelt und das Jo-Jo eingesteckt. Jetzt sah ich an mir hinunter; meine Jeans war schmutzig, aber wenigstens nicht kaputt, und mir tat trotz des heftigen Sturzes nichts weh, also nickte ich zufrieden. Als ich jedoch Timus ansah, bemerkte ich einen fetten roten Fleck auf seiner Stirn. Mit einem unsicheren Grinsen deutete ich darauf.

»Er wollte mich mit einem gezielten Jo-Jo-Schwung außer Gefecht setzen, wie es scheint. Aber«, Timus rieb sich selbstbewusst über den Fleck, »da musst du schon früher aufstehen, Karlo.«

»Danke für den Tipp. Ich stell mir ’nen Wecker«, zischte der grimmig und ging zur Tür. Auf Timus’ fragenden Blick hin erklärte er: »Ihr seid nicht die Einzigen, bei denen ich mich wohl entschuldigen muss.«

Mit einem zutiefst unguten Gefühl lief ich ihm hinterher. »Was meinst du denn damit?«

»Ich habe wohl ein bisschen übertrieben«, gab Karlo geknickt zu. »Immer wenn mir jemand das bescheuerte Jo-Jo wegnehmen wollte, habe ich, sagen wir mal, gereizt reagiert.«

»Und was getan?«

»Nun … Wenn du den Schrank in meinem Zimmer aufmachst, wirst du es sehen.«

Ohne zu wissen, was mich erwartete, lief ich sofort zur Treppe. Karlo rief mir hinterher: »Dritte Tür, links.«

Kurz darauf betrat ich ein Zimmer, das eigentlich sehr hübsch eingerichtet, aber gerade total verwüstet war. Aus einigen zerbrochenen Blumentöpfen quoll Blumenerde, aufgeschlagene Bücher waren überall im Raum verteilt, der völlig zerstörte Controller einer Spielkonsole lag herum, eine Lampe war vom Nachttisch gestoßen worden, und vor dem in die Wand eingelassenen Kleiderschrank lagen haufenweise Klamotten auf dem Boden. Dazu kamen Kerben in den Möbeln und sogar eine zu Bruch gegangene Fensterscheibe, was sicherlich allesamt durch den unsachgemäßen Umgang mit einem verfluchten Spielzeug zu erklären war.

Auf Zehenspitzen ging ich auf den Schrank zu. Daraus drang ein Rumpeln und dumpfes Fiepen. Ich machte mich auf das Schlimmste gefasst, atmete tief ein und riss die Schranktüren auf.

»Mavie!« Entsetzt ließ ich mich auf die Knie fallen und half Mavie behutsam, sich aufzusetzen. Sie war geknebelt, und ihre Hände waren auf dem Rücken gefesselt. Mit schnellen Griffen befreite ich sie zuallererst von dem fest sitzenden Knebel. Sie holte tief Luft.

»Schnell! Wir müssen etwas unternehmen. Karlo … Er ist …«

»Keine Sorge«, unterbrach ich sie. »Wir haben Karlo bereits von diesem unseligen Ding befreit.«

Mavie ließ erleichtert die Schultern sinken. Nachdem ich auch die Fesseln gelöst hatte, die sich bei näherem Hinsehen als gewöhnliches T-Shirt entpuppten, das Karlo eng um Mavies Handgelenke geknotet hatte, kam Mavie aus Karlos Schrank gekrochen. Unterdessen hörten wir aus dem unteren Stockwerk eine schrille Frauenstimme wütend brüllen.

Ich verstand kein Wort, da es sich höchstwahrscheinlich um Chinesisch handelte, trotzdem war es unverkennbar, dass Karlo gerade zusammengefaltet wurde, denn er hatte offensichtlich auch seine Mutter in einen Schrank gesperrt. Wenn man Lautstärke und Höhe der Stimme als Bemessungsgrundlage wählte, war sie mächtig angefressen. Armer Karlo.

»Wie lange warst du denn schon im Schrank?«

»Schwer zu sagen. Aber«, Mavie schob sich an mir vorbei und lief aus dem Zimmer, »ich muss dringend zur Toilette.«

Timus kam in diesem Augenblick herein. »Ruf Val an. Sag ihr, wir fahren gleich los.«

Ganz ihrem sanften Naturell entsprechend, war Mavie nicht mal auf Karlo sauer, als wir herausfanden, dass sie gut zwanzig Stunden in dessen Schrank eingesperrt gewesen war. Als wir sie nach unserem Treffen mit Krämer zu Hause abgesetzt hatten, war sie sofort zu Karlo gefahren. Anscheinend hatte sie gehofft, Karlo würde sein blödes Spielzeug links liegen lassen, wenn sie ihm von Krämers Verhaftung erzählte. Doch weit gefehlt.

»Karlo hat getan, als ginge ihn das alles gar nichts an«, berichtete Mavie, als wir endlich im Auto saßen und zu Salien fuhren. Karlo saß neben ihr auf dem Rücksitz und war in sich zusammengesunken.

»Es tut mir so leid, Mavie. Ich begreife gar nicht, wie ich das tun konnte.«

»Nicht schlimm, Katerchen«, sagte sie tröstend und griff nach seiner Hand. »Du warst ja nicht du selbst. Auf jeden Fall«, Mavie wandte sich wieder zu uns nach vorn, »wollte ich ihm deshalb das doofe Jo-Jo wegnehmen. Das habe ich natürlich nicht geschafft, weil er viel zu schnell für mich ist.«

»Ach?« Timus verstellte den Rückspiegel, um Karlo dadurch einen spöttischen Blick zuzuwerfen. »Als du gesehen hast, dass ich durch das Fenster kam, hast du aber schon gewusst, dass du mächtig in Schwierigkeiten steckst, oder? Sonst hättest du ja nicht gleich mit einem erbärmlichen Quieken die Flucht ergriffen.«

»Erbärmliches Quieken?« Karlo schnaubte. »Beschreibt das nicht eher das Geräusch, das du gemacht hast, als mein Jo-Jo dich am Kopf getroffen hat?«

Unwillkürlich strich sich Timus über die Stirn. »Wehe, das wird ’ne Beule. Sei froh, dass ich dich nicht bei deiner Mutter zu Hause gelassen habe.«

»Ja«, Karlo nickte. »Dafür hast du wirklich was gut bei mir. Ich glaube, Mum fand das nicht ganz so lustig.«

»Hast du ihr denn nicht gesagt, dass du verflucht worden bist?«, fragte Timus.

»Bist du wahnsinnig?« Karlo lachte. »Dann hätte sie mich doch sofort zu Wassermann in die Klinik gezerrt und den alten Blutegel angestachelt, mich von Kopf bis Fuß durchzuchecken.« Er sah von Mavie zu mir. »Danke, dass ihr mich nicht verpfiffen habt.«

Das war nicht nur sehr gern, sondern auch ganz automatisch geschehen. Niemand von uns hatte gewagt, sich mit Karlos Mutter auch nur in einem Raum aufzuhalten, vom Ansprechen mal ganz zu schweigen. Deshalb hatte Timus auch keine Einwände gehabt, als Karlo sich uns auf dem Weg zum Auto angeschlossen hatte.

»Wenn du nicht irgendwo untertauchen willst, wirst du ihr reinen Wein einschenken müssen«, gab Timus zu bedenken.

»Nnmja.« Karlo winkte ab. »In ein, zwei Wochen hat sie sich wieder beruhigt.« Flüsternd fügte er hinzu: »Hoffentlich.«

Wir hielten an einem Café, das sich auf vegane Speisen spezialisiert hatte, und Mavie sprang in Begleitung von Karlo hinein, um sich rasch was zu essen zu holen. Obwohl wir es eilig hatten, nun zu Salien zu kommen, warteten wir geduldig, immerhin hatte Mavie beinahe einen ganzen Tag nichts gegessen. Ein Glas Wasser, das Karlo ihr reumütig gebracht hatte, war bisher alles gewesen.

»Und ihr wollt wirklich nichts?«, fragte Mavie und hielt mir eine Laugenstange mit Sonnenblumenkernen entgegen. »Ist wirklich lecker.«

»Glaub ich dir«, wehrte ich lächelnd ab. »Aber mir ist gerade nicht nach essen.«

Mein Hals war wie zugeschnürt, ich hätte nichts hinunterbekommen. Als ich vorhin mit Val telefoniert hatte, hatte sie sich gar nicht gut angehört. Im Hintergrund war Salien zu hören gewesen, der seiner Panflöte nun keine Melodien mehr, sondern nur noch sehr lang gezogene Töne entlockte, bei denen mir schon beim Zuhören die Puste ausgegangen war. Und wenn ich Val richtig verstanden hatte, erging es Salien tatsächlich so. Er pfiff auf dem letzten Loch. Deshalb meckerte ich auch nicht, als Timus ein klein bisschen schneller fuhr als gewöhnlich.

Mein Handy klingelte, und in der Annahme, Val wolle sich erkundigen, wie lange wir noch brauchen würden, sah ich auf das Display. Es war nicht Val, es war Hektor.

Ich drückte ihn weg und steckte das Handy wieder ein. Timus, dem das nicht entgangen war, grinste.

»Na? Ärger im Dornröschenschloss?«

»Halt die Klappe, Timus«, sagte ich leise.

»Hab mich sowieso schon gewundert, wo dein edler Retter sich rumtreibt. Seit wann lässt Falkenfeder dich denn ganz allein gefährliche Abenteuer bestreiten? Oder«, Timus legte nach, als würden ihm die Gemeinheiten einfach so aus dem Mund purzeln, »ist er mit der schönen Neva durchgebrannt? Das unbeschwerte Leben in Frankreich genießen? Dein Held ist eben auch nur ein Mann.«

Mir schossen die Tränen in die Augen, und damit Timus und die anderen das nicht bemerkten, sah ich stur zum Fenster hinaus.

»Weißt du, was dein Problem ist?«, fragte Mavie. »Du weißt nie, wann es gut ist, Timus, oder?«

Karlo ergänzte: »Ist schon in Ordnung. Am Ende hätten wir ihn doch alle wieder ganz nett gefunden und vergessen, wie er sich seit Wochen aufführt. Stellt euch das bloß mal vor.«

Timus nahm es gelassen hin. »Wir werden ja sehen, wer hier wen am Ende ganz nett findet.«

Timus musste zwei Mal um den Block fahren, bis er endlich eine Parklücke gefunden hatte. Es war eine etwas andere Wohngegend, als ich von Neva, Val oder eben auch von Karlo gewöhnt war.

Wie ich soeben von Mavie erfahren hatte, wohnte Salien allein. Er hatte schon lange keinen Kontakt mehr zu seinen Eltern und schlug sich selbst durch.

Wir stiegen aus und liefen eilig auf eines der großen Mietshäuser zu. Mavie drückte auf eine Klingel, und fast im gleichen Moment war durch die Gegensprechanlage Vals Stimme zu hören. Sie klang unendlich erleichtert, als Mavie ihr unser Eintreffen mitteilte. Wir alle ignorierten betroffen ein langes, quäkendes Geräusch aus dem Hintergrund.

Ich war noch nie dort gewesen, doch der Geruch im Treppenhaus erinnerte mich so intensiv an den im Haus von Hektor und Neva, dass ich für einen Sekundenbruchteil dachte, gleich würde Hektor lachend die Stufen herunterspringen. Unwillkürlich hob ich den Blick, und als mir niemand auf halbem Weg entgegenkam, zog ich voller Enttäuschung die Nase kraus. Offenbar verhielt es sich mit Gerüchen wie mit der Knete im Kindergarten. Ganz gleich, welche leuchtenden Farben man miteinander vermischte, am Ende bekam man immer ein hässliches Graubraun, und ganz egal, welche Gerüche aus den einzelnen Wohnungen stiegen, im Treppenhaus formten sie sich zu einem immergleichen, abgestandenen Gemisch.

Saliens Wohnung befand sich in der vierten Etage. Da die anderen den kleinen Fahrstuhl nicht einmal in Betracht zogen, stieg auch ich mit ihnen die Treppen hinauf. Val hatte die Wohnungstür für uns bereits geöffnet, und wir gingen direkt hinein.

Wir betraten den dunklen Flur und folgten einem Ton, der dünner und dünner wurde, aber nicht so recht enden wollte.

Val saß mit dem Rücken an eine Tür gelehnt auf dem Boden.

»Val? Was ist denn los?« Ich beugte mich zu ihr hinunter und griff nach ihren zitternden Händen. Die Fingerspitzen waren noch immer mit Pflaster umwickelt. Mit wackliger Stimme sagte sie: »Salien. Er ist da drin. Hat sich im Badezimmer eingeschlossen.«

»Lass mich mal«, sagte Timus, klopfte fest gegen die Tür und betätigte gleichzeitig die Klinke. Zur Antwort erklang erneut ein Ton, der kräftig begann, aber recht schnell an Substanz verlor, bis er nur noch ein jämmerliches Pfeifen war.

»So geht das schon, seit ich hier bin.« Val ließ sich von mir auf die Beine ziehen und erklärte verzweifelt: »Als ich hier ankam, habe ich versucht, vernünftig mit Salien zu reden, aber seine einzige Reaktion darauf waren diese albernen Flötentöne. Er holt Luft und bläst dann so lange auf der grässlichen Flöte, bis er ganz dunkelrot anläuft. Seine Augen sind schon ganz blutunterlaufen.«

»Du Arme«, sagte Mavie verständnisvoll.

»Natürlich habe ich da versucht, ihm dieses entsetzliche Ding abzunehmen. Das hat ihn wohl irgendwie verärgert, und er hat sich ins Badezimmer geflüchtet.«

Unwillkürlich musste ich an Caruso denken. Wie oft hatte ich ihm dabei zugesehen, wie er in seinem Terrarium gesessen und seinen Kehlsack aufgebläht hatte? Salien hatte aber keinen Kehlsack, und wenn er sein gesamtes Lungenvolumen investierte, um einen Ton zu erzeugen, mochte das ein, zwei Mal lustig sein. Aber wenn er es stundenlang machte, würde er in ernste Schwierigkeiten geraten.

Timus schien das Gleiche zu denken, denn er schob Val und mich beiseite. »Salien, wenn du nicht aufmachst«, sagte er und schlug mit der Faust gegen die Tür, »werde ich die Tür aufbrechen.«

Ein zittrig langer Pfeifton, der beinahe wie ein Flehen klang, war alles, was Salien erwiderte.

»Okay. Geh besser von der Tür weg«, riet Timus, nahm, soweit es in dem engen Flur möglich war, Anlauf und warf sich mit der rechten Seite gegen die Tür. Sie wackelte in den Angeln, hielt jedoch stand.

Timus schnaufte und wiederholte es. Diesmal gab die Tür ein Knacken von sich, doch es war noch ein weiteres Mal nötig, damit sie krachend aufflog.

Salien stand in der Duschkabine. Sein Gesicht war dunkelviolett verfärbt und sein ganzer Körper verkrampft. Er schüttelte sich, als er mit der letzten Luft, die noch in seinen Lungen zu stecken schien, ein hauchzartes Tönchen hervorquälte.

Ohne darüber nachzudenken, schlug ich ihm die Flöte aus der Hand. Saliens Lippen waren blau, sein Mund stand jetzt weit offen, und er verdrehte die Augen. Er kämpfte wie ein Erstickender um einen Atemzug und griff sich mit beiden Händen an den Hals.

Timus und ich standen vorn, deshalb waren wir es, die Salien auffingen, als er bewusstlos vornüberkippte. Behutsam legten wir ihn auf dem Boden ab. Dabei fiel mein Blick auf die Flöte. Waren wir zu spät gekommen?

Der Raum füllte sich mit Lärm. Ein Schrei lag über allem, voller Angst und Schmerz. Darunter mischten sich entsetzte Rufe nach Wassermann und immer wieder die bange Frage, ob Salien tot sei. Ein ohrenbetäubender Rhythmus dämpfte alle anderen Geräusche, die in dem kleinen Badezimmer auf mich einstürzten, er war kräftig und gleichmäßig, und ich konzentrierte mich ganz auf ihn, um nicht die Nerven zu verlieren.

Meine Fingerspitzen wurden heiß. Ich spürte den Zorn, der wie kochender, brodelnder Teer aus meinem Herzen treten wollte, in jede Arterie vordringen, in jede Vene, bis sie alle mit Hass verklebt wären. Es wäre so leicht, ihm nachzugeben, zuzulassen, dass er mich ausfüllte. Er würde härter werden, mit der Zeit. Ich würde härter werden. Der Zorn würde mir erlauben, Angst zu vergessen und Schmerz zu verlernen. Mein Zorn würde mir Freiheit bringen, Erlösung, köstliches Vergessen. Die Hitze in mir wurde unerträglich.

Ein grelles Licht blendete mich. Verwirrt erkannte ich, dass es von den Fingerspitzen meiner linken Hand ausging. Ich hob die Hand, und es floss wie ein kühlender Bach weiter über den Unterarm, zur Schulter hinauf, den Rücken hinunter, um die Taille herum, bis es an meinem Nabel in mich eindrang und sich um mein Herz legte, wie ein fließender, kristallklarer Schutzschild.

Ich wusste nicht, wo ich war oder warum, aber alles um mich herum war still und friedlich. Nichts schien von Bedeutung. Das Licht, das durch mich hindurchfloss, war nun auch überall um mich herum, warm und weich, wie ein Meer aus Trost und Verständnis, in dem ich auf ewig schwimmen konnte. Schon wollte ich dem Verlangen nachgeben, wie ein Delfin durch das glitzernde Wasser jagen, da bemerkte ich ein Gewicht. Etwas lag auf meinem Schoß.

Teilnahmslos betrachtete ich den leblosen Körper, der mit halb geöffneten Augen und leerem Blick an mir vorbei nach oben sah. Er wirkte friedlich, und ich wollte ihn schon zurücklassen, da regte sich etwas in mir.

»Salien«, stieß ich heiser hervor. Dann bemerkte ich ein schwarzes Ding, das neben uns im Sand lag. Es sah aus wie geschmolzenes Glas, das sich tiefer und tiefer in den Sand fraß. Ein blaugrauer Rauchfaden wand sich zuckend in die Höhe, gleichzeitig blieb er wie auf einer Fotografie vollkommen unbewegt. Ein Zischeln, das noch nicht entstanden und dennoch schon verklungen war.

Man befand sich immer zwischen dem Moment, der unmittelbar bevorstand, und dem, der gerade verstrichen war. Doch statt eines glatten, fließenden Übergangs war dies ein Spalt, ein Raum, in dem die Zeit selbst ihren Anschluss verpasst hatte.

»Das Ufer der Zeit«, entfuhr es mir, und ich sah zu, wie das Licht in Tropfen von mir herabrann und mit den sanften Wellen verschmolz, die gegen unsere Körper schwappten, als wollten sie uns zum Spiel auffordern.

»Lass ihn zurück«, flüsterte jemand hinter mir.

Ich fuhr herum, nahm die flüchtigen Umrisse einer Gestalt wahr, doch sie blieb verschwommen, denn sie befand sich nicht am gleichen Ort wie ich. Dennoch hinterließ sie in der Luft schwarze Schlieren, als sie verschwand.

Voller Angst richtete ich meinen Blick auf Salien.

Er lag nun tiefer im Wasser, sein linker Arm und das Bein bewegten sich mit den Wellen, die an ihm zu ziehen schienen. Ich starrte seine geöffnete Hand an, die wie ein Chamäleon die eigene Farbe verloren hatte und nun wie das seidig glitzernde Wasser klar und durchsichtig war. Ich begriff, dass Salien aufhörte, zu existieren. Er starb.

»Nein«, sagte ich und zog ihn fester zu mir heran.

Und dann brüllte ich es laut heraus: »Nein!«

Ich griff nach der Panflöte, die zwischen meinen Fingern zerfiel, als sei sie aus Sand geformt. Wind, den ich nicht auf der Haut spüren konnte, trug die winzigen Körner fort.

Kurz sah ich ihnen nach, dann senkte ich meinen Kopf und legte meine Lippen auf die von Salien. Sie fühlten sich kalt und hart an, und ich wollte erst entsetzt zurückweichen, doch ich wusste, dass Salien nur überleben würde, wenn sich seine Lungen wieder mit Luft füllten. Der Rhythmus, der beinahe zum Stillstand gekommen war, setzte wieder ein. Verhalten, langsam, doch dann immer stärker, bis er schließlich so kräftig war, dass ich erleichtert die Augen öffnete. Saliens Herz schlug wieder.