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»Pssst!«

Ich zog den Kopf ein, damit ich vom Spiegel aus nicht zu sehen war. »Geht’s noch? Ich bin auf Toilette!«

»So spannend das auch ist, Teuerste, ich habe Neuigkeiten. Ihr werdet aus dem Häuschen sein. Versprochen!«

»Sei nicht so laut. Wir sind nicht allein.«

»Ja. Ich weiß. Aber ich habe an alles gedacht und selbstredend eine kleine Runde durch die Wohnung gemacht, bevor ich Euch hier angetroffen habe. Der junge Fürchtenicht sitzt ahnungslos am Bett meiner unvergleichlich schönen Herrin Neva. Ein Schneewittchen wie aus dem Bilderbuch. Und zwar von den hinteren Seiten, da, wo es im gläsernen Sarg liegt.«

»An alles gedacht«, wiederholte ich und versuchte, im gebückten Zustand meine Hose hochzuziehen. Es funktionierte nicht. »Dreh dich um, Scitus. Und behaupte nicht, das ginge nicht. Ich habe deinen Hinterkopf schon mal gesehen.«

Er tat es murrend, und ich zog mich an, drehte das Wasser auf, seifte die Hände ein und wusch sie mir in aller Ruhe.

»Also? Die Neuigkeiten?«

»Die Feen haben zugestimmt«, triumphierte Scitus, und ein wahres Prachtgefunkel lief über die Rückseite seines Schädels. »Alle dreizehn.«

»Zugestimmt zu was?« Ich drehte das Wasser ab und verfolgte, wie das Funkeln sogar noch stärker wurde. Scitus schimmerte und schillerte wie ein Diamant nach dem Frühjahrsputz. Interessant.

»Na, zu dem Plan der noblen ersten Vorsitzenden. Man wird eine dreizehnte Fee in den Kreis aufnehmen.«

»Das ist wundervoll«, murmelte ich nachdenklich. »Wann wurde das denn beschlossen?«

»Vor wenigen Minuten. Deshalb bin ich sogleich zu Euch geeilt, um mich Euch zu Füßen zu werfen. Die edle Vorsitzende Goldhaar hat dafür extra jede Schwester einzeln in ihr Büro führen lassen, mit ihnen ganz und gar vertrauliche Gespräche geführt und sie dabei ordentlich in die Zange genommen. Es war ergreifend, wenn Ihr mir diesen kleinen Scherz gestattet.«

»Und Gracia? Wie geht es ihr?«

»Den Umständen entsprechend. Gracia ist eine Kämpfernatur, müsst Ihr wissen. Wenn sie sich mal etwas in den Kopf gesetzt hat, dann ist sie nicht mehr davon abzubringen. Für jene, die sie liebt, ist sie bereit, alles zu geben.«

»Hat Goldhaar ihr schlimm zugesetzt?«

»Nicht mehr als den anderen. Aber auch nicht weniger.«

»Und du hast das alles gesehen?«

»Von vorn bis hinten. So, wie Ihr und die viel beweinte Neva es von mir verlangt habt. Obwohl es mir fast den Magen umgedreht hätte, als ich Zeuge werden musste, wie Goldhaar ihren eigenen Schwestern Magie gestohlen hat. Das ist unter Feen nicht gerade ein Kavaliersdelikt, wenn Ihr versteht.«

»Danke.«

»Gern geschehen.« Er gab ein schüchtern geschmeicheltes Kichern von sich. »Kann ich mich jetzt eigentlich wieder umdrehen? Ich dachte, die Zeiten, in denen die holde Weiblichkeit beim Ankleiden auf die Hilfe einer Zofe angewiesen war, wären endgültig vorbei. Oder seid Ihr einfach nur ungeschickt?«

»Dreh dich ruhig um, Scitus.«

Er tat es, sah mir in die Augen und begriff sofort. »Oh oh.«

»Ganz recht, du betrügerischer Wurm.« Ich hatte mich auf dem Waschbecken abgestützt und kam der Spiegeloberfläche mit meiner Nasenspitze sehr nahe, was Scitus dazu veranlasste, sich ein Stück zurückzuziehen.

»Ähm … Wie belieben?«

»Ich zeige dir gleich, was ich beliebe! Ich kann dich zwar nicht dauerhaft irgendwo hinbannen, Scitus, aber ich schwöre dir, ich kann sehr wohl dafür sorgen, dass du keine ruhige Minute mehr hast. Ich werde dich in einen Eimer Wasser rufen, nur um ihn in den Gulli zu kippen. Werde dich in meinen Zahnputzbecher rufen, um damit zu gurgeln und dich danach auszuspucken und wegzuspülen. Und im Sommer werde ich dich ins Babybecken rufen, wo die Babys reinpin…«

»Sprecht es nicht aus!«, wehrte Scitus entsetzt ab. »Womit habe ich Unwürdiger Euren Zorn auf mich gezogen, Teuerste?«

»Dein Funkeln ist zurück, Scitus.«

»Ja«, sagte er gedehnt. »Und es freut mich wirklich, dass es Euch aufgefallen ist. Jedoch kann ich mich nicht des Eindrucks erwehren, etwas daran missfiele Euch, Teuerste?«

»Ich habe dich für einen Freund gehalten, Scitus. Habe dich verteidigt und an dich geglaubt.«

Scitus schluckte. »Noch immer tappe ich im Dunklen, Teuerste.«

»So? Dann werde ich dir jetzt sagen, was mich an deiner Ehrlichkeit zweifeln lässt. Goldhaar quält dich plötzlich nicht mehr, keine Narben und Wunden mehr. Dafür kehrt dein Funkeln zurück, und zwar noch viel prächtiger als zuvor. Wieso? Hast du etwa einen Pakt mit ihr geschlossen? Ihr etwas versprochen?«

Scitus öffnete den Mund, doch ich ließ ihn nicht zu Worte kommen. »Nur Hektor und ich wussten, dass Neva nicht in Frankreich ist. Und du, natürlich. Und was passiert? Sie wird angegriffen, kaum dass Hektor fort ist. Zufall? Das ist doch ein wenig eigenartig, findest du nicht auch?«

»Nicht unbedingt. Wenn man …«

Ich redete einfach weiter, weil es allmählich Sinn ergab. Wieso hatte ich nicht vorher gesehen, wie gut das alles ins Bild passte? »Du selbst hast mir gesagt, Goldhaar ließe dich nicht in das Haus der Genaver, doch jetzt kannst du mir von Vorgängen in ihrem Büro berichten. Du hast gelogen, Scitus. Und ich bin dir auf die Schliche gekommen.«

Scitus starrte mich an. Sein rechtes Augenlid zuckte nervös, und er wollte etwas sagen, doch ich schüttelte den Kopf.

»Genug, Scitus. Ich schwöre dir, wenn ich herausfinde, dass du etwas mit dem Angriff auf Neva zu schaffen hast, werde ich einen Weg finden, dich dafür bezahlen zu lassen. Und jetzt verschwinde zu Goldhaar!«

Er war weg, bevor ich aus dem Badezimmer trat und dabei gegen Timus stieß.

»Was war denn da drin los?«

»Ich hatte …« Mir schwirrten einige Ausreden durch den Kopf, und spontan entschied ich mich für eine, die mit Verdauungsproblemen zu tun hatte. Das kam der Wahrheit doch hübsch nahe.

Die Nacht war beinahe vorüber, und da Timus und ich uns nicht hatten einigen können, wer nun die erste Wache übernehmen sollte, blieben wir eben beide wach.

»Weißt du, Flo«, sagte er, nachdem wir die dritte Kanne Tee des Abends aufgesetzt hatten, »ich hätte nie gedacht, mich mal wieder mit dir in einem Raum aufhalten zu können, ohne von meinen Gefühlen zerquetscht zu werden.«

»Zerquetscht?«

»Ja. Klingt komisch, oder? Aber genau so hat es sich angefühlt. Als wäre ich eine Ameise, die zwischen Daumen und Zeigefinger eines Riesen geraten ist.«

Wir trugen unsere Teetassen in Nevas Zimmer. Er setzte sich auf einen Stuhl am Bett. Den bequemen Sessel, in dem Neva immer gerne mit einem Buch saß, hatte er mir überlassen.

»Interessantes Bild«, gab ich zu. »Aber das ändert nichts daran, dass du dich benommen hast wie der letzte Ar…«

»Jetzt fang du nicht auch noch damit an«, unterbrach er mich. »Warum will eigentlich keiner verstehen, dass es mir wehgetan hat. Du hast mir wehgetan. Man könnte sagen«, Timus philosophierte in seine Teetasse hinein, »ich hatte ein gebrochenes Herz.«

»Quatsch!« Lachend wollte ich das abtun, doch Timus sah mich ernst an.

»Glaubst du mir nicht?«

»Doch … Ich wollte damit nicht sagen …« Zum ersten Mal kam es mir in den Sinn, dass ich Timus verletzt haben könnte. Selbstverständlich hatte ich viel über meine eigenen Gefühle nachgedacht, dabei aber irgendwie komplett übersehen, dass auch Timus, der sich so selbstbewusst und oftmals großspurig gab, Gefühle hatte und demnach verletzt werden konnte. Wenn ich ihm wehgetan hatte, dann war es das Mindeste, dass ich mich bei ihm dafür entschuldigte.

Ich rückte mich in dem Sessel zurecht, sah ihn lange an und sagte dann leise: »Es tut mir leid, Timus. Ich wollte dich nicht verletzen.«

Er erwiderte meinen Blick, und einen Moment lang glaubte ich, er wolle noch etwas dazu sagen, doch dann lachte er und winkte ab.

»Schnee von gestern. Alles gut. Ich bin nicht umsonst als harter Hund bekannt.«

»Ja. Harter Hund … Du weißt schon, dass du als etwas anderes bekannt bist?«

»Ach ja?«

»Als furchtbar aufgeblasener Blödmann, der sich selbst viel zu wichtig nimmt.«

»Und als harter Hund.«

Wir lachten, bis uns bewusst wurde, dass wir am Bett einer im Koma liegenden Freundin saßen. Mit schlechtem Gewissen räusperten wir uns beide und schwiegen betreten eine Weile, bis Timus fragte: »Was war denn eigentlich mit dir und Hektor?«

»Was meinst du?« Das war nur Taktik, um Zeit zu gewinnen. Mir war natürlich klar, worauf Timus hinauswollte.

»Du bist nicht an dein Handy gegangen, als er angerufen hat. Und als er auf Vals Handy anrief, wolltest du auch nicht mit ihm sprechen.«

»Also, um ehrlich zu sein …«

»… geht es mich nichts an?«

»Richtig. Es geht dich nichts an. Aber wenn du es unbedingt wissen musst, Hektor und ich sind nicht mehr zusammen.«

»Wow.« Timus ließ beinahe seine Tasse fallen. »Du hast dich also für Falkenfeder entschieden und mich dafür sausen lassen, nur um Falkenfeder ein paar Tage später ebenfalls abzuservieren?«

»Weißt du, Timus«, erwiderte ich sauer, »es ist merkwürdig, dass du davon ausgehst, dass die Trennung von mir ausging.«

»Na ja. Hektor wäre für dich gestorben. Welchen Grund könnte er also haben, sich von dir zu trennen?«

Mir wurde flau im Magen. »Du hast ja keine Ahnung«, sagte ich mit trockener Stimme.

»Genau. Deshalb frag ich ja.«

Ich schüttelte den Kopf und nahm einen Schluck Tee. Timus ließ mich dabei nicht aus den Augen. Und dann dämmerte es ihm. »Oh. Verstehe. Es hat etwas mit seiner Ex zu tun?«

»Timus, bitte.«

»Ich dachte, sie wäre noch in der Klinik.«

»Keine Ahnung, wo sie ist. Lass uns bitte nicht weiter von ihr reden, ja?«

»Klar.«

Ich ließ meinen Kopf zurücksinken auf ein Kissen und betrachtete Neva. Ich musste wieder an den Tag denken, als ich das erste Mal einen Fuß in die Mühle gesetzt hatte. Am liebsten wäre ich schreiend davongerannt, weil diese Leute mir so seltsam erschienen waren und ich nichts mit ihnen zu tun haben wollte. Die schräge Val, die unausstehliche Neva und der furchtbar unfreundliche Krämer.

Die Einzige, die mir halbwegs normal vorkam, war Berta gewesen. Ich hatte sie immer für die gute Seele der Mühle gehalten, bis sie im Versteck der Feen ihr wahres Gesicht gezeigt hatte.

Grübelnd umschloss ich den Griff der mittlerweile leeren Tasse fester, damit sie mir nicht aus den Händen fallen konnte.

Berta hatte mich verhöhnt, mich ausgelacht, und das hatte mich so wütend gemacht. Wie gern hätte ich geglaubt, dass sie es nur getan hatte, damit ich meine Wut entfesselte. So, wie Scitus im Gewächshaus. Doch leider wusste Berta gar nichts von meiner Gabe. Außerdem hatte sie wie die meisten ihrer Schwestern die Magie der M-Gen Träger gestohlen. Ganz gleich, wie ich zu Flint, Greta oder Lavina stand, ich würde niemals gutheißen und hinnehmen, dass man ihnen so etwas Brutales und Grausames antat.

Mir fielen die Augen zu, sosehr ich auch dagegen ankämpfte. Ich sah Gracia vor mir, meine willensstarke, aufrechte Großmutter, die mich so lange Zeit vor ihren Schwestern geschützt hatte. Wie ich jetzt wusste, hatte sie mich immer beschützt, immer dafür gesorgt, dass mir nichts passierte. Aber als ich ein Kind war, hatte es für mich so ausgesehen, als habe sie einfach kein Interesse an mir. Das hatte mir wehgetan. Als ich dann älter wurde, lehnte ich sie genauso ab, wie sie vermeintlich mich. Wir hatten so wenig Zeit miteinander verbracht, dass sie mir ganz fremd geblieben war.

Ich musste lächeln, als mir durch den Kopf schoss, dass Goldhaars Angebot auch bedeutete, dass ich mit meiner Großmutter die Ewigkeit verbringen konnte. Sie wäre dann keine alte Frau gewesen, sondern jung und unsterblich. Genau wie ihre Schwestern, die dann auch meine Schwestern gewesen wären.

Flora Anthea Allenstein, Einzelkind mit zwölf Schwestern. Dreizehn, wenn man Vicky dazurechnete.

Die Tasse krachte zu Boden. Timus sah mich überrascht an, doch ich hatte keine Zeit, es ihm zu erklären. Ich sprang einfach auf und rannte ins Bad.

»Scitus!«

Er zeigte sich, ohne auch nur ein winziges Funkeln von sich zu geben. »Ihr wünscht?«

»Was hast du vorhin gesagt? Wiederhol das noch mal.«

»Ab welcher Stelle soll ich unsere Unterhaltung wiedergeben? Ab dort, wo Ihr mir drohtet? Oder ab da, wo Ihr mich einen Verräter geschimpft habt?«

»Die Stelle, an der du mir sagst, wie viele Feen zugestimmt haben.«

»Dreizehn.«

»Ich nicht mitgezählt?«

»Natürlich nicht. Ihr habt ja auch noch nicht zugestimmt.«

Bedeutete das, Goldhaar hatte Vicky das gleiche Angebot gemacht, und Vicky hatte angenommen? Dann mussten sie ja nur noch dafür sorgen, dass es nicht zu viele Feen auf einmal gab.

»Scitus, du hast mir vorhin großartige Neuigkeiten angekündigt. Bisher hört es sich für mich aber eher so an, als würde demnächst meine Großmutter gemeinsam mit meiner kleinen Schwester Jagd auf mich machen, damit ich nicht länger zwischen ihnen und der ewigen Jugend stehe.«

»Ihr hättet mich ausreden lassen sollen«, gab er unterkühlt zurück. »Ich verkündete lediglich, dass es eine Einigung gegeben hat.«

»Die wäre?«

»Ihr könnt aufatmen. Ab sofort steht Ihr unter Goldhaars persönlichem Schutz.«

»Warum?«

»Du liebe Zeit, Teuerste«, schnappte Scitus. »Dreizehn. Wie oft denn noch? Goldhaar braucht Euch.«

»Wir sind aber …« Vierzehn, wollte ich sagen, doch dann durchfuhr mich die Erkenntnis. Ich wiederholte Scitus’ Worte, mit denen er Gracia beschrieben hatte. »Für jene, die sie liebt, ist sie bereit, alles zu geben … Gracia will sich opfern, damit Vicky und ich von den Feen aufgenommen werden?«

»Ich würde Euch mein Lob aussprechen, wenn ich nicht noch zu sehr unter Euren Anschuldigungen leiden würde.«

»Anschuldigungen?«, blaffte ich. »Nur weil du mir gerade ein paar Informationen gegeben hast, werde ich dir noch lange nicht verzeihen, was du getan hast.«

»Was habe ich denn getan?«, fragte er frech. »Habt Ihr Beweise?«

»Wie sollte ich einem durch Spiegel schleichenden Betrüger denn etwas beweisen können?« Ich hatte mich ereifert, zwang mich aber sogleich wieder, ruhiger zu werden, damit Timus mich nicht hören konnte. »Du hast Neva verraten, gib es zu.«

»Habe ich nicht!«

»Und woher sollte Goldhaar es dann gewusst haben?«

»Goldhaar?«, wiederholte Scitus irritiert, doch mich konnte er mit seinem Getue nicht auf die falsche Fährte locken. Er wollte seiner Herrin wahrscheinlich den Rücken freihalten.

»Wer denn sonst? Sie steckt doch genauso dahinter, wie hinter den verfluchten Gegenständen.«

»Unsinn.«

»Du hast selbst gesagt«, klagte ich ihn wütend an, »dass es ein Feenzauber ist. Wer sonst kommt da infrage?«

»Na, alle anderen Feen, würde ich behaupten.«

»Aha! Also …« Mein Mund stand noch offen, als mir aufging, was Scitus mir da gerade verraten hatte. »Warte! Wenn es Goldhaar nicht war, dann kann es nur …« Vicky gewesen sein, denn die anderen Feen saßen allesamt im Gefängnis. Obwohl ich mitten im Satz zu sprechen aufgehört hatte, lobte mich Scitus herablassend.

»Bravo.«

Aber warum sollte Vicky so etwas tun? Warum setzte sie das Leben meiner Freunde aufs Spiel? Weil sie verhindern wollte, dass ich mich eingehend mit der Frage beschäftigen konnte, welche Vorteile Unsterblichkeit und ewige Jugend brachten? Damit sie mir zuvorkommen konnte? Nein, das ging nicht. Das konnte nicht sein. Nicht Vicky.

»Vicky würde das niemals tun«, flüsterte ich.

»Nein. Natürlich nicht«, sagte Scitus tonlos. »Sie nicht. Jemand anderes schon.«

Wieder war klar, dass es nicht die Feen sein konnten.

Als ich aus dem Bad zurückkam, war Timus mit dem Kopf auf Nevas Bett eingeschlafen. Ich prüfte rasch, ob noch genügend Inhalt in dem Infusionsbeutel war, und bemerkte dabei, dass Timus die Scherben der zerbrochenen Tasse weggefegt hatte. Ich strich ihm leicht über den Rücken. Dann kontrollierte ich noch das piepsende Gerät, wie Wassermann es mir gezeigt hatte, und da alles in bester Ordnung war, schlich ich auf Zehenspitzen aus dem Zimmer.

Ich konnte es nicht fassen. Dieser elende Jonathan hatte es irgendwie geschafft, sich Vickys Vertrauen zu erschleichen.

Mit ringenden Händen lief ich im Wohnzimmer auf und ab. Jetzt ergab ihr Verhalten auch einen Sinn. Ich hatte vieles einfach auf den Umstand geschoben, dass sie nicht ans Ufer der Zeit durfte und sich deshalb oft unausstehlich verhielt, weil sie ohne diesen Zufluchtsort unausgeglichen war. Nun erkannte ich, dass etwas vollkommen anderes dahintergesteckt hatte.

Ich hatte so vieles vor Vicky verschwiegen, obwohl sie oft recht gezielt danach gefragt hatte. Wenn ich mir jetzt vorstellte, dass sie die Wahrheit schon längst von Jonathan erfahren hatte, dann musste ich ihr wie eine gemeine Lügnerin vorgekommen sein. Es war eine ganz logische Konsequenz, dass sie mir mit jeder aufgetischten Lüge mehr misstraute, denn sie musste davon ausgehen, dass ich etwas hinter ihrem Rücken plante. Und ich hatte mich so unfassbar dumm verhalten.

Wie am Bahnhof, als Vicky und ich uns viel früher als verabredet begegnet waren. Sie hatte mich gefragt, warum ich schon da war, und ich hatte sie angeschwindelt. Aus Bequemlichkeit, weil es mir zu umständlich gewesen war, die ganze Geschichte zu erzählen. Dabei hatte Vicky bestimmt genau gewusst, was ich dort verloren hatte.

Fassungslos rief ich mir die Szene in dem Bahnhofscafé in Erinnerung. Dachte an das Glas, das Vicky zu dem anderen, halb leeren auf den Nachbartisch gestellt hatte. Ich würde einen Besen fressen, wenn das nicht Jonathans Glas gewesen war.

Wenn Jonathan mir gefolgt war, und das hatte er garantiert getan, dann wusste er auch von Neva. Und somit hatten wir einen Premium-Verdächtigen.

Für mich stand jetzt fest, dass wir das alles Jonathan zu verdanken hatten. Die Frage, warum er das tat, hatte er mir, wenn ich mich nicht sehr irrte, auch schon beantwortet.

Ich lag auf dem Sofa, das Hektor als Bett diente, und versuchte, meinen Kopf in eine angenehme Position zu bringen. Die Arme hatte ich flach neben mir liegen, die Beine gerade ausgestreckt.

Ich konzentrierte mich auf meinen Atem, zählte die langen und gleichmäßigen Züge, und wurde ganz ruhig. Draußen fuhren schon vereinzelte Autos, langsam erwachte die Stadt. Doch ich achtete nicht auf diese Geräusche, sondern lauschte nur auf die Wellen, auf das beständige Plätschern. Je näher ich ihm kam, desto heftiger zog dieser Ort an mir. Er bot mir einen Platz an, der nur für mich bestimmt war, empfing mich mit offenen Armen und einer Herzlichkeit, die mich vor Glück leise lachen ließ. Ich fühlte mich frei und breitete überschwänglich die Arme aus, um mich einmal um mich selbst zu drehen. Dabei war mir, als stiege ich hoch in die Luft, doch als ich nach unten sah, erkannte ich, dass meine Füße von Wellen umspült worden. Es war ein Zustand, der sich wie etwas zwischen Schweben und Schwimmen anfühlte, unendlich frei und leicht.

Ich ließ mich fallen, landete in dem weichen Sand, wurde sogleich von dem kristallklaren Wasser umspült, und fühlte mich sicher und geborgen. Plötzlich verspürte ich den Wunsch, mit den Fingern meinen Namen in den Sand zu schreiben. Als sei die Idee selbst ein kleines Kind, lachte und kicherte sie in meinem Kopf, hüpfte umher, und ich ließ sie glücklich gewähren. Dann drehte ich mich um und sah, dass genau dort, wo ich es hatte hinschreiben wollen, bereits Flora Anthea geschrieben stand. Es sah so schön aus, dass ich jeden einzelnen Buchstaben noch einmal nachzog.

»Findest du das nicht reichlich albern?«

Ich sah auf. Neben mir stand Vicky, die gleichzeitig ein kleines Mädchen und eine junge Frau war. Sie sah mich so streng an, dass ich augenblicklich aufhörte, mit den Füßen zu plantschen, und mich mit angezogenen Knien aufsetzte.

»Warum bist du hier?«, frage sie. Es klang traurig.

»Ich habe jemanden gesucht.«

Vicky betrachtete mich. Ihr Gesicht war jung und alt zugleich. Dann setzte sie sich neben mich. »Wann immer ich hier bin, vermisse ich dich.«

»Genau!« Jetzt fiel es mir wieder ein. »Ich habe dich gesucht.«

Ich zwang mich, nachzudenken. Warum hatte ich meine Schwester hier sehen wollen? Warum fiel es mir bloß so schwer, einen klaren Gedanken zu fassen?

Vicky nickte amüsiert. »Du wirst lernen, deine Gedanken aus diesem endlosen Strom herauszuhalten, wenn du öfter herkommst.«

»Es ist so schwer … Ich wollte dich unbedingt sehen, weil ich dir etwas sagen muss.«

In Vickys Augen blitzte etwas Lauerndes auf. »Was denn?«

»Ich habe vieles vor dir verschwiegen, Vicky.«

»Ich weiß.«

»Ja. Aber du irrst dich, wenn du glaubst, ich hätte es aus einem bestimmten Grund getan.«

Vicky hob das Kinn. Es war eine trotzige Geste, und sie erinnerte mich an Dad. »Und warum hast du mich angelogen?«

»Ich weiß es selber nicht. Vielleicht, weil es einfach zu viel war. Weil ich manches davon selbst nicht verstanden hatte. Und wieder anderes mich so unzufrieden gemacht hat, dass ich nicht mal darüber sprechen wollte.«

Mir wurde kalt, und ich zog unbehaglich die Knie noch enger an meinen Oberkörper. Ein Wind kam auf. Eisig schnitt er mir in die Wangen, und ich musste lauter sprechen, damit meine Worte nicht von dem aufziehende Sturm weggerissen wurden.

»Aber ich wollte dich nie anlügen, kleine Schwester.«

Vicky erhob sich und sah zu einem schwarzen, in sich gedrehten Wolkenturm auf, der menschliche Umrisse annahm.

»Ich gehe jetzt besser.«

»Warum?«

»Er kommt.«

»Wer?«

»Frag nicht. Noch schafft er es nicht, hier in seiner menschlichen Gestalt einzudringen, doch er wird immer stärker.«

»Kann er uns sehen?«

»Nein … Ich glaube nicht.«

»Dann geh noch nicht! Warte!« Ich wollte aufstehen, doch etwas hielt mich zurück. Es war, als würde ich in dem Sand versinken. Als ich genauer hinsah, bemerkte ich, dass er schwarz war. Dann nahm ich den stechenden Geruch wahr.

Ich bäumte mich mit aufgerissenen Augen auf und schnappte nach Luft. Starke Arme schlossen sich um mich, hielten mich fest, zogen mich aus dem Zustand heraus, der mich verschlingen wollte.

»Flo!«

Als mir klar wurde, dass es Hektor war, der mich da umarmte, vergrub ich mein Gesicht tief an seiner Brust und weinte vor Erschöpfung. Er wiegte mich sanft, legte seine Wange auf mein Haar und wartete geduldig, bis ich mich so weit beruhigt hatte, dass ich seine Fragen beantworten konnte.

»Was war denn los?«, fragte er schließlich. »Geht es dir gut, Flo?«

Ich berichtete ihm vom Ufer der Zeit, und er hörte mir aufmerksam zu. Dann ließ er sich noch einmal genau beschreiben, was ich dort erlebt hatte.

»Und diese Wolken in menschlicher Gestalt, kannst du sagen, wer es war? Goldhaar?«

»Nein.« Da war ich ziemlich sicher. »Jonathan.«

Hektor sah mich mit offenem Mund an. »Wie kann Jonathan das Ufer der Zeit betreten?«

Darauf hatte ich keine Antwort, doch ich hatte ihn bereits zwei Mal dort getroffen. Beziehungsweise seine Anwesenheit gespürt. Er musste also einen Weg gefunden haben.

Ich zuckte mit den Schultern und sah Hektor an. Er saß auf dem Rand des Sofas, stützte sich mit einer Hand auf der Rückenlehne ab und hatte sich leicht über mich gebeugt.

Ich war drauf und dran, ihn erneut zu umarmen, ihn an mich zu ziehen, doch dann wurde ich vollends in die Realität zurückkatapultiert. Wir waren nicht mehr zusammen.

Mit einem Kloß im Hals rückte ich ein Stück von ihm ab. Er richtete sich auf.

»Sicher, dass wieder alles in Ordnung ist?«, fragte er.

Ich nickte.

Aus der Küche klang das Klappern von Tassen. Im ersten Moment nahm ich unwillkürlich an, es sei Neva, doch dann kehrte auch diese bittere Erinnerung zurück.

»Neva!« Ich setzte mich auf. »Hast du …«

Hektor nickte. »Ich hab sogar schon mit Wassermann telefoniert. Er kommt in einer Stunde.« Hektor sah auf seine Uhr und erschrak. »Nein, in einer halben Stunde.«

Die Tür ging auf. Timus streckte seinen Kopf herein.

»Tee?«

»Ja, bitte«, antwortete Hektor.

Als Timus wieder verschwunden war, flüsterte Hektor mir zu: »Hätte nicht gedacht, dass der schöne Herr Fürchtenicht morgens so normalsterblich aussieht.«

»Es war eine lange Nacht«, gab ich zu bedenken und nahm verstohlen Hektor unter die Lupe. Auch er hatte kaum geschlafen und den Großteil der Nacht auf der Autobahn verbracht. Und dennoch wirkte er auf mich so anziehend, dass es mich unheimlich viel Kraft kostete, ihn nicht einfach zu küssen.