VIER
Die erste Campmann-Adresse hatte nichts gebracht. Eine eingeheiratete Polin, burschikos, nett. Sie hatte Schorsch hereingebeten. Kaffee? Wasser? Auch rauchen, gerne. Sie kannte nur die Verwandtschaft ihres Mannes und die drei, vier Familien, bei denen sie stundenweise putzte, gute Leute, wie Freunde. Schorsch hatte länger mit ihr geplaudert. So war es früher Abend geworden, als er bei Werner Campmann klingelte. Ein klassisches Einfamilienhaus mit Vor­garten und Jägerzaun, Heckenrosen und Wasser­becken, auf dem zwei Plastikenten schwammen. Neben der Haustür eine blau gestrichene Bank, grie­chisches Blau.
Schon bei den ersten Worten der Frau, die ihm öffnete, wusste Schorsch, dass sie log. Sie war zusammengezuckt, war einen Moment lang irritiert, und haspelte dann herunter, sie kenne keinen Michael Küster oder Köster, wer das denn behaupte, unmöglich, dieses Gerede, wie kommen die Leute dazu, ich laufe doch auch nicht rum … nein, nein, tut mir leid, da kann ich Ihnen nicht helfen. Aus dem Hintergrund fragte eine Männerstimme, wer denn da geklingelt habe, Schorsch erhaschte einen kurzen Blick in Flur und Wohnzimmer. An der Garderobe hing eine Uniformjacke der Polizei NRW, Landeswappen am ­Ärmel.
Die Frau schlug ihm die Tür vor der Nase zu.
Campmann. M. Campmann?
Langsam ging Schorsch zurück zu seinem Wagen. Er sah sich nicht um. Er wusste, dass die Frau am Fenster stand, verdeckt von der Gardine.
Hinter dem Steuer seines Saab schaute er stur geradeaus, startete und ließ den Wagen im zweiten Gang an den eng nebeneinanderstehenden Vororthäusern vorbeirollen, eins wie das andere, knapp einen Kilometer bis zur Gabelung City/Autobahn.
Schorsch nahm die Straße Richtung City. Zum zweiten Mal an diesem Tag. Hier war er noch nicht fertig. Nicht nach solch einem Abgang.
Die Hotelpension Tiedje befand sich auf der Etage über einem Coffeeshop, vor dem Tische und Stühle standen. Doch jetzt war es schon zu kühl und das Angebot auch nicht gerade der Hit. Tiedje aber bot in seiner Frühstücksstube seinem einzigen Gast Alkohol aus der Kühltruhe an, Flaschenbier und Strohmann-Wodka, vierzig Prozent. Schorsch mochte den Mann auf Anhieb. Ein bodenständiger Typ, geradeheraus.
Er hängte sein Cordjackett über die Stuhllehne, setzte sich breitbeinig hin und legte Zigaretten und Feuerzeug vor sich auf den Tisch.
Tiedje brachte die Getränke. Die Bierflaschen hatten einen Bügelverschluss, die Fläschchen 0,05 Liter Wodka waren eiskalt.
»Hab ich unter den Eiswürfelbeuteln«, sagte Tiedje. »Für später, wenn Se sich selbst bedienen.«
»Schorsch«, sagte Schorsch.
»Hans«, sagte Tiedje. Sie ließen die Verschlüsse pfloppen und stießen an. Hans nahm einen ersten langen Zug. Tat ihm sichtlich gut, schön herbes Pils. »Ist öde geworden hier«, setzte er dann an. »In der ganzen Stadt. Die großen Läden haben dichtgemacht, die kleinen waren schon vorher platt. Drüben, die Passage, soll an die Chinesen verkloppt werden, an die Chinesen, da wirste doch nicht mehr. Ich seh dat schon vor mir, überall die kleinen gelben Männchen um dich rum, wie se auf ihre Elektrik rumhacken.«
»Nicht schön.«
»Du sachst et. – Ich hab jetzt eine Nacht notiert. Bleibt et dabei?«
»Ich bin mir noch nicht sicher. Hängt davon ab, was sich morgen noch ergibt.«
»Wat soll et denn sein? – Muss ich aber auch nichts von wissen.«
»Nee, ist schon gut.« Schorsch zündete sich eine Zigarette an, dachte kurz darüber nach, wie er es anfangen sollte. »Ich war bei einer Frau Campmann, draußen in der Nordsiedlung, um sie nach meinem Bruder zu fragen. Er ist vor wenigen Tagen überfallen und getötet worden.«
Hans seufzte. Sein schwerer Körper schien in sich zusammenzusacken.
»Übel«, sagte er. »Mein Beileid.« Sie nickten sich zu und hoben die Wodkafläschchen. Der Schnaps war von durchschnittlicher Qualität, putzte aber ordentlich den Rachen. »Und die Frau …?«
»Fehlanzeige. Sagt sie. Will nie was von ihm gehört haben.«
»Campmann, sachst du? – Wenn das die von der Supermarktkasse ist, ist sie bekannt.«
»Inwiefern?«
Hans bediente sich bei Schorschs Zigaretten, gab sich Feuer. Er sog an der Kippe, musste husten und rauchte weiter.
»Ging hier kurz durch die Presse, vor drei, vier Monaten. Ihre Tochter war über Nacht verschwunden, war fünfzehn oder so, auf jeden Fall noch Schule. Erst glaubte man an irgendein Verbrechen, aber dann war nix mehr zu hören. War wahrscheinlich nur von zu Hause abgehauen, wegen Stress und so Sachen, kennt man ja …«
Herbst 1982 »… es war echt gut, kein Ziel zu haben, sich treiben zu lassen. Bin jetzt seit einigen Tagen in New York, und das ist der totale Wahnsinn. Eine irre Stadt. Jede Menge verrückter Typen, die einfach was machen. Bilder, Gedichte, Musik. Das können wir doch auch, richtig loslegen, wir haben ja genug im ­Rücken …«
»Jaja – da musst du mich nicht dran erinnern«, murmelte er.
Hanna horchte auf.
Sie lag neben ihm auf der Matratze ihres WG-Zimmers und zog den ersten Joint des Tages durch. Es war Herbst, ein sonniger Herbstvormittag. Vor dem Fenster des Altbaus die goldgelben Blätter einer Platane.
»Gedankenblitze, zack-wow!!! Große Erkenntnis?«
»Mein Bruder ist in New York.«
»Super.«
Er faltete den blauen Luftpostbrief wieder zusammen und robbte sich näher an sie heran.
»Geht das klar, heute Abend bei deinem Alten?«
»Logo«, sagte Hanna. »Ich brauch Kohle.«
Er betrachtete sie, lächelte ein kleines Lächeln. Sie war ein aufgewecktes Girl, eine typisch norddeutsche Blondine, sauhübsch.
»Glaubst du, er hat ’n offenes Ohr für geile Projekte?«
»Wie mich in alle Ewigkeit zu vögeln? Stark und fest bis in den Tod?«
»Ewig lang bestenfalls«, sagte er und lachte, strich sich das Haar aus der Stirn. »Nein, nein – ich will mit ihm über die Kneipe am Hamburger Berg reden.«
»Eine Kneipe? Die gehört Pa? Was willst du denn damit?«
»Pachten. Sie gehört seiner Brauerei. Und was ich damit will – eine Location für Livemusik, Baby, nur am Wochenende. Blues, Rock, kleine Formationen. Und wechselnde Fotoausstellungen. Denk ich gerade dran, weil mein Bruder schreibt. Big-City-Atmosphären und Rotlichtviertel aus aller Welt. New York, Rio, Tokio, Singapur und, und, und.«
»Echt jetzt?«
»Absolut. Ist mein großer Traum. Seit ich hier auf­geschlagen und mit dir um die Häuser gezogen bin. – Hey, das wär’s doch! ’n geiler Musikschuppen auf der Meile …«
Tiedje servierte eine große Kanne Kaffee und frische Brötchen. Er rieb und knetete seinen Nacken, schaute theatralisch zur Decke hoch.
»Der letzte Schluck«, sagte er.
»Der letzte Schluck«, bestätigte Schorsch.
»War aber ’n schöner Abend.«
»Kann sein, dass ich noch bis morgen bleibe.«
»Geht klar. Ist nicht gerade Hochsaison im Pott.«
Er ließ Schorsch allein.
Schorsch war schnell durch mit dem Frühstück. Kurz nach neun verließ er das Hotel und stand knapp fünfzehn Minuten später vor dem Supermarkt.
Es war einer der typischen Flachbauten mit einem Parkplatz so groß wie ein Fußballfeld. Direkt gegenüber dem Eingang eine Imbissbude, aktuelles Sonderangebot: Kochwurst mit Rübenmus.
Schorsch benötigte keinen Einkaufswagen, keinen Einkaufskorb.
Er checkte die drei Kassen ab.
An keiner saß die Campmann.
Schorsch entdeckte sie schließlich weit hinten an der Fleischtheke, doch bevor er sie erreicht hatte, war sie verschwunden. Durch die Schwingtür. Zugang nur für Personal. Schorsch fragte erst gar nicht nach. Er kaufte eine Tüte Lakritzbonbons und suchte draußen nach dem Lieferanteneingang. Er lehnte sich zwischen zwei Abfallcontainern an die Wand und wartete.
Eine halbe Stunde verging. Eine Dreiviertelstunde.
Schorsch rauchte eine zweite Zigarette. Er dachte an Michael. Kurz nach dem Abi abgehauen, nachdem auch der letzte häusliche Halt weggefallen war, die treue Mama Tilde. An ihrem Grab hatten sie geheult. Der Tod ihres Vaters hatte sie weitaus weniger berührt. Und seine Zukünftige … Schorsch schnaubte bitter, verspürte wieder diesen kalten Stich, er nahm ihm für einen Moment den Atem.
Vorbei, es ist vorbei. Er schnippte die Kippe weg.
Nach gut einer Stunde erschienen zwei junge Frauen, machten Zigarettenpause. Hatten sich deutlich vernehmbar viel zu erzählen. Checkten dabei ihre Handys.
Lachten.
Dann kam die Campmann dazu, und die Mädels wurden still.
Verdrückten sich. Die Campmann hatte dafür nur ein Achselzucken.
Schorsch trat aus der Deckung. Er hob warnend die Hand.
»Hauen Sie nicht ab! Wir reden jetzt Tacheles, verstanden? Keine Spielchen.«
»Ich … ich rufe …«
»Sie beantworten meine Fragen. Sonst nichts.« Er war jetzt bei ihr, dicht vor ihr.
»Michael Köster. Mein Bruder. Er war bei Ihnen …«
»Nein, nein, ich kann … ich kann Ihnen nichts sagen.«
»Er ist tot«, sagte Schorsch.
Sie riss entsetzt die Augen auf, schlug sich die Hand vor den Mund. Fing sich wieder.
»Tot …?«
»Totgeschlagen und ausgeraubt. Anfang der Woche, nachts. Auf einem Autobahnrastplatz nicht weit von hier. Also – was hatten Sie miteinander zu tun?«
Sie atmete schwer. Eine schlanke, gut aussehende Frau Ende dreißig, schätzte Schorsch. Starke erotische Ausstrahlung. Keine Ringe an den Fingern, nur eine Billiguhr am Handgelenk. Sie schien reden zu wollen, brachte aber nichts heraus.
Schorsch fasste sie an den Schultern. Mit leichtem Druck.
Sie presste die Lippen aufeinander, kämpfte mit sich.
Schorsch sagte nichts. Er ließ ihr Zeit.
»Er … er wollte … er wollte sich noch einmal melden. Er hat gesagt, dass er einen Hinweis hat. Suse, Susanna … meine Tochter. Sie ist über Nacht verschwunden … und Ihr Bruder hat … er hat mir versprochen, sie zurückzubringen.«
»Das ist … Herrgott noch mal, das ist doch absurd! Wie kommt er dazu? Was hat er Ihnen da nur vorgemacht …?!«
Von Recklinghausen nach Haltern am See waren es knapp zehn Autominuten. Schorsch hielt sich an die Geschwindigkeitsbegrenzung. Für die Landschaft, schön flaches Land, hatte er keinen Blick. Er hatte eine CD eingeschoben, hörte Johnny Cash, »Solitary Man« … I’ll be what I am, a Solitary Man … erreichte das Lakeside Inn, fuhr weiter und entdeckte nach zwei vergeblichen Versuchen dann doch den richtigen Waldweg, auf dem er langsam auf eine Hütte zusteuerte, neben der ein Wohnwagen abgestellt war, ein Uraltmodell in Tarnfarbe.
Eine hochgewachsene Frau in Jeans, Sweatshirt und gefütterter Fliegerweste erwartete ihn. Ihr halblanges schwarzes Haar war glatt zurückgekämmt, sie trug eine Ohrringspirale und hatte Tattoos auf den Hand­rücken, vermutlich waren es nicht die einzigen.
»Martina hat mich schon informiert«, begrüßte sie Schorsch. »Ich habe noch nicht gefrühstückt und hoffe, du leistest mir Gesellschaft. Ingrid, übrigens. Förmlichkeiten sollten wir uns schenken.«
»Ist mir nur recht.«
Sie stieg vor ihm in den Wagen.
Er war einfach und praktisch eingerichtet. Ein breite Matratze mit einer bunt bedruckten Tagesdecke, Hängeschränke und ein Buchregal, Buchtitel, die Schorsch nicht allzu viel sagten.
Ein Klapptisch.
»Dein Bruder war ein feiner Kerl«, sagte sie, während sie Kaffee einschenkte und aus einer Pfanne Rührei auf die Teller verteilte. »Mein Beileid, mir geht das wirklich sehr, sehr nah. Ich kann nicht sagen, ob er zufällig Opfer geworden ist oder nicht. Aber dass er sich bei seiner Arbeit auf gefährlichem Terrain bewegte, war ihm klar.«
»Was war das für ’ne Arbeit?«
»Er hat’s dir nie gesagt. Er wusste, dass du absolut nichts davon halten würdest. – Wir haben uns vor zig Jahren auf einem USA-Trip kennengelernt und sind in Kontakt geblieben. Er hat längere Zeit bei den Navajos in ihrem Reservat gelebt.«
»Jaja – ja. Das weiß ich. Er hat verdammt viel Geld dagelassen.«
Ingrid machte eine flüchtige Geste. Sie trank einen Schluck Kaffee.
»Mike war was Besonderes. Er hatte eine spezielle Gabe. Er konnte Menschen den Weg zu sich selbst öffnen, einen positiven Weg aufzeigen. Er hat etliche aus den Klauen irgendwelcher Sekten befreit, das brauchte mitunter mehrere Wochen. Er hat sich mit ihnen drüben im Haus einquartiert, gleich dahinter gibt’s auch noch ein Saunazelt. Mike arbeitet … er arbeitete mit Praktiken, die er bei den Navajos gelernt hatte. Das Gift ausschwitzen, sich selbst neu entdecken.«
Schorsch schüttelte den Kopf.
»Ich kann’s nicht glauben«, sagte er. »Das klingt für mich wie ’ne Story über ’nen völlig Fremden.«
»Das wart ihr doch auch«, sagte Ingrid. »Euch völlig fremd. So jedenfalls hat Mike es empfunden, wenn er über dich gesprochen hat …«
Juli 1978 Mike kam ins Zimmer, schnippte eine Gauloise aus der Packung, zündete sie an und setzte sich an den unterm Fenster platzierten Schreibtisch, der vollgestellt war mit Globus, Transistorradio, Lexika und gestapelten Schulbüchern, mit Comics und leeren Coladosen.
»Ich hab gerade gehört, dass der Alte mit seinem Logenbruder telefoniert hat, diesem Anwalt.« Er machte eine bedeutungsvolle Pause, inhalierte tief.
»Er hat mit ihm einen Termin für nach Österreich vereinbart, nach unseren Ferien. Er will Gabilein jetzt doch offiziell heiraten, und da wäre bei ihm testamentarisch eine Nachbesserung erforderlich.«
»Er hat schon ’n Testament gemacht?«
»Vermutlich, Bruderherz, keine Ahnung. Aber wie auch immer, ich fürchte, wir sind in den Arsch gekniffen.«
»Mist!«
»Du sagst es!«, bekräftigte Mike. »Er wird der blöden Kuh den größten Batzen vererben, hundertpro, und klar, uns steht auch was zu, aber das sind dann nur noch Groschen oder irgendwelcher Kleinkram, scheiß drauf!«
»Das ist ungerecht.«
Mike lachte.
»Der Alte hatte immer schon seine eigene Vorstellung von Gerechtigkeit.«
»Und da kann man nichts machen?«
Mike legte den Kopf in den Nacken, blies den Rauch aus.
»Kann man«, sagte er dann. »Muss man vielleicht sogar.« Er nahm noch einen Zug und blickte versonnen aus dem Fenster, sah zum Fluss und zu der Burg, nickte mehrere Male, bis er es schließlich rausließ.