Du sprintest los und rennst, ohne dich nochmals umzusehen, bis zum Ende des Grundstücks. Keuchend erreichst du den Fuß des Bahndamms, wo dich das feuchtkalte Gestrüpp aus Farnkraut, Brennnesseln und dichten Brombeersträuchern empfängt. Oben donnert gerade ein Zug entlang und übertönt jedes andere Geräusch. Du hältst inne und blickst jetzt doch zurück. Es hat nicht den Anschein, als würde dich jemand verfolgen. Der Zug rauscht vorüber, das Knattern und Rattern der Wagons entfernt sich, und Stille kehrt ein.
Du verschnaufst einen Augenblick, dann setzt du dich wieder in Bewegung und schiebst dich an dem weiß lackierten Zaun entlang, immer den Brombeerranken ausweichend, die piksend nach dir greifen. Fast wie bei einem Dornröschenschloss, denkst du, nur dass hier vermutlich keine Prinzessin darauf wartet, wach geküsst zu werden. Dir entgeht trotz des schwindenden Tageslichts nicht, dass einige der Ranken frisch abgeknickt sind, und dass an manchen Stellen das Gras und der Farn am Boden platt gedrückt sind. Offenbar ist hier vor Kurzem schon jemand entlanggegangen. Schließlich erreichst du die Stelle, wo im Zaun zwei Eisenstangen fehlen. Obwohl du noch nie hier gewesen bist, erkennst du sie wieder, denn du erinnerst dich, wie Pauline die Stelle in ihrem Tagebuch beschrieben hat.
Du schlüpfst durch die Lücke hindurch und stehst an der Rückseite der Lagerhalle. Mit wenigen Schritten bist du bei der Hintertür. Du hebst die Hand, zögerst, dann klopfst du an. Ihr hättet ja vielleicht einen Code vereinbaren können, aber das ist jetzt auch egal.
Die Tür öffnet sich, und da steht sie. Du erkennst Pauline sofort wieder. Sie dich auch.
»Hey«, sagt sie und lächelt dich an. »Du bist wirklich da. Komm rein.«
Du betrittst die Halle, die von innen sogar noch größer wirkt als von außen. Vor dir öffnet sich ein verwirrendes Gebirge aus Hochregalen von vielleicht zehn oder zwölf Stockwerken. In einigen Regalfächern sind Holzpaletten gestapelt, aber du siehst keinerlei Waren.
Das matte Licht, das die Regale erleuchtet, stammt aus einem der Gänge.
Pauline schließt die Tür. »Komm, ich stell dich den anderen vor.«
Du folgst ihr in den mittleren Gang, wo ziemlich einsam und verlassen ein Gabelstapler steht. Aber er ist gar nicht verlassen, denn auf einer der Gabeln sitzt ein Mädchen in Joggingklamotten. Auf dem Fahrersitz hat es sich ein Junge bequem gemacht, dessen Augen aufblitzen, als er dich sieht. Auf dem Boden steht eine Campinglaterne, die künstliches Licht verströmt. Eine LED-Lampe oder so. Unwillkürlich bist du froh, hier kein offenes Feuer zu sehen. Noch nicht, jedenfalls.
»Das sind Sadiq und Victoria«, sagt Pauline.
»Dachte ich mir«, antwortest du. »Freut mich, euch kennenzulernen.«
»Mich auch«, sagt Sadiq und klettert vom Fahrersitz des Gabelstaplers.
»Mich nicht«, knurrt Victoria. »Was für eine bescheuerte Situation! Wir haben Pauline gestern schon ganz schön die Hölle heißgemacht, weil sie so verrückt war, ihr Tagebuch einer wildfremden Person in die Tasche zu stecken. Oder dass sie so verrückt war, dieses Tagebuch überhaupt zu schreiben.« Sie wirft ihr einen kurzen Blick zu, dann mustert sie dich und legt den Kopf schräg. »Warum bist du hier? Warum hast du das Buch nicht zur Polizei gebracht und uns verraten?«
»Weil ich echt verstehen kann, was ihr tut«, antwortest du. »Also, ich meine: warum ihr das tut.«
»Aha«, macht sie. Klingt beinahe, als würde sie es missbilligen, dass du dich nicht an die Polizei gewandt hast. Was natürlich Unsinn ist. Sie kneift die Augen zusammen, als würde sie dich dadurch heranzoomen. »Können wir dir vertrauen?«
Sadiq kommt auf dich zu und meint zu ihr: »Das ist nicht mehr die Frage. Wir müssen einfach. Also hör auf, Pauline deswegen Vorwürfe zu machen.« Dann dreht er sich wieder zu dir und sagt eindringlich: »Verstehst du? Wir müssen dir einfach vertrauen, denn wir haben keine andere Wahl. Und ich denke, das ist in Ordnung.« Er lächelt dich an. »Pauline hat dir anscheinend vertraut, einfach so, aus dem Bauch raus, sonst hätte sie dir das Tagebuch nicht gegeben.«
Sein Statement könntest du unkommentiert lassen, aber trotzdem willst du Victoria antworten.
Du sagst: »Ich hab mir das ja nicht ausgesucht. Und ich hab tatsächlich darüber nachgedacht, ob ich nicht zur Polizei gehen sollte. Aber davon wird das Klima auch nicht besser.«
Sadiq muss lachen. Victoria und Pauline auch. »Ja, stimmt«, meint Pauline.
Du musst ebenfalls grinsen. Und dann setzt du hinzu: »Also – ja, du kannst mir vertrauen, Victoria.«
»Nenn mich Vic«, meint sie, steht auf und bückt sich nach einem Rucksack. »Dann können wir ja anfangen.«
Sie holt drei zusammengerollte T-Shirts hervor und eine große grüne Plastikflasche. Brennspiritus.
Dir fällt ein, dass du ja selbst auch etwas in deinem Rucksack hast. Du lässt ihn von der Schulter gleiten, öffnest ihn und ziehst das Tagebuch heraus.
»Hier.« Du hältst es Pauline hin.
»Ich kann dir gar nicht genug danken, dass du es für mich beschützt hast«, sagt sie, aber sie nimmt es nicht an sich. »Ich hab keine Tasche bei mir – kannst du es mir nachher geben? Wenn … das hier vorbei ist?«
»Klar«, sagst du und schiebst das Buch wieder in den Rucksack, den du auf dem Boden ablegst. »Aber was genau meinst du mit das hier eigentlich?«
»Unsere kleine Shirt-Verbrennung«, antwortet Sadiq an ihrer Stelle.
Auch er hat einen Rucksack dabei, den er jetzt aus der Fahrerkabine des Gabelstaplers holt. Er öffnet ihn und zieht etwas Weißes heraus, das wie ein Bettlaken aussieht. Als er das Tuch auseinanderfaltet, erkennst du die Erdkugel, die er daraufgemalt hat. Blaues Meer, grüne Kontinente, weiße Polkappen. Über der Kugel steht in fetten Lettern: TOO. Und unter der Kugel: HOT.
»Das ist ja super geworden«, lobt Pauline. »Wollen wir das als Hintergrund nehmen?« Sie schaut sich um. »Wir könnten das zwischen zwei Stützen von den Regalen spannen.«
»Oder zwei von uns halten das Tuch fest«, sagt Sadiq. »Ich passe beim Filmen auf, dass ihr nicht zu sehen seid.« Er schaut dich an. »Wir sind ja jetzt zu viert.«
»Okay.« Du nickst. »Klar, ich mach mit, wenn ich helfen kann.«
Du nimmst das eine Ende des Tuches in die Hand, Pauline das andere. Ihr dreht es richtig herum und haltet es gemeinsam hoch.
Vic ist währenddessen zur Tür gelaufen und hat von innen abgeschlossen. »Damit wir keinen ungebetenen Besuch bekommen«, sagt sie.
»Du meinst den Wachmann?«, fragst du. »Hat der nicht einen eigenen Schlüssel?«
»Woher weißt du von dem Wachmann?« Vic runzelt die Stirn und schaut von dir zu Pauline. »Was hast du alles in deinem Tagebuch aufgeschrieben?«
»Ist doch jetzt egal«, sagt Pauline und zieht das Tuch zwischen euch beiden straff. So postiert ihr euch im Gang zwischen den Hochregalen.
»Dann hast du ja auch gelesen, dass der Wachmann seine Einsatzstelle bei unserer Firmenzentrale hat«, sagt Vic, nun wieder an dich gewandt. »Auf der anderen Seite der Bahngleise. Es gibt für ihn keinen Grund, rüberzukommen.«
»Wer könnte denn sonst hier auftauchen?«, fragst du zweifelnd.
»Keine Ahnung«, sagt Vic, »das ist es ja gerade.« Dann bückt sie sich und drapiert die T-Shirts, die sie mitgebracht hat, vor dem Transparent, das ihr hochhaltet, Pauline und du. Sadiq geht mit seinem Handy in Position.
»Und jetzt?«, fragst du.
Vic hat schon ein Feuerzeug hervorgeholt. Ein Sturmfeuerzeug, das man aufklappen kann, erkennst du. So eines, das weiterbrennt, wenn man es einmal entzündet hat, ohne dass man es festhalten muss.
Vic öffnet die Spiritusflasche und spritzt reichlich von der Flüssigkeit über die Shirts. »Wenn die Kamera läuft«, erklärt sie, die Flasche noch immer in der Hand, »werfe ich das Feuerzeug einfach auf die Klamotten. Das wird cool.«
Dann hebt sie die Flasche an, drückt sie nochmals feste zusammen und spritzt einen hohen Bogen Spiritus auf euer Transparent.
»Hey, was soll das?« Pauline hat ihren Zipfel fallen gelassen und ist einen Satz nach hinten gesprungen.
Du hältst den anderen Zipfel in der Hand und stehst einen Augenblick lang ratlos da.
»Es hat doch viel mehr Wirkung, wenn das auch abbrennt«, sagt Vic. »Der Planet fängt Feuer, ihr versteht schon, TOO HOT und so.«
Du fragst zweifelnd: »Wir sollen das festhalten, während es brennt?«
»Na, bevor ihr euch die Finger ansengt, lasst ihr natürlich los«, entgegnet Vic. Sie spritzt noch mehr von dem Zeug auf das Tuch.
»Hör endlich auf«, schimpft Pauline.
Sadiq hebt beschwichtigend die Hände, will dazwischengehen und kriegt einen Spritzer Spiritus voll auf den Ärmel seiner Jacke.
»Sorry, Mann«, ruft Vic, »das wollte ich nicht.« Sie stellt die Flasche ab.
»Nee«, sagt Pauline, während Sadiq sein Handy wegsteckt und erfolglos versucht, mit einem Taschentuch die Flüssigkeit von seinem Jackenärmel zu rubbeln. »Das ist mir viel zu riskant. Stellt euch vor, das Feuer greift auf die Regale über ...«
»Die sind aus Metall«, brummt Vic.
»Aber diese Holzpaletten«, sagt Sadiq. Er steckt das Taschentuch ein und lässt seine Blicke über die Regale wandern, die in dem matten Licht dastehen wie ein nächtlicher Wald voller Geheimnisse.
Du hältst immer noch einen Zipfel des Tuchs in der Hand. Mit der anderen greifst du unwillkürlich in das Regalfach, neben dem du stehst. Auf Höhe deiner Schultern liegen drei Paletten übereinander, und deine Finger befühlen das spröde, splittrige Holz. Du fragst dich, ob diese Teile tatsächlich Feuer fangen könnten. Und ob das nicht vielleicht sogar Vics heimliches Ziel ist ...
Pauline scheint derselbe Gedanke durch den Kopf zu gehen, denn sie fixiert Vic und sagt in sehr strengem Tonfall: »Nur zur Sicherheit – wir waren uns doch einig, dass wir hier kein Feuer legen und nicht die Halle abfackeln, richtig?«
»Richtig«, bestätigt Sadiq an Vics Stelle.
Vic zuckt mit den Schultern. »Wir können uns immer noch umentscheiden.«
»Dann bin ich raus.« Pauline verschränkt die Arme.
»Ich auch«, sagt Sadiq.
Du würdest gern was dazu sagen, aber eigentlich bist du hier ja nur zu Gast, und es käme dir unangemessen vor, in die Diskussion einzugreifen. Währenddessen sind deine Finger unbewusst weitergewandert, bis sie an was Weiches, Feuchtes stoßen. Du drehst den Kopf zum Regal und erkennst im Schatten, dass ein Stück Stoff zwischen den Paletten steckt. Ein T-Shirt. Eines, das die CheepTex-Leute beim Aufräumen übersehen haben, als das Lagerhaus geschlossen wurde?
Wohl kaum.
Du ziehst die Hand zurück, reibst Daumen und Zeigefinger aneinander. Eine ölige Flüssigkeit klebt an deinen Fingerkuppen, du riechst den Spiritus. Vic muss das T-Shirt hier deponiert haben! Eine andere Erklärung fällt dir nicht ein.
Die drei haben nichts von deiner Entdeckung mitbekommen, denn sie sind aufeinander fixiert, stehen da im Dreieck wie bei einem alten Western, wo man sich fragt, wer als Erstes zieht und schießt.
Sagst du den anderen, was du gerade gefunden hast (16)?
Oder willst du erst mal abwarten, was Vic vorhat, ohne gleich ihren Plan zunichtezumachen – was immer ihr Plan auch sein mag (25)?