Als sie die Augen aufschlug, war sie in einem weißen, nackten Raum. Aus Schlitzen in der hohen Gewölbedecke fiel mattes Licht, und auf dem Boden lag eine Frau in einem braunen Hidschab. Einen Moment lang war ihr übel, und sie fühlte sich so verwirrt, dass sie glaubte, die Frau sei ihr eigenes Spiegelbild, doch als sie den Kopf hob, blieb die Frau regungslos. Aden wollte etwas sagen, bekam aber den Mund nicht auf. Die Zunge klebte irgendwie an der Rückseite ihrer Zähne fest.
Die Frau lag mit dem Gesicht zur Wand und hatte den rechten Arm wie einen Flügel unter sich gefaltet. Halb aufgerauchte Zigaretten, leere Cola-Dosen und Schaumstoffkissen lagen überall verstreut, wahllos und dreckig, als wäre sie zu lange auf einer Party geblieben. Hinter ihr standen ein Blecheimer und ein Besen.
Nach einiger Zeit bekam Aden den Mund auf. Sie befreite die Zunge, leckte sich über die Lippen und holte Luft, um etwas zu sagen. Einige Schritte hinter dem Eimer konnte sie eine schmiedeeiserne Tür erkennen, die weder Griff noch Klinke besaß. Und die obere Hälfte der Türöffnung war mit Bruchziegeln und Zement zugemauert worden.
—Hallo, sagte sie.
Ihre Stimme klang so kraftlos, als würde man sie durch eine Wand hören. Aden wiederholte ihren Gruß auf Arabisch, dann auf Paschto. Beim dritten Versuch zuckte die Frau zusammen.
—Bitte, kleine Mutter, wimmerte sie und versuchte aufzustehen, als ein heißer Schmerzblitz sie von den Handgelenken bis zum Schädel durchfuhr. Man hatte ihr die Arme hinter dem Rücken mit Isolierdraht gefesselt. Ihr Kopftuch war verschwunden, ihr Kamiz am Hals aufgerissen, und die Füße waren ebenfalls zusammengebunden. Sie spürte Schweißperlen am Haaransatz, und es roch nach kaltem Rauch und Schimmel.
—Bitte, kleine Mutter. Kleine Mutter, ich habe Durst.
Zögerlich regte sich die Frau, das Rascheln ihrer Kleider laut wie das Rauschen am Fluss. Aden schloss die Augen und biss die Zähne zusammen; sie spürte, dass der ganze Raum schwankte. Als sie wieder hinsah, lag die Frau genauso da wie zuvor.
Der Raum war noch da, als sie das nächste Mal den Kopf hob, nur die Decke kam ihr höher vor, und die Frau in dem braunen Hidschab war spurlos verschwunden. Schweiß rann ihr in die Augen; ein Kissen lag, wo vorher kein Kissen gewesen war, und die Zähne in ihrem Mund klapperten so heftig aufeinander, dass sie nichts anderes hören konnte. Anstelle der Frau lag der nun umgekippte Eimer. Falls es je eine Frau gegeben hatte. Wieder ließen sich die Lippen nicht öffnen, und jetzt begriff sie auch, dass man sie zugenäht hatte. Man hatte ihr den Mund zugenäht und silberne Drähte durch den Leib gezogen. Sie konnte spüren, wie die Drähte summten. Die kleine Tür stand offen, und dahinter sah sie Blumenbeete und funkelnde Springbrunnen. Der Anblick tat ihr weh. Für den Garten war sie zu groß, sie passte nicht durch die Tür. Zu groß und zu dreckig. Irgendwer stand hinter ihr. Ein fernes Rascheln, dann legte sich eine manikürte Hand über ihre Augen, auf ihre Stirn. Unwillkürlich entwich ihr ein wohliger Seufzer. Sie bat um Wasser, und sie bekam welches. Die Hand verschwand, und der endlose Raum wurde dunkel.
Irgendwann später packten Hände sie, drehten sie behutsam auf den Rücken und zogen ihre steifen Beine gerade. Man löste ihr die Fesseln und verband die Handgelenke mit in Salben getränkten Gazestreifen. Dann hörte sie eine schleppende, tiefe Stimme und sah hoch über sich die Frau. Womöglich sprach sie Paschto, vielleicht auch Arabisch, Urdu oder eine Ursprache eigener Erfindung. Sie wiederholte, was sie gesagt hatte, doch fehlte ihren Worten weiterhin jede Bedeutung. Mund und Unterkiefer waren so dick angeschwollen, dass die Lippen sich nicht öffnen wollten, wenn sie zu reden versuchte. Erneut lispelte sie, nickte heftig und füllte ein angeschlagenes grünes Glas mit Gerstentee.
Der Tee war mit Milch und Honig, und Aden begriff, während sie daran nippte, dass sie Fieber gehabt haben musste. Ganze Tage waren verloren. Sie trank aus und stellte das Glas auf den Boden; die Frau grunzte leise und schenkte ihr nach. Der Tee war heiß und unbeschreiblich köstlich. Sie dankte der Frau auf Paschto und Arabisch, was aber wiederum ohne Wirkung blieb.
Als sie zum zweiten Mal ausgetrunken hatte, wickelte sie die Gazestreifen ab und sah, dass die vom Draht zugefügten Schnittwunden verschorft waren. Das Tuch, in das man sie gehüllt hatte, war sauber und roch leicht nach Bleiche und Zedernholz, genau wie die Hemden ihres Vaters gerochen hatten, als sie noch klein gewesen war, ein Gedanke, bei dem sie zu schluchzen begann. Die Frau redete mit ihrer grässlichen, schleppenden Stimme auf sie ein, doch als Aden ihr antworten wollte, begann sich der Raum um sie zu drehen. Es war nicht schwer zu erraten, was die Frau sagte. Ihre rissigen Hände zitterten, als sie Aden aufsitzen half und ihr noch mehr Tee einschenkte.
—Ziar, hörte sie sich sagen. —Ziar Khan. Kennst du ihn?
Die Augen der Frau schienen sich zu weiten.
—Du kennst ihn, kleine Mutter. Ich sehe es. Du musst ihm etwas von mir ausrichten. Ihm sagen, dass ich hier bin.
Die Frau gab ein Stöhnen von sich und starrte zu Boden. Aden langte nach ihrem Handgelenk und hielt es fest umklammert. Sie aber entriss sich ihrem Griff, wippte vor und zurück und redete leise ihr Kauderwelsch vor sich hin. Schaum sammelte sich in den Mundwinkeln. Aden hielt sich die Ohren zu, legte sich wieder hin und stellte sich vor, Ziar käme zu ihr. Sie schloss die Augen und sah ihn vor sich. Er fuhr seinen Pick-up, das Gewehr auf den Knien.
Ein Tag verging und eine Nacht, die Tür aber wurde nicht geöffnet. Sie trank, was ihr gegeben wurde, schlief immer wieder kurz ein und ließ sich von der Frau zum Eimer führen. Die hohen weißen Wände kamen ihr bald vertraut vor, schienen eine ferne Erinnerung wecken zu wollen, aber es war, als gäbe es keine Grenze mehr zwischen ihrer Vergangenheit und dem, was sie träumte. In der letzten verlässlichen Erinnerung sah sie sich mit nackten Beinen im eisigen Fluss Kabul stehen. Seither schien rein gar nichts mehr einen Sinn zu ergeben.
Als man sie holen kam, war sie so weit wiederhergestellt, dass sie wusste, warum ihr der weiße Raum bekannt vorkam. Zwei Männer mit Scheitelkäppchen und cremefarbenen Jacken entriegelten die Tür und traten ein wie Dienstburschen oder Höflinge, um ihr goldbestickte Seidengewänder zu bringen. Mittlerweile wusste sie, in wessen Haus sie sich befand, wessen elegante Hände sie im Delirium berührt hatten und wovor die lispelnde Frau sich fürchtete. Die Männer zeigten ihr umstandslos die Kleider, legten sie in zwei ordentlichen Stapeln auf die saubersten Kissen und verließen wortlos den Raum. Die Frau blieb stumm, bis die Tür wieder geschlossen war, dann erhob sie sich und deutete wortlos auf das gefaltete Gewand. Ihr Lächeln war schrecklich anzusehen.
Nach kaum einer Stunde kehrten die Männer zurück. Eben noch hatten die beiden sie unverfroren angestarrt, jetzt aber wendeten sie den Blick ab und unterhielten sich nur noch im Flüsterton, als wäre sie eine Reliquie in irgendeinem Tempel. In zögerlichem Englisch wurde sie gebeten, mit ihnen nach draußen zu kommen, und die Männer warteten untertänig auf ihre Antwort, um sie dann aus dem Raum zu führen. Sie lenkten sie allein durch Gesten, nicht durch Berührung. Und Aden folgte ihnen durch die niedrige Eisentür, an deren Rahmen sich kurz ihr Kopftuch verfing, woraufhin die Männer Panik erfasste, da sie fürchteten, ihr Haar könnte entblößt werden. Sie flehten sie an, mehr Obacht zu geben.
Mit steifen Schritten und vom Tageslicht geblendet trat sie nach draußen, hielt das Kopftuch mit der Rechten fest und hoffte immer noch, den Garten zu sehen, den sie sich erträumt hatte. Stattdessen sah sie einen von einer Mauer aus Gasbetonsteinen umstellten, mit Kies ausgelegten Hof sowie ein mit Netzmuster verziertes Tor aus gestrichenem Stahl. Sie sah das schindelgedeckte Nebengebäude, in dem sie in einem anderen Leben mit den arabischen Dschihadisten in T-Shirts und Sneakers gewartet hatte. Die Steine, über die sie lief, waren so hellgrün und gefleckt wie Elsterneier, das Tor war in einem von der Sonne ausgebleichten Blau gestrichen. Bei ihrem ersten Aufenthalt waren ihr diese Details entgangen, weil es damals dunkel und weil sie noch ein Kind gewesen war, eine Närrin. Von diesem Kind war nichts geblieben, gar nichts, und sie fühlte sich jetzt weder verwirrt, noch hatte sie Angst. Sie war eine Frau und das Gegenteil von verängstigt. Erwartungsvoll ging sie vor ihren Dienstmännern her, die ihr im Gänsemarsch folgten.
Sie traf ihn an wie an jenem ersten Abend, allein in seinem Zimmer, die Beine gekreuzt, der hennagestreifte Bart berührte fast den Boden. Seine Augen waren halb geschlossen, und die schmalen Lippen bewegten sich leicht, als hielte er Zwiesprache mit den Engeln. Die gelben Augen öffneten sich, sobald man die Tür hinter ihr schloss.
—Jetzt weiß ich es, erklärte er. —Und jetzt bin ich zufrieden.
—Ihr wisst gar nichts.
—Ich habe gesagt, dass etwas Besonderes an dir ist. Etwas, das dich von anderen unterscheidet. Er lächelte. —Ich denke, das wirst du jetzt kaum mehr bestreiten. Es wäre nicht gerade sehr ladylike.
—Geht zum Teufel.
—Der Brauch ist mir natürlich bekannt. Diese Frau-als-Mann-Sache. Wir selbst pflegen diese Tradition, nur habe ich nicht gewusst, dass es derlei auch in deinem Land gibt. Er nickte vor sich hin. —Ich habe dich schlicht für einen Jungen gehalten, einen von auffälliger Schönheit und mit selten starkem Glauben. Du warst für uns alle wie ein Wunder, Aden Sawyer Grace. Ein Zeichen von Gottes Langmut und seiner Gunst. Für manche von uns bist du immer noch ein Wunder.
—Ist mir völlig egal, was ich für Euch bin.
—Du hast jedenfalls nie zuvor einen Hidschab getragen, so viel ist offensichtlich. Er fuhr sich mit der Zunge über die Zähne. —Und wie findest du dein Kleid?
—Ich will Ziar sehen.
Er nickte und musterte sie eine Weile.
—Naghma hat sich Mühe mit dir gegeben, das ist nicht zu übersehen. Aber auch sie kann keine Wunder vollbringen.
—Naghma?
Er zog die Brauen hoch. —Ich dachte, ihr wäret inzwischen, wie sagt man in deiner Sprache, first friends? Nein, verzeih meine mangelnden Englischkenntnisse. Fast friends, beste Freundinnen. So sagt man doch, nicht wahr?
—Wer ist sie?
—Naghma Benafsha Gul ist die älteste meiner Frauen.
—Wie viele habt Ihr?
—Eine angemessene Frage, Aden Grace. Angemessen und angebracht. Er wickelte sich die rote Bartspitze um den Daumenknöchel. —Zurzeit habe ich zwei.
In der Stille, die darauf folgte, konnte sie Kinder rufen hören, das Brummen der Klimaanlage und irgendwo in der Nähe den Klagegesang eines Muezzins. Diese Geräusche machten sich so abrupt bemerkbar, dass ihr war, als hätte seine Antwort sie aus dem Nichts heraufbeschworen, dabei wusste sie, dass diese Geräusche schon vor ihr da gewesen waren und dass es sie auch dann noch geben würde, wenn sie längst dahingegangen war. Diese Geräusche hatte es immer gegeben, und auch dieser Raum war schon immer hier gewesen. Das Podest, auf dem der Mann saß, war diesmal ein wenig höher, der Kelim luxuriöser und mit verschlungenen Bildern bestickt. Sie sah Springbrunnen und Lilien wie die aus ihrem Traum. Vor seinen Füßen lag eine silberne Antenne von einem Auto oder einem Transistorradio, was sie ein wenig verwirrend fand.
—Du warst krank, sagte der Mann. —Du bist sicher noch ziemlich schwach. Ich erlaube dir hiermit, dich hinzusetzen.
—Ich kann stehen.
—Wir werden uns lange in diesem Raum aufhalten, mein Kind. Tagelang vielleicht. Ich kann dir daher nur raten, deine Kraft möglichst zu sparen.
Sie sah ihn an, blinzelte und versuchte zu begreifen, dann wandte sie sich um und schaute hinter sich. Ihre Begleiter waren fort, die schwere Holztür hatten sie fest verschlossen. Es gab nur das Podest, die Ziegelwände und das fahle Neonlicht.
—Ihr haltet mich für eine Lügnerin, sagte sie. —Ihr glaubt, dass sei alles, was ich bin.
—Ich halte dich für eine Schwindlerin, Aden Grace, und sogar für eine ziemlich gute. Er zeigte auf sie mit seinem leberfleckigen Finger. —Jetzt schau dich an. Gekleidet, wie eine Braut gekleidet sein sollte, parfümiert und von Kopf bis Fuß in Seide gehüllt. Du bist schön, meine Liebe. Deine Jungenhaftigkeit hast du vollständig abgelegt. Dabei war sie so wunderbar überzeugend.
—Ich bin eine Hure, sagte sie. —Ich war schon mit anderen Männern zusammen.
—Das hatte ich vermutet, erwiderte der Mann gelassen. —Genau wie Ziar Khan.
Einen Moment lang geriet sie ins Schwanken. —Aber Ziar hat mich nicht genommen.
—Was meinst du, meine Liebe?
—Ziar hat mich nicht zu seiner Frau gemacht.
—Ziar ist ein stolzer Mann, Aden Grace. Ein Mann im besten Alter. Ich dagegen … Er schürzte die Lippen. —Nun, alt zu sein bringt manche Vorteile, wie du selbst vielleicht noch merken wirst. So kann man zum Beispiel von den Skrupeln der Jüngeren profitieren.
—Lieber würde ich sterben, sagte sie.
—Wie bitte?, sagte der Mann und hielt sich eine Hand ans Ohr.
—Lieber würde ich sterben.
—Unsinn. Gott fordert von keiner Seele mehr, als sie zu leisten vermag. Ihr wird zuteil, was sie erworben hat, und über sie kommt, was sie verdient hat. Er legte die Fingerspitzen aneinander. —Du wirst doch nicht ablehnen, was du verdient hast, oder?
Sie spürte, wie die Beine unter ihr nachgeben wollten. —Er liebt mich.
—Wer? Der Allbarmherzige? Der Mann seufzte. —Das mag sein. Und doch stehst du hier, alleingelassen, in diesem Raum.
—Ziar.
—Was sagst du, meine Liebe?
—Ziar wird das nicht zulassen.
—Mein geschätztes Kind!, sagte der Mann und schüttelte bedauernd den Kopf. —Was glaubst du denn, wer dich zu mir geführt hat?
Eine Weile, die ihr sehr lang vorkam, stand sie einfach nur da mit weichen Knien, den verschwommenen Blick auf den Kelim gerichtet. Der Mann beobachtete sie schweigend, die Zungenspitze zwischen den Zähnen. Es war durchaus möglich, dass dies alles war, was er wollte. Und Aden stellte sich vor, wie sie in seinem Haus alt wurde, in diesem Raum, in seiner eleganten Gegenwart, wie sie ihre Verfehlungen vergaß, ihr Englisch, ihre Kindheit und ihren Namen.
—Erhebe deinen Blick zu mir, Aden Grace. Du hast meine Erlaubnis.
Sie tat wie geheißen. Und sie sah in seinem Gesicht, was sie zu sehen erwartet hatte, trotzdem widerte es sie an. Er gab sich keine Mühe, sein Verlangen zu verbergen. Sie wollte ihren Blick abwenden, schaffte es aber nicht.
—Erinnerst du dich an das letzte Mal, als wir hier zusammengesessen haben? Damals, als du dich noch Suleyman Al-Na’ama genannt hast? Weißt du noch, worüber wir gesprochen haben?
Langsam schüttelte sie den Kopf.
—Ich habe dich gefragt, was dich zu unserem Glauben geführt hat. Und du hast mir eine ziemlich lange Antwort gegeben. Du sagtest, manche Dinge seien schön in dieser Welt, die unser Gott geschaffen hat. Er räusperte sich geziert. —Und du sagtest, andere Dinge seien verdorben.
—Ich habe nie gesagt, dass …
—Weißt du, auch wenn mein Haar weiß geworden ist, habe ich doch ein gutes Gedächtnis. Er machte eine weite, ausladende Geste, die den gesamten Raum einschloss. —Sag mir, Aden Grace Sawyer, ehe wir fortfahren. Könnten einige seiner Geschöpfe nicht beides sein?
Sie gab keine Antwort, dennoch rückte er mit dem Kopf auf und ab. Ihr Gesichtsausdruck und ihr Schweigen schienen ihm vollauf zu genügen. Dann lehnte er sich zurück, verlagerte das Gewicht auf die Hacken und fuhr mit der Hand über die Lilien, die Springbrunnen, die Sterne und Rosetten.
—Du selbst bist beides, sagte er schließlich. —Komm her zu mir.
Sie öffnete den Mund und wollte etwas sagen, doch kam kein Laut heraus. Dann schüttelte sie den Kopf und merkte, dass sie ihm gehorchte. Ihm, der alles verkörperte, was ihr geblieben war. Draußen gab es nichts, war nichts, davon war sie überzeugt. Es gab nur diesen Raum mit dem frisch gefliesten Boden, das Summen des Ventilators, den alten Mann auf dem Podest und ihren Körper, ihre Kleider. Die Schwäche war vorbei, ihre brokatbesetzten Pantoffeln glitten nach vorn, ihr Körper schien weder Gestalt noch Gewicht zu haben. Scheu näherte sie sich dem Mann. Die Seide hechelte, flüsterte. Sie hörte das Rascheln des kostbaren Tuchs und wusste, wie exquisit es war, eine sinnliche Verlockung, die noch ihre mädchenhaftesten Träume überstieg. Der Mann auf dem Podest wusste das ebenso, und er griff sich eine Handvoll blauer Seide und zog Aden zu sich. Ihre Pantoffeln stießen an den hölzernen Sockel des Podests. Er lächelte nicht länger. Sein Atem roch nach Tabak, saurer Milch und Nelken.
—Zeig’s mir.
Er machte eine Handbewegung, und sie senkte den Kopf, spürte, wie sie sich vornüberbeugte. Ihre letzte Furcht war verflogen. Er lockerte seinen Griff, und sie fasste nach unten, langte nach dem Seidensaum und hob ihn bis an ihr Kinn. Sie hörte ihn keuchen, hörte, wie es ihm den Atem verschlug. Ein Geräusch, das wie Musik von den hohen weißen Wänden widerhallte. Eine weitere Bewegung, und sie hob den Unterrock an; jetzt atmete er zischend durch die Zähne ein. Er ließ sie los, hakte einen Daumen in die Strümpfe, die sie trug, rollte sie bis auf die Knie herunter. Die Luft wurde dünn, Aden begann zu würgen. Seine Hand, die ihr in ihrem Delirium sanft über die Stirn gestrichen hatte, packte sie jetzt so fest, dass sie vor Schmerz aufschrie. Er befahl ihr, den Blick zu senken, und als sie den Kopf schüttelte, schnappte er sich die Antenne und zog sie ihr wie eine Gerte über die Stirn. Ein brennender Schmerz, aber nicht unwillkommen, und als sie eine Hand ans Gesicht legte, fuhr ihr die Gerte über Finger und Kinn.
—Schau mich an, niemandes Tochter. Schau mich an, kleiner Segen. Kleines Gotteskind. Kleine Frau.
Tränen standen ihr in den Augen, als sie ihm gehorchte. Der Schmerz war so stark, dass kein Platz für etwas anderes blieb. Alles reduziert auf eine Linie, einen Draht. Sie wusste nur, dass sie blutete und dass kein Blut zu sehen war.
—Kleine Frau, sagte der Mann. —Sag: Ja, mein Gatte.
—Ja, mein Gatte.
—Wiederhole es, meine Frau. Und wende den Blick nicht von mir.
—Ja, mein Gatte.
Er nickte. —Und nun bitte um Vergebung.
—Vergib mir, mein Gatte.
—Was soll ich dir vergeben?
—Ich weiß es nicht.
—Was soll ich dir vergeben?
—Ich weiß es nicht. Ich weiß gar nichts.
—Das stimmt, sagte der Mann. —Du hast noch viel zu lernen, Aden Grace. Er nahm ihre Hand und zog die Gerte über die nach oben gewandte Innenhand. —Aber mache dir keine Sorgen. Ich habe viel zu lehren.
—Ja, mein Gatte.
—Zieh das aus, sagte er, senkte die Gerte und zeigte auf ihre Hüfte.
Sie dankte ihm und schob die Strümpfe nach unten. Das Licht begann zu flackern. Sie streifte die Strümpfe ab und schleuderte sie beiseite. Wie ein Katzenschwanz zuckte die Antenne in seiner Hand, während er sie beobachtete. Sie fragte sich, ob es einen Unterschied gab zwischen dem Mann, der ihr jetzt zusah, und dem Mann in der sonnenhellen Höhle vor so langer Zeit, und sie sagte sich, es gibt keinen Unterschied. Von jetzt an nicht mehr. Sie sagte sich, dass der weiße gewölbte Raum eine Art Höhle war und sie die Märtyrerin einer Sache, von der sie noch nicht wusste, worum es sich handelte. Sie betete, dass sie es erfahren möge, ehe ihr Leben zu Ende ging.
—Hebe dein Kleid wieder an. Schneller diesmal. Höher.
Sie tat, was ihr befohlen wurde. Er legte die Gerte beiseite.
—Ich bitte dich, mir deinen Körper zu zeigen, ehe ich deinen unbedeckten Kopf sehe. Du findest das gewiss seltsam.
—Nein, mein Gatte.
—Natürlich tust du das. Nur fehlt es dir an Einsicht.
Sie sah ihm zu, wie er die Finger träge an die Lippen legte. Sein Blick verlor sich.
—Nichts ist so privat wie das Haar einer Frau. Allein aus diesem Grund trägst du einen Hidschab. Das Haar ist das Kostbarste an dir. Das größte Geheimnis. Sein Blick kehrte zu ihr zurück. —Das ist meine persönliche Überzeugung. Andere mögen anderer Ansicht sein.
Sie schaute ihn an und sagte nichts.
—Leg ihn ab, befahl er. —Entblöße dein Haupt.
Sie nahm die Seide ab. Sie tat es gern. Der Stoff war durchsichtig und wunderschön; er knisterte zwischen ihren Fingern. Mit beiden Händen bündelte sie die Seide und hielt sie ihm hin, damit er sie bewundern konnte. Ihr Haar war gescheitelt wie bei einem Schuljungen, hinten stand es ab. Er griff danach mit verhangenem Blick, der kleine, knittrige Mund stand offen. Sie breitete die Arme aus, straffte die Seide. Wie ein Mystiker verdrehte er die Augen und sagte etwas, doch so atemlos, dass sie ihn nicht verstand. Sie beugte sich zu ihm vor und bat ihn, seine Worte zu wiederholen.
—Ich bitte um seine Nachsicht, sagte er mit einer Stimme, frei von jedem Gefühl. —Ich bitte ihn um Vergebung für das, was ich tun werde.
—Dir ist vergeben, sagte sie und schlang den Stoff zweimal um seinen Hals.
Er war so in Ekstase, dass sie hinter ihm stand, ehe er begriff, was sie vorhatte, und da drückte sie ihm bereits ihren Fuß in den Rücken. Er schlug stärker um sich, als sie es ihm zugetraut hätte, weshalb sie all ihre Kraft und ihr ganzes Geschick brauchte, um hinter ihm zu bleiben. Sie fürchtete, die Seide könnte reißen, aber es war ein exzellenter Stoff. Sie stellte sich seine weit aufgerissenen, hervortretenden Augen vor, den überraschten Blick, Speichel in den Mundwinkeln, doch sah sie nichts außer der rot anlaufenden Haut in seinem Nacken. Sie wünschte sich, sie könnte diese Augen sehen, und bat Gott für diesen Gedanken gleich um Vergebung. Dann stemmte sie sich mit aller Macht gegen seine Rückenfurche und krümmte sich dabei so, wie die Ausbilder im Lager Berg es ihr gezeigt hatten, bis sie schließlich spürte, wie sein Körper ein letztes Mal zuckte.
—Alles gut, Aden, sagte sie leise. —Es ist gut, Aden, alles gut.
Sie konnte deutlich hören, wie seine Seele den Körper verließ. Ein kleiner heller, flüssiger Ton wie von einem Glöckchen. Die Finger seiner linken Hand schlossen sich um ihr Handgelenk, die Nägel gruben sich in ihre Haut, und das war alles. Wie man es ihr beigebracht hatte, zählte sie langsam bis zehn, ehe sie die Seide fallen ließ. Ohne einen Laut kippte er mit der Stirn auf das Podest.
Mehrere Minuten oder Sekunden vergingen, in denen farbige Lichtschleier ihren Blick verhängten, und sie hatte nur den einen Gedanken, dass sie nicht ohnmächtig werden durfte. Sie dachte an Decker, aber Decker war jetzt nur noch eine Erinnerung, mehr nicht. Sie dachte an Ziar und war sich sicher, dass man ihn getötet hatte. Alles andere schien undenkbar. Sie wiederholte seinen Namen, als sich um sie herum der Raum zu drehen begann. Das Licht wurde trübe. Sie hatte sich nicht überlegt, wie es nach dem Tod des katzenäugigen Mannes weitergehen sollte.
Noch immer stand sie nackt über dem Leichnam, die Arme herabhängend, als sie hörte, wie sich über den Kies Schritte näherten. Barfuß durchquerte sie den Raum und presste ein Ohr an die Tür. Ein Mann sagte etwas mit leiser Stimme und lachte, ein anderer Mann befahl ihm auf Paschto, den Mund zu halten. Sie schlüpften aus ihren Sandalen, kamen näher, knieten auf der Schwelle. Sie meinte, sie auf der anderen Seite der Tür spüren zu können. Ein flirrendes blausilbernes Tuch schien sich über ihren Blick zu legen, und sie stützte sich mit den Fingerspitzen an einem Querbalken der Tür ab, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Als das Tuch sich wieder hob, waren die beiden Männer fort.
Sie beeilte sich, die Leiche zu entkleiden und die Sachen selbst anzuziehen. Ihre Beine waren zu lang, doch zog sie sich den Salwar möglichst tief über die Hüfte und verdeckte den nackten Hautstreifen mit den Zipfeln des Kamiz. Sie fand eine Schale mit lauwarmem Wasser, löschte ihren Durst und wusch sich mit dem Rest den Puder aus dem Gesicht. Sorgsam band sie sich dann das Kopftuch des alten Mannes um. Sein Geruch war so stark, dass sie würgen musste, also schloss sie die Augen und wartete, bis der Anfall vorbei war. Die Männer lauschten an der Tür, oder sie waren verschwunden. Die Zukunft ist nicht das Reich des Menschen, sondern das des Ungesehenen.
Als sie hinaus ins Licht trat, wurde zum Gebet gerufen. Die weiß getünchte Mauer, der mit Kies ausgelegte Hof, das frischgestrichene Tor. Der Ruf erscholl von einer schlichten, blechgedeckten Moschee vor der Mauer. Der Hof lag verlassen. Ohne zu zögern, überquerte sie ihn und betrat das nächste Gebäude; die Tür ließ sie offen.
Drinnen hatten sich die meisten jungen Männer zum Gebet erhoben. Sie grüßten scheu, wussten nicht, was zu tun war. Es herrschte Verwirrung darüber, ob man im Hof oder draußen in der Moschee beten solle, von der herab der Muezzin rief; und einer der Männer fragte nach ihrer Meinung. Sie nahm sich eine Gebetsmatte vom Stapel in der Ecke, blickte verächtlich auf jene herab, die noch auf ihren Kissen lagen, und erklärte, sie gehe in die Moschee. Wieder war der Ruf zu hören. Vier Männer im Salwar Kamiz, die an der Tür standen, Gebetsmatten bereits in der Hand, nickten ihr zu, als sie ihnen voran nach draußen ging. Der Rest schloss sich an. In ihrem Eifer hasteten die Männer an ihr vorbei und hämmerten an das Tor. Den meisten wuchs zumindest schon ein Bartflaum, und es war ihnen peinlich, von einem milchgesichtigen ausländischen Jungen angeführt zu werden.
In das Tor war eine Art Pforte eingelassen, die sie jetzt öffneten, um hintereinander durchzugehen. Der dritte Ruf. Aden fiel zurück, blieb am Ende der Gruppe und konnte schon die tiefen Fahrspuren der gelben Straße sehen, die Reihe geparkter Lkw, dahinter wie ein dreckiges Kuchenstück den rosafarbenen Stuck der Moschee. Sie stolperte über irgendjemandes Fuß und sah im selben Moment mitten auf der Straße jene Männer, die ihr das Hochzeitskleid gebracht hatten. Sie wollten die Mudschaheddin zurückdrängen, aber die hoben ihre Gebetsteppiche wie Schwerter oder Fackeln in die Höhe und drängten langsam weiter in Richtung Moschee. Einer der beiden Männer sah sie an, ein langer, leerer Moment, dann hob er den Arm und schrie jemandem, den sie nicht sehen konnte, etwas zu. Behutsam streifte sie ihre Sandalen ab und bereitete sich darauf vor, jeden Moment loszurennen, als der Mann sich mit angewiderter Miene abwandte und langsam, breitbeinig, zurück zum Tor schlurfte.
Sie ließ sich von der Gruppe an dem letzten Lkw vorbeitreiben, doch als sie zur Moschee kamen, entschuldigte sie sich, bat ihre Gefährten, Gottes Segen für sie zu erflehen, blieb auf der Straße und ging einfach langsam weiter. Eine Stimme rief ihren Namen, zumindest hörte es sich so an, aber sie drehte sich nicht um. Im ganzen Land lebte kein Mensch mehr, der wusste, wie ihr richtiger Name lautete. Und während sie weiter nach Osten ging, fort von der Moschee und dem Hof, fort von den Lagern und den blauen Gebirgsketten, kam ihr der Gedanke, dass sie selbst ihn wohl am allerwenigsten kannte.
Sie verbrachte die Nacht in einem Graben an der Straße nach Peschawar und starrte, die Knie an die Brust gezogen, verblüfft und mit großen Augen zu den Sternen auf. Es war Halbmond, der Mond der Flaggen und Grabsteine, und sie meinte ihn schaudern zu sehen, wie er über den Himmel zog. Ihr Geist war hell wie der Mond, aber ebenso leblos, das Grummeln ihres Magens weit und breit das einzige Geräusch, der Graben tief und schmal, so trocken wie das Land, den er durchschnitt. Für den Fall, das ein Auto vorbeifahren sollte, lag sie im Schutz einiger Büsche. Es war kalt, und es ging kein Wind; die Sterne hingen so tief, dass sie Wärme suchend die Arme nach ihnen ausstreckte. Ihr ganzes Leben lag hinter ihr, jeder Tag, jede Stunde, hell, unwiderruflich und unveränderlich. Sie sah es so deutlich. Vor ihr lag sternenklare Schwärze. Dort gab es für sie nichts, was sie wissen oder sehen wollte.
Du hattest recht, was diesen Ort anging, meinte sie eine Stimme wiederholen zu hören. Du hattest recht, was diesen Ort anging, in einer Sache aber hast du dich geirrt.
Trotz ihrer Vorsichtsmaßnahmen fand jemand sie in dieser Nacht. Eine Stunde vor Tagesanbruch kam ein Mädchen, halb so alt wie sie selbst, durch den Graben auf sie zu und setzte sich ohne die mindeste Angst an den Rand. Das dunkle Haar fiel der Kleinen über die Schultern, das blasse Gesicht schimmerte bläulich, und ihre Turnschuhe trommelten spielerisch gegen die bröckelnde Böschung. Stirnrunzelnd sah sie zu Aden hinunter. Der Himmel hinter ihr wurde hell. Es lag eine Frage auf ihren Lippen und in den grauen, entschlossen blickenden Augen, aber sie sagte nichts. Vielleicht hatte sie ja doch Angst. Vielleicht war sie verletzt. Vielleicht hatte sie sich verlaufen. Sie sagte kein Wort, grüßte sie mit keiner Geste, und es kostete Aden die letzte Verstandeskraft, ihre Frage zu verstehen.
Sie holte tief Luft und sagte dem Mädchen, sie sei noch am Leben. Sie sagte, sie sei nicht gestorben, noch nicht, und sobald es gänzlich hell werde, wolle sie weiter nach Osten ziehen. Ihr Leben sei aus ihr unbekannten Gründen verschont geblieben, aus Gründen, die hinter einem großen, stummen Schleier ihrem Blick verborgen waren, weshalb ihr keine andere Wahl blieb, als dies für eine Gnade zu halten. Durch keinerlei eigenes Verdienst sei sie auf den rechten Pfad geführt worden, den Pfad derer, denen Gnade erwiesen worden war. Und auch wenn sie eine Sünderin sei, gar eine Mörderin, sei die Liebe, die sie für die Welt hege, frei von aller Sünde.
Sie weinte eine Weile, wiegte sich starr vor Kälte vor und zurück, und das Mädchen saß auf dem Grabenrand und beobachtete sie. Der Himmel im Osten spendete gerade genug Licht, um die zarte weiße Gestalt in Jeans und weitem T-Shirt erkennen zu können. Die Kleine saß da, trommelte mit den Füßen gegen den Lehm und summte leise vor sich hin. Die Buchstaben auf ihrem Shirt reihten sich zu den Worten SANTA ROSA RAZZIA aneinander. Ihr Summen wurde heller, die Sterne wurden dunkler.
Aden kniete sich hin, berührte mit der Stirn den Boden und fühlte, wie sie die Welt ins Dasein rief. Sie hielt die Augen geschlossen, nahm die Geräusche um sich herum wahr. Der Wind vom Vorgebirge. Die Laster auf der Straße. Der Ruf einer Elster. Das Rascheln ihrer Kleidung, ihre knirschenden Knochen. Sie nahm sie wahr, pries jeden Laut und bat das Mädchen um Vergebung. Sie bat um Geduld. Sie bat um Mut. Als sie die Augen schließlich aufschlug, war es schon lange Tag.