14

Ein Jahr. Das kann ich mir. Auf der Zunge zergehen lassen kann ich es mir. Die Vorstellung, nicht das Jahr. Wie können dreihundertsechsundsechzig Tage so schnell vergehen? Es fühlt sich an, als hätte ich die Seite eines Buchs umgeblättert. Sale women’s sale war ein Achtungserfolg. Von Anfang an war mir klar, dass die Ausstellung keine Massen anziehen würde. Sie sind ja auch dumm, die Massen. Rennen alle in dieselbe Richtung und wie Lemminge kopfüber in den Abgrund. Dafür waren die Kritiken in den Qualitätszeitungen wunderbar. Mainstream bekommen die Leute ohnehin im Belvertina-Haupthaus in der Innenstadt geliefert. Dort können sich die Touristen ihre Finger wund knipsen.

Bei der Ausstellung danach, die ich art exorcism betitelte, drehte es sich um: Die Kritiken waren, bis auf einen Teilaspekt, vernichtend, dafür kamen die Leute in Scharen. Zähneknirschend habe ich es hingenommen. Ich habe Aziz Azimov eingeladen, einen aufstrebenden Künstler aus Taschkent, den ich drei Jahre zuvor zufällig auf der Art Basel kennengelernt hatte. Er sah aus wie ein Geist, ätherisch, kaum greifbar. Genauso wirkten auch seine Fotografien. Ich habe ihm jedenfalls vorgeschlagen, sich dem Ausstellungsraum aus einer esoterischen Richtung anzunähern und usbekische Wahrsagerinnen, Schlangenmenschen, Löffelbieger und vom Teufel (oder Jesus) Besessene für eine delegierte Performance einzuladen und abzulichten.

Meiner Idee, sein Fotografieren von einem Fotografen festzuhalten, konnte Azimov viel abgewinnen. Dies war auch der Teilaspekt, den die Kritikerinnen äußerst positiv hervorhoben und der die Ausstellung aufs nächste Level hob: Ich schlug vor, eine Fotografin einzuladen, die den Fotografen fotografierte, der Aziz Azimov fotografierte, der die Performenden fotografierte. Und dann müsse eine weitere Fotografin eingestellt werden, sinnierte ich. Er wisse schon, Gleichstellung Frau und Mann. Unbedingt, sagte er. Also eine Fotografin, die die Fotografin dabei fotografierte, wie sie den Fotografen fotografierte, der Aziz Azimov fotografierte, der die Performenden fotografierte. Und all das müsse auf Video aufgezeichnet werden, schloss Azimov. Der Kreis müsse sich schließen. Das mit dem Video sei etwas kompliziert, gab ich zu verstehen. Da müsse man die Besuchenden um Erlaubnis fragen. Jeden Einzelnen. Ja, sagte Azimov, müsse man. Ich zuckte mit den Schultern und schüttelte seine Hand.

Die Ausstellung art exorcism rennt noch für ein paar Wochen. Danach schließt das Museum für mindestens ein halbes Jahr wegen eines Erweiterungsbaus, den sich die Direktorin schon lange wünscht (ein Café und Veranstaltungsraum samt weitläufiger Terrasse am Dach).

Ich hoffe, dass ich mich während der Bauarbeiten nicht langweile. Alles in allem aber läuft es super. Mein Leben. Toll. Großartig. Einwandfrei. Herrlich. Unglaublich. Ich kann mich nicht beschweren. Ja, mir geht es gut. Sehr, sehr gut.

Image

Ein Jahr. Tom ist bereits ein Jahr auf der Welt. Ein Jahr, das bedeutet, Tom ist auf der Erde ein ganzes Mal um die Sonne geflogen. Zweimal habe ich geblinzelt, vielleicht sogar dreimal, und schon brennt die erste Kerze. Vor drei Wochen hat er von mir bereits sein eigentliches Geburtstagsgeschenk erhalten: den Gerichtsbeschluss, endlich war es so weit. Die Annahme an Kindesstatt besiegelt seine Zukunft, sein Leben, seine Familie. Nun hat er ganz offiziell seine beiden Mütter als Eltern (Sue ist die Mami, Jen die Mama). Und ich bin endlich frei. So richtig. Ich habe mich besoffen an jenem Tag. Vor Freude. Für mich. Für Sue. Ein bisschen auch für Tom. Und ein Schluck galt sogar Jen.

Toms erster Geburtstag ist vorüber, ist geschafft, wie es Sue ausgedrückt hat, mit dunklen Schweißrändern auf ihrem Shirt. Kindergeburtstage, hat sie gemeint, zählen – wie sie herausfinden musste – mitunter zu den schwierigsten organisatorischen Zusammenkünften, die es gebe. Eine Ausstellung in der Galerie Grohlinger sei dagegen ein Klacks. Das Problem seien nicht unbedingt die Kinder, in diesem Fall die Babys (drei wurden eingeladen), sondern die Eltern. Und nicht nur die Eltern der Babys, sondern vor allem die eigenen, die Eltern von Sue und Jen. Jede Person hat eine bestimmte Vorstellung, wie der Tag abzulaufen hat. Das Geburtstagskind wird gar nicht erst gefragt. Gut, es könnte noch nicht antworten. Trotzdem, ein Tag mit hundert Meinungen und Erwartungen, die alle die Oberhand gewinnen wollen. No easy task. Dass Jens Mutter – Jen entschuldigte sich übrigens nochmals – mich kurz nach dem Geschenkeauspacken als Leihmutter bezeichnet habe, sei unpassend, ärgerlich, jedenfalls nicht richtig gewesen.

Ich habe nicht zugegeben, dass es mich verletzt hat. Mir selbst habe ich es nicht eingestanden, den anderen erst recht nicht. Gelächelt habe ich. Dann lauthals gelacht. Dann das Sektglas geleert. Und doch hat Jens Mutter im Grunde recht gehabt. Die Wahrheit habe ich rausgelacht. Es ist ja auch scheißegal, was ich war und wie man es nennt. Leihmutter? Als wäre es von Anfang an so geplant gewesen! Anfang. Ganz am Anfang, da hat er mir gehört, der Embryo. Er war meiner, auch wenn ich ihn nicht haben, ihn so schnell wie möglich wieder loswerden wollte. Ich habe ihn nicht an Sue verliehen. Ich habe ihn ihr geschenkt. Eine Schenkmutter bin ich. Da besteht ein kleiner, aber feiner Unterschied. Vielleicht hat es Jens Mutter nicht so gemeint, immerhin ist Deutsch nicht ihre Muttersprache. Vielleicht ist sie auch einfach nur alt, denkt nicht nach, bevor sie spricht. Wie man es ihrem Gesicht angesehen hat, dass sie sich eine heterosexuelle Tochter gewünscht hätte. Dass es für sie schon schwer genug ist, ihre einzige Tochter mit einer Frau verheiratet zu sehen. Und dann kommt das Baby auch noch von einer Freundin, anstatt aus dem Bauch ihrer eigenen Tochter, oder wenn schon nicht aus dem Bauch der Tochter, dann doch wenigstens aus dem ihrer Frau. Aber nein, eine rothaarige Kuratorin kommt dahergelaufen und kackt plötzlich bereitwillig Babys raus, drängt es ihrer Tochter förmlich auf. Rabenmutter. Das denkt sie über mich. Leihmutter, Rabenmutter, keine Mutter. Auch keine Tante. Am liebsten wäre es ihr gewesen, wenn ich gegangen wäre. Wenn ich mit meinem Mobile, das ihres bald über dem Gitterbett verdrängt hatte (wie denn auch sonst: meines war definitiv geschmackvoller), verschwunden wäre, um diese ganze Situation etwas einfacher zu gestalten, sie von einer der vielen Patchwork-Schlingen zu befreien. Wenn es schon kein Papa und keine Mama sein darf, dann wenigstens Mami und Mama, und nicht Mami und Mama und Tante. Und Onkel. Wobei es der liebe Onkel Marvin, da muss ich ihm auf die Schulter klopfen, tatsächlich geschafft hat, den Mund zu halten. Nun, er wusste ja auch, was auf dem Spiel stand: seine ganze künstlerische Existenz, nicht mehr, nicht weniger.

Zweimal hat Sue Tom in die Galerie mitgebracht. Einmal, als wollte sie ihm eins auswischen, zur Vernissage von Marvins erster Werkschau in der Galerie. Aber Sue ist keine Person, die jemand anderem eins auswischen würde. Sie hatte an jenem Abend, da die Wienwahl kurz bevorstand und Jen rotierte, bloß keine andere Möglichkeit gesehen, als ihn mitzunehmen, und da sie nicht wusste, dass Marvin es wusste, hatte sie wahrscheinlich gar nicht erst darüber nachgedacht. Kurz bevor an jenem Abend die Gäste eintrudelten, fiel ein offenbar schlecht angeklebtes Schildchen von der Wand. So hat es mir jedenfalls Marvin später am Abend erzählt. Er stand zufällig neben Sue und fragte sie mit unschuldiger Miene, ob er kurz ihr Baby halten solle, damit sie das Schild wieder ankleben könne. Sue schüttelte mit einem entschuldigenden Lächeln den Kopf, sagte, dass das nicht nötig sei und gab, indem sie quer durch die Galerie schrie, damit man sie im Büro hörte, Leyla den Auftrag, das Schildchen wieder anzukleben. Tom begann der Lautstärke wegen zu weinen. Sue biss sich auf die Lippen, lächelte noch einmal gepresst in Marvins Richtung und wünschte ihm alles Gute für die Vernissage.

Beim zweiten Mal nahm Sue Tom mit zu einer Lecture-Performance, die ich für Marvin zu seiner Finissage gehalten habe. Als ich gerade vom Klo zurückkam, nachdem die meisten Leute – nicht ohne das eine oder andere Werk gekauft zu haben – gegangen waren, passte mich Marvin ab und fragte, ob er, nun, da einige Zeit verstrichen sei, Sue nicht verraten könne, dass er von seiner Vaterschaft längst wisse. Damit er den Kleinen auch mal halten dürfe. Er könne mich am Arsch lecturen, habe ich, Arcus zitierend, daraufhin gemeint, und dass er sich an die Abmachung gefälligst zu halten habe. Resigniertes Nicken. Ob er wieder mal Lust auf langweiligen Sex habe, fragte ich ihn nach einer kurzen Pause. Resigniertes Nicken. Er solle diesmal zwei Kondome überstreifen, sagte ich ihm. Nein, besser drei. Er müsse ja auch nichts spüren.

Einmal habe ich Sue gegenüber die Penisse verflucht. Dass ich immer noch auf sie stehe. Rückständig. Habe ihr gesagt, dass ich auch gerne lesbisch wäre, aber dass ein Penis halt ein Penis sei und ich in meinem Kopf nichts daran ändern könne. Wie ich das meine, hat sie gefragt.

»Na, ich hätte weniger mit Arschtypen zu tun«, habe ich gesagt. »Nicht nur im Bett.«

»Es gibt auch Frauen, die ihre Ärsche im Gesicht tragen.«

»Tatsächlich? Nein, im Ernst, du hast ja nicht mal Männer in deinem Job. Deine Chefin ist eine Frau, alle Assistentinnen sind Frauen.«

Erstens, hat Sue gemeint, sei genau das ihr Problem – Stichwort Leyla –, und zweitens sei meine Chefin auch eine Frau.

»Aber mit der hocke ich nicht täglich im Büro«, habe ich gesagt.

»Du sitzt einer Illusion auf. Außerdem habe ich eh keine Probleme mit Männern.«

»Ich habe auch keine Probleme mit Männern«, habe ich Sue erklärt. »Die Männer haben Probleme mit mir! Wofür sind sie denn zu gebrauchen? Wie stolz sie sind, wenn die Ehefrau sie bittet, ein Glas saure Gurken zu öffnen oder eine Dose Kokosmilch. Das ist die größte Befriedigung, die man ihnen geben kann. Dass sie das Gefühl haben, endlich für irgendetwas gebraucht zu werden! Maschinen wollen sie sein. Und das sind sie auch. Als Belohnung wollen sie dann abends einen geblasen bekommen, die armen Bubis. Sie haben ja sonst nichts, worauf sie sich freuen können.«

»Ja«, hat Sue gesagt. Dann hat sie ein bisschen nachgedacht und noch einmal ihren Mund geöffnet: »Ja.«

Jen hat bei der Wahl verloren. Eigentlich ihre Partei – sie selbst steht nicht in der ersten Reihe, kaum in der zweiten. Und nicht nur ein bisschen haben sie verloren. Fast wären sie aus dem Gemeinderat geflogen. Auf einen schnellen Aufstieg folgt – wie man nur zu gut weiß – nicht selten ein rasanter, steiler Fall. Jen war am Boden zerstört, ist einige Wochen nur apathisch auf der Couch gesessen, was überhaupt nicht zu ihrem natürlichen Taten- und Profilierungsdrang passt, mir persönlich aber sehr sympathisch war. Sie war weniger gereizt, angenehm depressiv, lethargisch abwesend, alles in allem endlich nett. Als Sues Kinderbetreuungszeit zu Ende ging und Jen an der Reihe war, war sie schließlich gezwungen, aktiv zu werden, zumindest, was Tom angeht. Es dauerte nicht lange und sie stürzte sich ins Kleinkindarschabwischen und Kleinkindmäulchenstopfen, als wäre es immer schon ihre Bestimmung gewesen. Kaum ein Wort über Politik kam ihr mehr über die Lippen. Und nicht selten überblätterte sie in den Zeitungen die Innenpolitiknachrichten, ausgenommen vielleicht Anneliese Rohrers Samstags-Kolumne und Antonio Fians Dramolette. Kurz gesagt: Außer Tom sah sie nur noch Tom.

Sue hatte es auch nicht leicht. Ihre Chefin hatte Leyla fix ins Team aufgenommen. Dabei hatte Sue sich, ohne es zu wissen, selbst eine Grube gegraben. Hätte sie die Kinderbetreuung etwas kürzer in Anspruch genommen, wäre ihr diese fleischliche Versuchung erspart geblieben. So gesehen war es Toms Schuld. Eigentlich meine. Nein, Marvins. Der sollte für Sues sexuelle Gelüste geradestehen. Ausgepeitscht werden. Was weiß ich! Sue, meine liebe Sue. Ob ihr Jen denn nicht genüge, fragte ich sie mit einem Augenzwinkern. Das sei nicht so einfach, gab sie zu verstehen. Leyla lasse halt auch nicht locker. Würde sie wenigstens so tun, als wenn da nichts wäre zwischen ihnen. Aber sie tue nicht so. Im Gegenteil, bei jeder Gelegenheit berühre sie ihren Arm, streife während einer Besprechung wie unabsichtlich ihre Schenkel unter dem Tisch, schaue sie an, als würde sie sie am liebsten … Aber trotz allem halte sie sich zurück. Leyla wisse von Jen, von der Ehe, von dem, was mit Tom auf dem Spiel stehe. Aber das mache es nur noch schwieriger. Manchmal, sagte Sue, wäre es ihr lieber, all diese aufgestaute Energie würde mit einem Mal, mit einem langen, intensiven Orgasmus am Klo der Galerie abfließen. Vielleicht wäre dann alles getan, was getan werden müsse, vielleicht würde sie sich dann nicht mehr von ihr angezogen fühlen, vielleicht würde sie sich Leyla nicht mehr ausgezogen vorstellen. Aber dieses Risiko eingehen wolle sie trotzdem nicht. Fremdgehen komme nicht infrage. Das habe sie hinter sich. Sie wisse, wohin das führe. Nein, Jen ein weiteres Mal zu verletzen, das könnte sie selbst nicht verkraften. Es müsse einen anderen Weg geben, damit klarzukommen. Womöglich, indem sie das Liebesleben zwischen Jen und ihr wieder reaktiviere? Wäre das nicht die naheliegendste Lösung, die logischste, die schönste? Wann hatten sie das letzte Mal genügend Energie für Sex? Wann war sie überhaupt das letzte Mal mit Jen alleine abends unterwegs gewesen? Jen. Sie müsse wieder auf sie zugehen. Jetzt. Sofort.

So in der Art hat diese Unterhaltung im Park mit Sue (und dem schlafenden Tom im Kinderwagen) stattgefunden, wobei es eher ein Monolog als eine Unterhaltung gewesen ist. Manchmal ist es als beste Freundin recht einfach, da muss man nichts weiter tun, als dem Gegenüber ein Ohr zu leihen, oder so zu tun als ob.

Image

Ich betrete Sues und Jens Wohnung. Beide stehen in feinster Abendgarderobe im Flur. Tom krabbelt gerade von der Küche kommend ins Kinderzimmer.

»Regina«, beginnt Sue, »das ist die Ausnahme einer Ausnahme … einer Ausnahme. Das weißt du.«

Ich nicke.

»Zuerst hat die Babysitterin abgesagt«, meint Jen. »Dann meine Mama, dann Sues Mama. Die Opas sind, wie wir alle wissen, nicht fähig, auf ein Kleinkind aufzupassen, also wurden sie erst gar nicht gefragt.«

»Ich bin im Bilde«, sage ich.

»Wir haben sonst niemanden, den wir so kurzfristig darum bitten könnten«, sagt Sue.

»Und wir haben uns so auf diesen Abend gefreut!«, meint Jen. »Bisher haben wir alle Stücke von ihm gesehen. Und dann noch dazu im Akademietheater!«

»Das möchten wir nicht versäumen«, sagt Sue.

»Dürfen wir nicht«, meint Jen.

»Ich sehe schon«, sage ich. »Ihr sprecht wieder, als hättet ihr nicht zwei Münder, sondern bloß einen«, und füge hinzu, dass dies ein gutes Zeichen sei, ein gutes Zeichen für die Beziehung, zumindest für diese kranke Beziehung, die sie führten. »Das war als Kompliment gemeint«, ergänze ich, da mich beide anstarren. Vielleicht starren sie nicht mich an, sondern die Wanduhr, die sich über meinem Kopf befindet. »Ihr habt es eilig. Ich verstehe schon.«

»Der Brei ist fertig«, sagt Sue knapp.

»Vielleicht ist er noch heiß«, ergänzt Jen. »Da musst du aufpassen und ein bisschen blasen. Ansonsten gib etwas Apfelmus dazu.«

»Come on!«, sage ich. »Es ist nicht das erste Mal, dass ich ein Kind füttere.« (Es ist das erste Mal.)

»Die Windeln findest du im Fall der Fälle unter dem Wickeltisch«, sagt Sue.

»Sein Lieblingsstoffaffe ist schon im Gitterbett«, sagt Jen. »Ach ja, Zähne putzen bitte nicht vergessen. Er hat nur vier oben und vier unten. Und über das Einschlafritual weißt du Bescheid?«

»Sue hat mich bereits instruiert«, sage ich. »Alles bestens. Ich mache das schon. Tom und ich sind ein gutes Team.«

Jen sieht mich mit gerunzelter Stirn an. »Sollte er sich mit dem Einschlafen schwertun …«, beginnt sie.

»… dann tunke ich ein Stofftuch in die Wodkaflasche und gebe sie ihm zum Nuckeln«, vervollständige ich den Satz.

»Haha«, macht Jen. »Sehr lustig. Dann gibst du ihn einfach in die Trage. Sie liegt im Wohnzimmer auf der Couch. Du weißt doch, wie du sie anziehst?«

Ich nicke, obwohl ich es nicht weiß.

»Und du rufst uns an, wenn irgendetwas nicht stimmen sollte, ja?«, fragt Sue.

»Zu Befehl.«

»Er hat vorhin übrigens schon gekackt«, sagt Jen. »Da dürfte also keine Ladung mehr kommen.«

»Sehr zuvorkommend von Tom«, sage ich.

»Haben wir noch was vergessen?«, fragt Sue und macht große Augen. Sie ist aufgeregt. Beide sind sie, im Gegensatz zu mir, sehr aufgeregt. Ich bin cool. Sie sind aufgeregt. Ich bin extrem cool.

»Haut schon ab«, sage ich. Ich sage es und versuche, meine Oberarme dicht am Körper zu halten, damit sie meinen Angstschweiß nicht riechen. Ich kann mich nicht erinnern, wann ich das letzte Mal derart in Panik war. Nicht einmal bei der Vernissage von money sells hatte ich solches Herzrasen. Während sie sich von Tom verabschieden und ihm tausendundein Mal versprechen, schnell wieder zu Hause zu sein, ziehe ich Schuhe und Mantel aus, gehe ins Badezimmer und sprühe mir ausreichend Deo in die Achselhöhlen. Tom antwortet seinen Müttern brabbelnd. Er scheint heute gut drauf zu sein. Nicht von Nachteil. Sue und Jen schicken mir zwei Küsschen, und weg sind sie. Die Tür fällt ins Schloss. Und ich bleibe vor der Küchentür stehen und kann mich für ein paar Sekunden nicht bewegen. Was habe ich mir da aufgehalst? Ich alleine mit einem Kind? Nicht meinem. Einem. Bin ich völlig irre?

»Tommy?«, rufe ich und korrigiere mich: »Tom?«

Ich wage einen Blick ins Kinderzimmer. An den Stäben des Gitterbetts hat er sich hochgezogen. Er dreht mir den Kopf zu, lächelt sein entwaffnendes Lächeln, lässt seinen Hintern aufs Parkett plumpsen, sodass der Boden spürbar vibriert, krabbelt auf mich zu und zieht sich an meinen Beinen hoch.

»Wird höchste Zeit, dass du ordentlich gehen lernst«, sage ich, packe ihn unter den Achseln und drehe ihn um. »Nun gehst du zurück zum Gitterbett«, sage ich ihm. »Komm schon. Los. Du kannst das!« Er macht tatsächlich zwei Schritte, dann fällt er auf den Boden, wälzt sich in Richtung Stofftiere und lächelt mir abermals zu.

»Dein Abendessen ist fertig«, sage ich und schaue auf die Armbanduhr. Es ist kurz vor halb sieben. Um sieben, spätestens um halb acht soll ich ihn schlafen legen. Schaffe ich das? Das schaffe ich. Ich schaffe das. Was soll denn so schwer daran sein? Füttern, wickeln, Pyjama anziehen, Liedchen vorsingen, Büchlein durchblättern, schnarch, schnarch, schnarch. Easy.

Ich hebe Tom hoch und bemerke gleich, dass er, seit ich ihn das letzte Mal getragen habe, um einiges schwerer geworden ist. Er legt seine linke Wange an meine rechte Schulter, ich drehe den Kopf zu ihm hin und ziehe mit mehreren kurzen Atemzügen, wie man es vom Weintesten her kennt, seinen entwaffnenden Duft in meine Nasenlöcher. Die richtig guten Drogen, sage ich mir, sind noch nicht entdeckt worden. Mit einiger Anstrengung entferne ich meine Nase von Toms Scheitel und setze ihn in seinen Hochstuhl. Einen Löffel Brei nach dem anderen schiebe ich in seinen kleinen Mund, der sich überraschenderweise bereitwillig öffnet. Braves Kind, sage ich. Gutschi, gutschi, gutschi. Brav essi essi. Auf einmal muss ich an Gustav denken. Wie ich ihn gefüttert habe, wenn meine Mutter keine Zeit hatte. Oder besser gesagt: Wie ich es nicht zustande gebracht habe. Wie der Brei über sein Kinn und über seine Wangen seitlich aufs Leintuch getropft ist. Wie ich von Mutter später gesagt bekommen habe, dass ich sogar zu dumm zum Füttern sei. Hauptsache, den Kopf im Himmel. Hauptsache, stets den Schnabel weit offen. Hauptsache, ich denke immer an mich, anstatt zur Abwechslung an die anderen. Hauptsache, mir gehe es gut. Hauptsache, ich sei satt. Sie hat sich später für ihren Wutausbruch entschuldigt, aber in meiner Brust hat er etwas zerstört. Ich hatte mir Mühe gegeben. Aber Mühe reicht bei Gustav nicht. Er braucht mehr als Mühe. Er braucht unendliche Geduld, ein Zureden auf ganz bestimmte Art, er braucht diesen fürsorglichen Blick meiner Mutter, ihre Hand, die sich eine Spur rauer anfühlt als meine. Ich beobachtete Mutter beim Füttern und versuchte mir alles zu merken. Beim nächsten Mal, als ich wieder übernehmen musste, hatte ich mehr Erfolg. Gustav ließ sich das Essen in den Mund schieben. Er hustete nur manchmal, würgte nur manchmal. Mindestens die Hälfte des Essens landete in seinem Magen, da war ich mir ganz sicher.

Während meiner kurzen gedanklichen Abwesenheit schiebt Tom alle zehn Finger in den Brei. Was gibt ihm das? Ich greife nach der Küchenrolle … doch dann überlege ich es mir anders. Sollen Sue und Jen wischen. Sollen sie die sein, die sauber machen, die darauf bedacht sind, dass alles in geregelten Bahnen verläuft. Ich bin seine Tante. Ich habe Rechte. Genau wie seine Großeltern darf ich mir Dinge erlauben, die für Eltern tabu sind. Soll er den Brei umrühren, soll er ihn sich genüsslich in den Mund stecken oder sonst wo hin. Soll er Kleinkind sein. Bald ist die Zeit vorbei und er ist reif für den Kindergarten, für die Schule, muss brav mehrere Stunden am Tag auf dem harten Holzstuhl sitzen, sich nicht bewegen und nach vorne schauen oder ins Heft, ruhig sein, auf alle anderen Rücksicht nehmen, vor allem aufs Lehrpersonal Rücksicht nehmen, lieb sein, bloß nicht wild, bloß nicht zu viel herumturnen auf dem Stuhl und nicht zu laut sein. Dieses scheiß Schulsystem! Für den Arsch ist es! Wichtig ist der Gesellschaft, dass sie zum Schluss, wenn sie ihre Reife, da haben wir wieder das Wort, unter Beweis gestellt haben, zu Robotern geworden sind, spätestens dann. Roboter, die nicht allzu eigenständig denken, oder es zumindest im Laufe der Schuljahre nach und nach verlernt haben, damit sie sich als Zahnrad einfügen können ins Wirtschaftssystem, ins System, das wirtschaftlich zu sein hat. Denn selbst denkende Wesen sind gefährlich, waren es immer schon.

Also los, Tom, zeig, was du drauf hast. Hau rein in den Brei! Schlag die Schüssel entzwei. Ja, genau so! Tom grinst über beide Ohren, gluckst fröhlich und wirft die Schüssel mit dem letzten Rest des Abendessens hinter sich in eine Küchenecke. Recht so. Zeig es ihnen, zeig es der Welt. Dass sie mit dir nicht so umgehen kann. Dass du dich nicht so leicht formen, nicht verformen lassen wirst.

Ah, du willst raus? Gut, raus mit dir. Jetzt kannst du noch ein bisschen spielen. Dann aber ab ins Bad zum Zähneputzen. Unter dem Tisch liegt ein bunter Ball. Ich stoße ihn mit dem Fuß in Richtung Tom. Er nimmt ihn in die Hände, lächelt, wirft ihn achtlos zur Seite. Er krabbelt ins Kinderzimmer, steht auf, macht einen wackeligen Schritt, setzt sich wieder hin, greift nach den Holzbauklötzen, tut so, als würde er etwas Tolles bauen, um unter diesem Vorwand an den Ecken von besonders gut aussehenden Bauklötzchen zu knabbern. Der Speichel rinnt ihm in großen Mengen übers Kinn und wird bereitwillig vom Body aufgenommen. Mit einem Baby bekommt man eine ganz neue Beziehung zu Speichel. Ja doch, soll er sich vollspeicheln, sich austoben, er bekommt bald seinen trockenen Pyjama. Ich schaue auf die Uhr. Dass wir gut, wenn nicht sogar sehr gut in der Zeit liegen, rufe ich Tom zu. Er scheint sich nicht dafür zu interessieren.

Wie zufällig nähert sich Tom schließlich dem Badezimmer. Ich hebe ihn auf den selbst gezimmerten Hochstuhl und versuche ihm – zugegeben, etwas halbherzig – die Zähne zu putzen. Er hat, erkennbar an seinen fest zusammengepressten Lippen, offenbar keine Lust. Willst du es nicht nochmal probieren? Nein? Na, dann eben nicht. Ich verbuche dies einfach unter meine Rechte als Tante. Tanten müssen ihrem Neffen nicht die Zähne putzen. Sollen die Mütter morgen früh doppelt so lange putzen. Ich werde es ihnen ausrichten. Gesicht gewaschen, abgetrocknet. Gut. Alles gut.

Next step? Windel wechseln. Ich taste nach Toms Windel. Fühlt sich so an, als wäre sie fast leer. Also überspringe ich diesen Punkt und ziehe ihm den Pyjama an. Nun das sogenannte Einschlafritual. Sehr wichtig. Auf der Couch neben dem Gitterbett wird ihm ein süß gereimtes Gute-Nacht-Büchlein vorgelesen. Ich habe das Gefühl, dass er nicht zuhört, dass es umsonst ist. Aber Befehl ist Befehl. Schließlich will ich kein Risiko eingehen. Er soll wie gewohnt rasch einschlafen und keine Probleme bereiten, was Kinder ja immer bereitwillig für die Erwachsenen tun. Tom brabbelt. Sagt Mama. Hat er gerade Mama gesagt? Da sticht es wieder in meiner Brust. Bitte nicht. Nicht jetzt. Ich lege Tom auf die Seite. Er hebt eine Decke etwas an, steckt den Kopf darunter und lacht. Warum kann das nicht endlich aufhören!? Das Mit-der-Hand-auf-die-Brust-Schlagen hilft nach ein paar Wiederholungen. Das Stechen lässt nach, eine Träne rinnt mir über die Wange. Ich wische sie mit dem Handrücken weg, schnäuze mich … und da kommt es über mich. Ohne Vorwarnung. Ohne, dass ich gewusst hätte, dass es raus muss. Tränen. Tränen über Tränen. Wie eine B-Movie-Schauspielerin komme ich mir vor, der ganze Körper zuckt und bebt und ich weine, während Tom, halb unter der dünnen Decke verborgen, fröhlich vor sich hin gluckst. Mit weit geöffneten Augen schaut er mich an, nachdem ich immer wieder laut aufschluchze … und lächelt, hört nicht damit auf. Da muss ich umso lauter heulen. Löst sich etwas in mir? Oder mit anderen Worten: Geht es mir besser? Nein. Geht es mir schlechter? Nein. Sehe ich klarer? Kann sein. Die Tränen haben, wie der Scheibenreiniger auf der Autoscheibe, den Dreck weggespült. Ich sehe klarer, dass da nichts vor mir liegt. Nicht viel. Eher so etwas wie eine Leere. Und dieses Fehlen von etwas, das ich nicht benennen kann, löst ein Unbehagen in mir aus, das ich so noch nie wahrgenommen habe.

Da kommt Tom auf mich zugekrabbelt und zwingt mich durch seine Präsenz zurück in den Moment. Na, komm her, du. Ich hebe ihn hoch, lege ihn ins Gitterbett, schalte das Nachtlicht ein, drücke ihm sein Lieblingsstofftier in die Hand, einen Affen, der sich selbst umarmt. Er nimmt ihn in die Hand und legt ihn auf seinen kleinen, runden Bauch. Dann dreht er sich auf die eine Seite, gleich darauf auf die andere. Einschlafritual fast durch. Nun mit dem Finger das Mobile mit den Marienkäfern, Schmetterlingen und Bienen anstoßen. Und nochmal. Und nochmal. Dann die Spieluhr aktivieren, indem ich am Schwanz der Giraffe ziehe. Dann warten. Und noch ein wenig warten. Schnur ziehen. Lange warten. Mobile anstoßen. Warten. Schnur ziehen. Mobile. Schnur. Warten. Mobile. Warten … und geschafft.

So leise wie möglich erhebe ich mich und schleiche zur Tür. Da knarzt das Parkett. Ich bleibe stehen, stelle mich tot. Es nützt nichts. Das Raubtier in meinem Rücken hat mich erspäht, hat mich gehört, hat meinen Totstellreflex durchschaut; es wird mich zerfetzen. Mit einem markerschütternden Schrei zieht sich Tom an den Gitterstäben hoch. Fuck. Aber wer wird denn so schreien? Ich bin ja da. Mami und Mama sind im Theater und kommen bald wieder, das haben sie dir doch versprochen. Derweil ist Tante Regina bei dir und passt gut auf dich … eine Weile verstehe ich kaum mein eigenes gesprochenes Wort und erinnere mich an den Ratschlag, den ich vor einiger Zeit der Frau auf der Straße zugebrüllt habe: dass sie ihrem Baby einfach den Mund zuhalten solle, es könne doch durch die Nase atmen. Toms hohes Kreischen überlagert nach wenigen Minuten alles, auch meine Gedanken. Ich verkrampfe, werde zu einem Krampf. Reiß dich gefälligst zusammen, Tom! Leg dich wieder hin! Willst du nicht probieren, einzuschlafen? Für mich? Für deine liebe Tante Regina? Schau, ich mach dir die Spieluhr an. Und das Mobile. Schau zum Mobile, wie es sich bewegt. Schau doch hin, verdammt nochmal. Bewegt es sich nicht unglaublich lustig? Tom brüllt wie am Spieß. Wenn er könnte, würde er seine Lunge nach außen stülpen. Gutgutgut. Nein, nicht gut. Schlecht. Aus dem Gitterbett geholt. Gestreichelt. Sanft auf den Rücken geklopft. Ihm das Spiel mit der Decke von vorhin schmackhaft gemacht. Das Lieblingsaffenstofftier geholt und mit ihm gesprochen. Nichts zeigt eine Wirkung. Wie spät ist es? Scheiße, das Theaterstück hat gerade erst begonnen. Aber deine Mamas sind doch bald wieder da, du kleiner Schreihals. Da fällt mir die Trage ein. Stimmt. Nicht so schnell aufgeben, Regina, nicht so schnell aufgeben. Ich hole die Trage, probiere, sie anzuschnallen, drehe fast durch. Beschissenes Scheißteil! Wer hat es konstruiert? Von Eltern für Eltern entworfen? So geht doch der Spruch, nicht? Von Volltrotteln für Volltrottel, müsste es heißen. Nach einigen Versuchen klappt es. Verschwitzt stehe ich mit dem Fetisch-Ding vor Tom, hebe ihn hoch. Er biegt den Rücken durch und streckt die Hände nach oben, sodass er sehr schwer zu halten ist. Hochroter Schädel. Ich setze ihn rein (sofern hier von sitzen die Rede sein kann), ziehe an irgendwelchen Schnüren, die links und rechts der Trage nach unten hängen, sodass er sich ziemlich eng an meinen Oberkörper anschmiegt. Wenn er sich denn anschmiegen würde. Wie ein Wurm windet er sich. Leicht federnden Schrittes hopse ich durch die Wohnung. Nichts. Es ändert nichts. Nach zehn Minuten – was einer gefühlten Stunde gleichkommt – lasse ich ihn wieder raus, setze ihn auf den Boden. Auf dem Bauch liegend stampft er mit den Füßen aufs Parkett. Ob ihm das wehtut? Ich hebe ihn auf, lege ihn auf die Couch. Er dreht sich zur Seite, rollt beinahe über den Rand. Schnell greife ich nach seiner Schulter, schwenke ihn zurück, abermals hebe ich ihn hoch, lege ihn zurück ins Gitterbett. Er zieht sich an den Stäben hoch, schreit, schreit, schreit. »Mama« schreit er, immerzu: »Mama, Mama, MAMAAAAA!«

»Halt endlich dein Maul«, schreie ich ihn an. Da brüllt er noch lauter. Ich entschuldige mich leise. Er hört mich nicht. »Und was meinst du überhaupt mit Mama?«, frage ich ihn. »Ich bin doch deine Mama, verdammte Scheiße. Ich bin deine Mama, deine echte!«

Nachdem ich mich dies laut aussprechen gehört habe, macht in meinem Inneren etwas klick. Als gäbe es nach einer extrem langen One-Shot-Video-Kamerafahrt plötzlich einen Schnitt und die Hauptperson wäre aus der Vogelperspektive zu sehen.

Ich gehe in die Küche, schließe die Tür hinter mir. Dass Tom über das Gitter aus dem Bett klettert, ist ausgeschlossen. Er kann nirgendwohin, außer zurück in den Schlaf. Sein Gebrüll dringt gedämpft und um einige erleichternde Dezibel leiser durch die Türritzen. Das Handy aus der Handtasche geholt, entsperrt, Marvin angerufen.

»Ja, hallo Marvin, altes Haus. Na, was machst du so? Brav beim Malen? Nein? Lust auf ein Schlückchen Wein mit Sue und mir? Sie will dich gerne wieder mal sehen und mit dir über ein neues künstlerisches Projekt reden, das die Grohlinger initiieren möchte. Genau. Es soll übrigens finanziell ziemlich gut aufgestellt sein, falls das für dich von Interesse sein sollte. Ja? Alles klar, dann bis gleich. Aber Marvin? Bitte beeil dich. Geh gleich los. Du weißt ja, die beiden Mamas können wegen Tom nicht lange aufbleiben und sind immerfort müde. Aber der Kleine schläft eh schon. Also keine Sorge. Kurze Besprechung also, ja? Fein. Dann bis gleich. Und Marvin? Nimm dir ein Taxi und lass dir eine Rechnung geben. Die Grohlinger soll es bezahlen. Okay? Bis gleich also.«

Ich lege auf, gehe zurück ins Kinderzimmer. Das Schreien wird mit jeder Tür, die ich öffne, lauter. Tom zieht sich an den Stäben des Gitterbetts hoch und streckt mir, als er mich sieht, die Hände entgegen. Ich hebe ihn heraus, gehe mit ihm ins Wohnzimmer, dimme das Licht, schalte das Radio ein. Tom schreit. Ich wechsle den Sender. Tom schreit. Ich schalte das Radio wieder aus. Tom schreit. Ich drehe mich mit ihm im Kreis. Tom schreit. Ich lege ihn auf den Schafwollteppich, greife nach einer Rassel. Ich schüttle das Ding. Tom schreit. Da fällt mir ein, dass ich ihm ein Wasser anbieten könnte. Ich biete ihm ein Wasser an. Er dreht den Kopf weg. Hätte auch nichts anderes erwartet. Konsequentes Handeln kann man ihm nicht absprechen.

Es klingelt. Marvin? Das ging aber schnell. Tom lasse ich alleine im Wohnzimmer, laufe durch den Flur und betätige den Türknopf. Ich atme ein, ich atme aus, blinzle. Schon steht der Ghostfather in der Tür. Bussi links, Bussi rechts, Bussi … wollte er mir gerade eines auf den Mund geben? Ich schiebe den Kopf nach hinten, runzle die Stirn.

»Spaß«, sagt Marvin. »Ist doch nur Spaß.«

»Heute nicht«, antworte ich.

»Ist er aufgewacht?«, fragt Marvin.

»Ja«, sage ich, »gerade eben.«

Ich drehe mich um und gehe schnellen Schrittes zurück ins Wohnzimmer. Tom ist inzwischen auf einen Holzstuhl gekraxelt, steht mit seinen kleinen süßen Füßchen knapp vorm Abgrund und schreit. Ich eile zu ihm, nehme ihn in den Arm und bemerke, dass mir der Schweiß von den Schläfen rinnt. Marvin erscheint im Wohnzimmer. Als Tom ihn sieht, brüllt er gleich noch lauter. Klar, Marvin ist für ihn ein Fremder. Fast hätte mir diese Diskrepanz ein Lächeln aufgezwungen. Marvins Gesichtszüge deuten darauf hin, dass er durch Toms Weinen persönlich verletzt sein dürfte. Als wenn das Kind von sich aus zu wissen hätte, dass sein leiblicher Vater vor ihm steht. Als wenn er ihm durch freundliches Lächeln Respekt zollen müsste.

»Wo ist Sue?«, fragt Marvin.

»Nicht da«, sage ich. »Jen auch nicht, falls das deine nächste Frage gewesen wäre.«

»Was soll das?«

»Ich bin da«, sage ich. »Sue und Jen haben ein Rendezvous mit Wolfram Lotz. Ich habe dich belogen. Sorry. Haha. Vor dir steht die heutige Babysitterin.«

»Wie meinst du das?«, zischt er. »Und warum hast du mich hierhergelockt?«

»Du wolltest ihn doch einmal halten«, sage ich. »Tadaa! Jetzt hast du die Gelegenheit deines Lebens. Kleiner Tipp: Riech mal an Toms Scheitel. Dort, wo es weich ist zwischen seinen Schädelplatten. Das geht ab wie Poppers, sag ich dir.«

»Was redest du für einen Schwachsinn?«, fragt Marvin und fügt nach einer kurzen Pause, in der Tom herzzerreißend losheult, hinzu: »Du hast mich angerufen, weil du nicht mehr weiterweißt, habe ich recht?«

»Ich wüsste nicht, dass ich jemals nicht weitergewusst hätte«, entgegne ich und drücke ihm den Schreihals in die Arme. Tom weiß zuallererst nicht, wie ihm geschieht. Marvin ebenso wenig. Kurzzeitig nimmt seine Gesichtsfarbe dieselbe dunkle Rötung an wie die von Toms Schreikopf. Er setzt sich mit ihm im Schneidersitz auf den Teppich, der sich, wie ich nun bemerke, da ich mich ebenso niederlasse, unverschämt weich anfühlt. Es dauert keine Minute, und Marvin heult mit Tom um die Wette. Ghostfather und leiblicher Sohn. Ein berührendes Bild. Ich hätte ihn aufnehmen sollen, den first contact. Ich erinnere ihn an den Geruch des Scheitels. Marvin riecht daran. Da heult er umso lauter. Eine wunderbare Kakophonie, die die beiden aus ihren Lungen hervorpressen. Tom dürfte vom Geplärre seines erwachsenen Gegenübers verwirrt sein, denn mit einem Mal hört er auf zu weinen und schaut Marvin mit großen, feuchten Augen an. Marvins Oberkörper zuckt noch ein paar Mal, während er Toms Blick auffängt, als wäre es das Kostbarste, das er je in seinem Leben empfangen durfte. Marvin wischt schließlich Toms Tränen von den Wangen, der es, ohne sich zu bewegen, geschehen lässt.

»Ich bin dein Papa«, sagt Marvin plötzlich, zieht ein Taschentuch aus dem Hosensack und schnäuzt hinein.

»Mama«, sagt Tom.

»Nein«, sagt Marvin. »Nicht die Mama. Papa.«

»Mama«, sagt Tom.

»Es gibt keinen Papa in seinem Leben«, erkläre ich. »Schon vergessen? Und es gibt auch keine echte, keine leibliche Mama. Die gibt es auch nicht. Es gibt die Tante Regina. Die gibt es. Und unter uns, wenn du darauf bestehst, den Onkel Marvin. Ich weiß auch nicht, was vorhin in mich gefahren ist.«

»Wovon sprichst du?«, fragt Marvin.

»Ach, nichts. Ich rede nur mit mir selbst.«

Marvin zuckt mit den Schultern, lässt Tom mit seinem Blick nicht los, lächelt ihm zu. Da lächelt Tom kurz zurück.

»Hast du … hast du das gesehen?«, fragt Marvin und dreht mir den Kopf zu. »Er hat mich gerade …«

»Ich habe nichts gesehen«, unterbreche ich ihn. »Du musst bald wieder gehen. Eigentlich sofort.«

»Ich weiß«, sagt Marvin, sieht mich an und fügt hinzu: »Danke.«

»Wofür?«

»Na, du weißt schon.« Er deutet in Toms Richtung.

»Nicht der Rede wert«, sage ich und verschweige, dass ich ihn in der Tat angerufen habe, weil ich nicht mehr weiterwusste.

Jemand klimpert mit Schlüsseln. Jemand sperrt die Wohnungstür auf, öffnet sie. Mein Herzschlag stolpert, fällt zu Boden. Ich schlucke, werfe ein kurzen Blick auf die Armbanduhr. Viel zu früh. Sie dürften noch nicht heimkommen. Das Stück läuft doch noch. Was zum …? Fuck. Marvin schaut mich erschrocken an. Ich denke an klischeetriefende Filmszenen, in denen der Liebhaber sich unter dem Bett oder im Kleiderschrank versteckt. Aber dafür ist es zu spät. Okay, es ist so weit: Ich möchte sterben. Nur für eine Stunde. Dann wieder aufwachen, auf meiner eigenen Couch, in meiner eigenen Wohnung. Warum höre ich niemanden reden? Jemand zieht sich die Schuhe aus. Schritte im Flur.

»Na?«, fragt Sue. »Schläft der Kleine brav in seinem …« Mitten im Satz hält sie inne, bleibt, als hätte sie jemand mit einem Zauber eingefroren, in der Wohnzimmertür stehen.

Ich schaue zu Marvin, Marvin schaut zu Tom. Tom, der noch immer auf Marvins Schoß sitzt, schaut zu seiner Mami, lächelt bis über beide Ohren, löst sich aus Marvins Schoß und krabbelt sofort auf sie zu. Sue sagt nichts. Sieht uns beide einfach nur an. Zuerst mich, dann Marvin, dann wieder mich. Geht in die Knie, nimmt Tom hoch und gibt ihm einen Kuss auf die Wange. Dann noch einen. Sie sieht wieder uns beide an, nicht lange, aber lange genug, um uns die Gelegenheit zu geben, uns so richtig schlecht zu fühlen, dreht uns den Rücken zu, geht mit Tom ins Kinderzimmer und zieht hinter sich die Tür zu, dass es kracht. Tom beginnt sogleich wieder zu schreien. Warum musste Sue auch so laut sein und Tom erschrecken? In ihrem Blick eben lag Unverständnis, Verletztheit, Wut, Angst, Hass und noch ein paar andere, nicht sehr angenehme Dinge. Wo ist überhaupt Jen?

»Ich denke, ich gehe dann mal«, murmelt Marvin und verzieht dabei den Mund, als hätte er einen Krampf im Unterkiefer.

»Ich denke, dass das eine sehr gute Idee ist«, antworte ich. »Falls wir uns nicht mehr wiedersehen sollten, liege ich ab morgen am Zentralfriedhof. Bloß schade, dass mein Ruhm für ein Ehrengrab nicht reicht.«

»Du wirst es ihr schon erklären«, sagt Marvin. »Sie wird es verstehen. Oder soll ich lieber hierbleiben?«

»Bitte geh«, fordere ich ihn auf. »Die Erwachsenen müssen ein Wörtchen miteinander reden, ja? Kein Platz für Kinder.« Marvin sagt nichts, schüttelt den Kopf, verlässt das Wohnzimmer, zieht sich im Flur die Schuhe an, stöhnt, als würde es sich dabei um einen Extremsport handeln, und zieht kurz danach die Wohnungstür leise hinter sich zu. Langsam frage ich mich, ob es die einzige Art ist, wie Marvin eine Wohnung verlassen kann. Alleine. Und immer im Dissens.

Ich stehe auf, schreite zur Kommode, betrachte die Glasschale, in der sich allerlei Kekse und Süßigkeiten befinden, greife, ohne Acht zu geben, welches Leckerli – und wie viele – ich erwische, in die Schale und stopfe sie mir alle auf einmal in den Mund. Ich schlucke sie hinunter, ohne sie vorher zu zerbeißen. Da bleibt ein großer Klumpen in meinem Hals stecken. Ich schnappe nach Luft. Keksteile gelangen in meine Luftröhre. Ich versuche zu husten, doch es gelingt mir nicht, da ich plötzlich nicht mehr atmen kann. Ich sehe mein hochrotes, angespanntes Gesicht im Spiegel, der sich über der Kommode befindet, sehe die Panik in meinem Blick und wie in meinem Augapfel eine Ader platzt. Ich gehe in die Knie, klopfe mir auf den Nacken. Einmal, zweimal, dreimal. Dann kippe ich zur Seite. Mein Körper zuckt. Das Herz kommt aus dem Rhythmus, hört auf zu schlagen. Es feuern die letzten Neuronen. Ich sterbe.