ACHTZEHNTES KAPITEL

Er platzt herein, ohne vorher angeklopft zu haben. Während ich daliege und mich von der Operation erhole. Deshalb kann ich nicht aufstehen und aus dem Raum stürmen, um ihn nicht sehen zu müssen. Weil ich nicht die Kraft dazu habe. Aber auch deshalb nicht, weil ich hier keine Rechte habe – auch nicht das Recht, ihm einen Besuch am Krankenbett zu verweigern.

»Wer sind Sie?«, fragt Zhara empört. »Können Sie nicht wenigstens vorher anklopfen?«

»Das ist der Governor«, sage ich.

Der Governor sieht erst mich, dann Zhara an. »Eine First. Die noch am Leben ist«, sagt er. »Das ist abstoßend. Gegen die Gesetze der Natur.« Der Governor sieht aus, als wäre er in der kurzen Zeit, in der wir uns nicht gesehen haben, um ein Jahrzehnt gealtert. Er hat erheblich zugenommen, sein Gesicht ist aufgedunsen, mit einem bösartigen Zug um die Mundwinkel. Auch seine Haare sind dünner geworden. Als er auf uns zustürmt, steht Zhara auf und stellt sich beschützend vor mich, um zu verhindern, dass er mir zu nahe kommt.

»Bleiben Sie da stehen!«, befiehlt sie ihm.

»Du erteilst hier keine Befehle, First«, erwidert er spöttisch. »Ich habe die Erlaubnis zu einer fünfminütigen Audienz bei diesem Monster. Dass ich überhaupt darum bitten musste, ist eine unerträgliche Verkehrung der Idee von Gerechtigkeit.« Eine Audienz, hat er gesagt. Nicht Rückkehr in sein Haus. Vielleicht überlebe ich Demesne ja doch. Vielleicht werde ich doch nicht zu ihm zurückgeschickt. Eine Audienz überstehe ich, wenn sie alles ist, was ich erdulden muss – eine feindselige Begegnung zwischen ihm und mir. Wenn ich nicht wieder seine Sklavin sein muss. Er wirft mir einen harten, feindseligen Blick zu. Verbittert sagt er: »Du hast unseren Sohn ermordet und ReplikaPharm verurteilt dich zu einem Hausarrest hier in diesem Paradies. Du solltest für das, was du getan hast, erhängt werden.«

Ruhig antwortet Zhara: »Sie sollten sich schämen für das, was Ihr Sohn meinem Klon angetan hat. Er hat sie vergewaltigt. Mit Ihrer Billigung.«

»Mich schämen?«, wiederholt der Governor. »Sie war unser Eigentum. Sie ist keine richtige Person. Kein Mensch. Wir hätten mit ihr alles tun können, was wir wollen. Aber wir waren nett zu ihr. Wir haben ihr ein Heim geboten und sie hat es uns entgolten, indem sie unseren Sohn getötet hat.«

»Aber es war Notwehr!«, ruft Zhara.

»Sie hatte nicht das Recht, sich gegen irgendwas zu wehren!«, brüllt der Governor.

Ich bin noch erschöpft von der Narkose. Ich will nicht mit dem Governor streiten müssen. Ich hätte sein triefnasiges Gesicht am liebsten nie mehr wiedergesehen. Mein Herz hämmert vor Angst. Wenn Zhara bloß aufhören würde, von Ivan zu reden. Dadurch wird der Governor noch feindseliger gestimmt.

Er beachtet Zhara nicht weiter, geht an ihr vorbei und baut sich am Fußende meines Bettes auf. »So lange, bis die Übergabe der Insel an ReplikaPharm vollständig geregelt ist, bin ich hier noch der Verwaltungschef. Dann ist es für mich vorbei. Du hast meine Karriere ruiniert. Ich habe dieser Übergangsvereinbarung mit den Besitzern von Demesne nur deshalb zugestimmt, damit ich lange genug hierbleiben kann, um sicher zu sein, dass du die Insel nicht lebend verlässt.«

Er jagt mir große Angst ein, aber das braucht er nicht zu wissen. Mein Chip teilt mir die Reaktion mit, die ihn am meisten ärgern wird. Gleichgültigkeit. »Wo sind denn Mutter und Liesel?«, frage ich in plauderndem Tonfall. »Wie geht es ihnen?«

Er läuft knallrot an. »Das ist hier kein Kaffeekränzchen, bei dem man sich den neuesten Klatsch erzählt. Aber du sollst wissen, wo sie sind, damit du auch weißt, wo sie feiern werden, wenn du für deine Tat zur Rechenschaft gezogen wirst und unsere Familie die Genugtuung erfährt, die ihr zusteht. Mutter und Liesel sind auf das Mainland zurückgekehrt, wo sie bei Mutters Schwester wohnen. Liesels Angstzustände haben sich ins Unerträgliche gesteigert, seit sie mitansehen musste, wie ihr Bruder getötet wurde. Sie konnte nicht länger auf Demesne leben. Wegen dir habe ich nicht nur Ivan verloren, sondern auch noch Liesel. Du hast mir zwei Kinder genommen.«

Jetzt ist der richtige Zeitpunkt für eine unverschämte Antwort. »Keine Sorge, es gibt einen Ersatz, ein neues Kind für Ihre Familie«, erwidere ich. »Es wurde mir gerade entfernt und in eine künstliche Gebärmutter verpflanzt. Das können sie gern haben! Ich will es nämlich nicht. Ihr Sohn ist der Vater.«

Volltreffer.

Wütend macht der Governor zwei große Schritte an die ungeschützte Bettseite, dorthin wo Zhara nicht steht. Er stürzt sich auf mich und umfasst meinen Hals mit beiden Händen. Genauso hatte auch Ivan mich töten wollen. Nur dass ich damals ein Messer unter meinem Kopfkissen versteckt hatte. »Ich bring dich um, Beta!«, ruft er.

Das Ganze geschieht so schnell und überraschend, dass ich tatsächlich befürchte, zu sterben. Aber Zhara stößt einen markerschütternden Schrei aus – einen Schrei, wie ich ihn aus meiner strangulierten Kehle nicht mehr zustande brächte. Weil sie an der anderen Bettseite steht, weiß sie kein anderes Mittel, um den Governor aufzuhalten, als sich vorzubeugen und ihn ins Handgelenk zu beißen. Sie tut das mit aller Kraft. Seine Hände zucken zurück und lösen sich von meinem Hals. Über den Unterarm des Governors läuft Blut. Ich schnappe nach Luft. Bin wütend auf meinen geschwächten Körper, der unfähig war, sich zu wehren. Zum Glück war Zhara bei mir und hat mir geholfen.

Zwei Android-Soldaten von ReplikaPharm stürmen in den Raum und zielen mit ihren Gewehren auf den Governor.

Er hält die Hände hoch, weicht vom Bett zurück und bewegt sich in Richtung Tür. »Alles gut, Soldaten! Beruhigt euch. Ich hatte meine Audienz. Wir sind miteinander fertig, die Beta und ich.« Er geht von den Soldaten flankiert zur Tür, dreht sich noch einmal um und deutet mit dem Zeigefinger auf mich. »Die früheren Eigentümer von Demesne hätten kein Problem damit gehabt, wenn ich dich erdrosselt hätte. Sie hätten es sogar gefordert! ReplikaPharm mag es mir untersagen, gerichtlich gegen dich vorzugehen, aber ich schwöre dir, ich werde dich umbringen, du Hure – und wenn es das Letzte ist, was ich auf dieser Insel vollbringe.«

Zhara geht zur Tür und stößt sie weit auf, damit die beiden Soldaten und der Governor hindurchpassen. »Könnte gut sein, dass ich vorher Sie umbringe«, sagt sie. »Und jetzt raus hier!«

Sie verlassen den Raum. Die Android-Soldaten scheinen unbeeindruckt von der Drohung des Governors zu sein, was deutlich für die veränderten Machtverhältnisse auf der Insel spricht. Dass ich noch am Leben bin und der Governor nur noch für kurze Zeit auf der Insel bleiben darf, um ein paar letzte Verwaltungsangelegenheiten zu regeln, beweist mir: Ich bin für die Wissenschaft wichtiger als seine Dienste oder seine Wut.

Wie ermutigend für die Rebellion.