ZHARA

NEUNUNDZWANZIGSTES KAPITEL

Wieder einmal habe ich Dads Mantra im Ohr: Stell dich gut mit deinen Freunden, aber noch besser mit deinen Feinden. Bahiyya Fortesquieu ist eine merkwürdige Kombination aus beiden. Sie ist liebenswürdig und großzügig. Dabei will sie uns gleichzeitig bei allem kontrollieren, was wir tun, und respektiert unsere Privatsphäre nicht. Das ist mir klar geworden, als ich mich im Schrank versteckt hielt, während sie das Zimmermädchen unter dem Bett nach einem Ring suchen ließ, den sie angeblich verloren hatte und Elysia schenken wollte. Wahrscheinlich ist sie nicht viel anders als jede andere überfürsorgliche Mutter, die sich in alles und jedes einmischt – aber für uns geht es gerade um sehr viel. Wir haben eine Rebellion durchzuführen, und zwar erfolgreich. Bahiyya könnte insgeheim unsere Verbündete sein (denn letztlich will sie nur das Beste für Tahir – das, was ihn glücklich macht) oder aber unsere schlimmste Feindin (weil sie davon überzeugt ist, dass nur sie weiß, was gut für ihn ist). Um herauszufinden, was von beidem eher zutrifft, gibt es nur einen Weg: sie besser kennenzulernen.

Ich suche im Garten nach ihr. Elysia hat mir erzählt, dass das Bahiyyas Lieblingsort ist. So etwas wie ihr Heiligtum. Inzwischen habe ich mich so an den Anblick durchtrainierter, hart arbeitender, überattraktiver Klone mit tätowierten Schläfen und fuchsiafarbenen Augen gewöhnt, dass ich überrascht bin, hier auf dem Anwesen eine Gärtnerin mit langen grauen Haaren, einer leicht pummeligen Figur und braunen Augen in einem nicht mehr faltenfreien Gesicht anzutreffen. Es ist Bahiyya. »Sie kümmern sich selbst um Ihren Garten?«, frage ich. Sie kniet gerade neben einem Beet mit korallenroten Fackellilien, eine große Gartenschere in der behandschuhten Hand.

Bahiyya lächelt mich an. Es ist ein mütterliches Lächeln, warm und herzlich. »Ja«, sagt sie. »Ich mag es, im Garten zu arbeiten. Das ist für mich wie eine Meditation. Der Garten ist ein so friedlicher, himmlischer Ort.«

»Passen Sie bloß auf«, sage ich, »mit dem himmlischen Frieden der Fackellilien ist nicht zu spaßen.« Kaum habe ich es gesagt, bereue ich es. Ob man sich gegenüber einer so vornehmen und bedeutenden Dame solche Bemerkungen erlauben darf?

Zum Glück lacht sie. »Keine Sorge. Ich werde aus den Samen kein Raxia herstellen. Und wenn ich es täte, würden diese Blüten Opiate von reinster, höchster Qualität abgeben. Keinen Stoff von so minderer Qualität, wie ihn Ivan geschluckt hat. Das Zeug, das ihn so kaputt gemacht hat. Die Fackellilien hier werden viel sorgfältiger kultiviert als die im Garten des Governors.«

»Meinen Sie Ivan, den Jungen, der Elysia vergewaltigt hat? Er hat sein eigenes Raxia hergestellt?«

»Seine Eltern haben es erst nach seinem Tod rausgefunden, aber so war es wohl. Jeder hier auf der Insel wusste, dass er nicht ganz richtig im Kopf war. Seine Experimente mit selbst angebautem Raxia, das er mit allem Möglichen mischte, haben bestimmt ihre Spuren hinterlassen. Er war von dem Zeug total abhängig, da bin ich mir sicher. Und wenn man süchtig geworden ist, dann verliert das Raxia die beruhigende, aufheiternde Wirkung, die ihm nachgesagt wird. Man wird dann unberechenbar. Gewaltbereit.«

»Ich weiß. Daran bin ich auch gestorben, aber nur für kurze Zeit. Zu viel Raxia. Das hat mich durchdrehen lassen. Ich war unfähig, mich normal zu verhalten.«

Ich möchte, dass sie sich mit mir wohlfühlt. Genauso, wie sie augenscheinlich möchte, dass ich mich mit ihr wohlfühle. Sind wir beide einfach nur aufrichtig – oder bewegen wir uns hier auf einem schmalen Grat?

»Du willst denselben Fehler bestimmt nicht noch einmal machen«, sagt sie.

Ich schüttle den Kopf. »Nein.« Und ich glaube auch daran, als ich es sage. Aber ich weiß: Ich kann es nur versuchen, jeden Tag von Neuem. Garantieren kann ich es nicht. Mein Herz krampft sich zusammen, als ich an Aidan denke und wie er für mich jede Versuchung, wieder in diese Abhängigkeit zurückzufallen, kurzerhand beseitigt hat. So sehr hat er sich um mich gesorgt. Aidan. Er hätte ein besseres Schicksal verdient, als sein Leben bei einer im Keim erstickten Rebellion zu verlieren. Er hätte eine echte Partnerin verdient. Die hätte ich ihm sein sollen. Seine Geliebte und seine Mitkämpferin. Eine wahre Gefährtin, keine Bettgenossin, die ihn bloß ausnutzt. Ich wage nicht zu hoffen, dass er noch lebt. Oder doch?

»Könntest du mir vielleicht einen Gefallen tun?«, fragt Bahiyya.

»Gerne«, sage ich. Mir liegt alles daran, mich ihr gegenüber freundlich und hilfsbereit zu verhalten. Wenn mein Dad mich früher bat, irgendetwas für ihn zu tun, war meine übliche Antwort darauf, die Augen zu verdrehen, mit den Schultern zu zucken und ein paar Flüche vor mich hinzumurmeln. Jetzt sitzt mein Dad in einem Gefängnis der Uni-Army – wenn er noch am Leben ist – und ich bin im Paradies gestrandet. Ich würde auf jeden einzelnen Atemzug der himmlischen Luft von Demesne verzichten, wenn ich meinen Vater nur noch ein einziges Mal wiedersehen und ihm sagen könnte: Ich weiß, dass es so gewirkt hat, als würde ich dich nicht mögen. Aber das stimmt nicht. Und ich weiß, dass du in deiner erdrückenden, kontrollierenden Art dasselbe für mich empfunden hast. Danke, Dad.

»Von einer der Familien, die mit uns hier auf Demesne gelebt haben, ist ein Mädchen immer noch hier«, sagt Bahiyya. »Sie heißt Demetra. Demetra Cortez-Olivier. Sie hatte schon immer ihren eigenen Kopf. Ein entzückendes Kind, aber ein richtiger Wildfang.«

»Ich wusste nicht, dass hier auf der Insel noch Familien von früher geblieben sind.«

»Demetra ist die Einzige und es ist auch nur sie, sonst niemand aus ihrer Familie. Das mit den Klonen und Demesne ist so etwas wie eine fixe Idee von ihr. Aber was kann man schon anderes erwarten, wenn man sein Kind von Klonen aufziehen lässt? Sie hat sich schlicht geweigert, die Insel zu verlassen, als alle anderen ihre Anwesen an ReplikaPharm verkauft haben.«

»Dann lebt sie hier allein?«

»Sie lebt mit ihren Klonen in der Villa ihrer Familie. Völlig abgeschieden von der Welt. Freiwillig, so sagen jedenfalls ihre Eltern. In Wahrheit wissen sie einfach nicht, was sie mit dem Mädchen anstellen sollen, das ist meine Meinung. Lieber packen sie ihr eigenes Kind irgendwohin weg, als sich um Demetra zu kümmern. Ich finde das unverantwortlich. Aber sie hatten schon immer Probleme mit ihrer Elternrolle. Sie wollten ein Püppchen, keine Person.«

»Sie wollten eine Elysia. Die brave, fügsame Version.«

»So habe ich das noch nie betrachtet, aber stimmt, da hast du ganz recht.« Dann fährt Bahiyya fort: »Bald werden wir es Tariq zu verdanken zu haben, dass Eltern die Teenager bekommen, die sie sich wünschen. Dann braucht es keine solchen Klone mehr.«

»Wie meinen Sie das?«

»ReplikaPharm arbeitet an einem Produkt, von dem sie sagen, dass es revolutionär sein wird«, lautet ihre einzige Erklärung. »Tariq wird für die Welt das zweite Mal der große Held sein. Bis es so weit ist, werden sich Demetras Eltern weiter mit ihr herumschlagen müssen. Oder vielleicht sollte ich besser sagen: Ihre Klone müssen sehen, wie sie mit ihr zurechtkommen.«

»Klingt für mich so, als könnte man mit Demetra viel Spaß haben.« Was Bahiyya mir über Demetra erzählt, klingt anders als alles andere, was ich bisher über die Bewohner der Insel gehört habe. Wo die üblichen Klone zwar alle umwerfend gut aussehen, aber sich kaum voneinander unterscheiden. Und wo die Menschen, die jetzt dort leben, nichts anderes als Konzernklone sind. Bahiyyas Beschreibung von Demetra klingt, als würde durch die reine Luft von Demesne eine erfrischend giftige Brise wehen.

»Spaß haben? Ja, vermutlich kann man es so nennen. First Tahir und seine Freunde hatten ihr den Spitznamen Demenzia gegeben. Nicht gerade nett, aber ich glaube, es war liebevoll gemeint. Sie haben sie alle sehr gern gemocht, die ganze Clique: First Tahir, Farzad, Greer, Ivan, Astrid. Ich habe Demetras Eltern versprochen, ab und zu mal bei ihr vorbeizuschauen. Aber um ehrlich zu sein, fühle ich mich in ihrer Gegenwart immer etwas unwohl. Wenn sämtliche Sicherheitsüberprüfungen abgeschlossen sind, wird sie vermutlich die Insel lieber verlassen, als ständiger Überwachung ausgesetzt zu sein. Dann bin ich diese Verpflichtung los. Vielleicht könntest du sie ja mit Alexander besuchen? Dann siehst du zugleich auch noch etwas mehr von der Insel. Wenn ihr bereit wärt, mir diesen Gefallen zu tun, würde ich euch eine Erlaubnis ausstellen, damit das Luftmobil euch zu ihr bringt.«

»Na klar, sehr gerne«, sage ich. Bahiyya hat mir wieder in Erinnerung gerufen, dass wir hier inoffizielle Gefangene sind und nur mit Erlaubnis unserer Gastgeber das Anwesen verlassen dürfen. Und dass uns nicht mehr viel Zeit bleibt, um zu handeln.