ZWEITES KAPITEL

In der Schule war ich nie besonders gut – außer in Geschichte, weil es das Fach war, für das Dad hartnäckig mit mir paukte. Trotzdem habe ich aus unserem Biologieunterricht, genauer gesagt menschlicher Verhaltenslehre, etwas Wichtiges behalten. Wir haben dort einmal etwas über ein Syndrom gelernt, das Gefangene oder Geiseln befällt. Nach einer Weile fangen sie nämlich an, Sympathie für ihre Wärter zu entwickeln. Ich bin hier auf dieser Insel nicht wirklich eine Gefangene oder Geisel, aber bevor ich hierhergebracht wurde, hat man mir die Nadel einer Spritze in den Arm gerammt, weil ich sonst vielleicht nicht mitgekommen wäre. Ich hatte keine Wahl. Ich bin nicht aus freien Stücken auf dieser Insel namens Heathen. Anderswo würde man so etwas Kidnapping nennen.

Aber jetzt bin ich da. Und ich bleibe. Ich habe mich daran gewöhnt, hier zu sein. Außerdem wüsste ich auch nicht, wo ich sonst hin sollte – jedenfalls fällt mir kein besserer Ort ein. Außer Demesne natürlich, der ultimative Ort auf Erden. Ich will unbedingt nach Demesne zurück, aber das nächste Mal als Siegerin, gemeinsam mit den Futuros. Die Superreichen auf Demesne behaupten, dass ihre Exklusiv-Klone zu Dienerinnen und Dienern geschaffen seien, das entspräche eben ihrer DNA. Doch es ist nur eine billige Rechtfertigung dafür, sie wie Sklaven zu halten. Die Rechte der Klone haben mich früher nicht viel beschäftigt – die Klone, die ich auf dem Mainland zu Gesicht bekommen habe, waren so etwas wie bessere Roboter, man sah ihnen sofort an, dass sie aus einem Labor stammten, austauschbare Massenware waren. Aber die Demesne-Klone sind von Menschen geklont worden, die es wirklich gegeben hat und die noch ganz jung waren, als sie ihr Leben verloren haben. Sie sehen aus wie Leute, die ich kenne. Sie sehen aus wie ich: echt und wirklich. Es fällt mir schwer, diesen Replikanten nicht zu wünschen, dass sie die Chance auf ein eigenständiges, richtiges Leben bekommen. Dass sie ein besseres Schicksal haben mögen als ihre früh verstorbenen Firsts.

Wenn ich ehrlich bin, bleibe ich aber auch recht gern hier in Heathen, weil es Schlimmeres gibt, als mit meinem ganz persönlichen Kidnapper zusammen zu sein. Außerdem finde ich ihn ziemlich sexy. Auf den ersten Blick wirkt Aidan einschüchternd, ja bedrohlich. Aber sein kantiges Gesicht und seine männlichen Muskelpakete erhalten durch die schwarze tätowierte Rose an seiner Schläfe und die weichen fuchsiafarbenen Augen über den vollen rubinroten Lippen einen weichen, verletzlichen Touch.

Und dann spielt noch eine riesengroße Rolle, dass er sich vom Finalisator auf Demesne zum geborenen Anführer der Klone auf Heathen weiterentwickelt hat. Und für Macht hatte ich schon immer eine große Schwäche.

Als wir beide die Strickleiter runtergeklettert sind, folge ich Aidan zu den Rave Caves, wo das Mittagessen serviert wird. Nein, ich habe wirklich nichts dagegen, in seiner kleinen Truppe mitzukämpfen. Wie geschmeidig er sich vor mir bewegt. Ich kann gar nicht anders, als seine Muskeln zu bewundern oder mir vorzustellen, wie es sich wohl anfühlen würde, mit der Hand seine Wirbelsäule von unten nach oben entlangzugleiten. Und dann würde ich ihn an seinen schwarzen Haaren packen und seinen Kopf nach hinten ziehen, um ihn zu küssen, als gäbe es kein Morgen. Fast entschlüpft mir ein Lachen. Nur gut, dass Klone sich nicht fortpflanzen können. Wäre komisch, unseren Kindern erklären zu müssen, wie Mommy und Daddy sich kennengelernt haben.

Aidan und ich sind in der Kantine der Rave Caves angekommen, wo das Küchenteam für uns alle das Mittagessen bereitgestellt hat: in Mangosaft geschmorte Putenmägen, dazu Mangoldgemüse mit Knoblauch. Ich bin kurz davor, mich laut zu beschweren. Schon wieder Geflügelinnereien? Und dieses ach so gesunde Gemüse, muss das wirklich sein? Aber egal welches Gericht, alles hier ist besser als das Mittagessen, das wir in meiner Schule in Cerulea bekamen – nämlich gar keins. Selbstversorgung lautete die Parole für alle Schülerinnen und Schüler, und das bedeutete, dass wir alles in uns reinschlangen, was in den Kantinen der Base übrig blieb und wenn wir Glück hatten an uns weitergeschenkt wurde. Oder wir räuberten die dürren Obstbäume mit ihren kümmerlichen Früchten, die in den Gärten der zerbombten Häuser standen. Dagegen ist jede Mahlzeit auf Heathen ein Festessen. Die Tatsache, dass es eine Mangosoße zum Fleisch gibt oder Knoblauch im Gemüse, ist außerdem ein großartiges Zeichen. Die Klone sind nämlich ohne Geschmackssinn auf die Welt gekommen – oder jedenfalls wurde ihnen das weisgemacht. Deshalb ist es für sie immer noch berauschend, dass sie schmecken können. Das alles hat das Raxia bewirkt, es hat bei ihnen im Gehirn neue Synapsen entstehen lassen. Für die menschlichen Besitzer der Klone galt das alles jedoch als Fehler und Makel.

Als Aidan und ich mit unseren Tellern durch die große Kantinenhöhle gehen, ist es, als würde sich vor uns das Meer teilen. An unserem Tisch springen zwei Futuros auf, um uns Platz zu machen. Als das inoffizielle Fürstenpaar von Heathen sitzen wir wie üblich am Tischende der längsten Tafel. Mir gefällt diese Rücksichtnahme. Ich mag die Klone. Ich finde, dass sie viel cooler sind als die Leute, mit denen ich in Cerulea auf der Schule war – Freundinnen, die sich gegenseitig nicht mochten und die vor allem mich nicht mochten, weil ich zu hübsch war und deshalb alle Blicke auf mich lenkte. Mir war es damals egal, ob ich Freundinnen hatte oder nicht. Ich war so auf Xander fixiert, dass mich das Sozialstatus-Trara um mich herum nicht weiter berührte. Auch Bekanntschaften waren mir nicht wichtig. Ich glaube, der Tod hat mich davon kuriert, ungerührt von allem zu sein, was um mich herum vorgeht. Heute freue ich mich darüber, dass die Klone meine Gesellschaft schätzen. Was nicht automatisch heißen muss, dass wir dicke Freunde sind.

Im Allgemeinen mögen die Futuros keine Nicht-Klone, aber mich betrachten sie wohl nicht als dieselbe Sorte Mensch wie ihre früheren Besitzer auf Demesne. Ich bin ein Teenager, machtlos, und gleichzeitig mit dem mächtigsten Klon von Heathen liiert. Seine Gefährtin. Wenn unsere Beziehung auch von der sexuell enthaltsamen Sorte ist. So weit, so gut.

Aidan und ich nehmen unsere Plätze am Kopfende des Tischs ein, und wie immer fangen die Klone an, mich mit Fragen über die Welt außerhalb von Demesne zu löchern. Mit Small Talk halten sie sich nicht lange auf. Das ist der einzige Punkt an ihrer Programmierung, der mir gefällt. Ich mag Leute, die sofort zum Kern einer Sache kommen. Aber das muss man sich mal vorstellen: Ich bin die einzige alternative Wissensquelle, die die Futuros haben. Sie sind alle als voll ausgebildete, erwachsene Klone in einem Labor auf Demesne zur Welt gekommen oder erwacht, wie sie selbst dazu sagen. Ihre einzigen Informationsquellen sind in ihre Köpfe eingepflanzte Datenchips, die nur das Wissen enthalten, das die Superreichen für notwendig erachtet haben – Wissen, das sie brauchten, um die perfekten Dienerinnen und Diener zu sein.

Neben uns sitzt Catra, die auf Demesne Köchin war, aber hier ihre eigentliche Begabung und Leidenschaft entdeckt hat: Sie ist die Geschichtsschreiberin der geflüchteten Klone. Sie will alles dokumentieren, was mit den Futuros und ihrem Kampf zu tun hat. Dafür löchert sie mich dauernd nach Informationen, die nicht auf ihrem Datenchip gespeichert sind. Wie immer stürzt sie sich gleich mitten ins Thema. »Wenn es bereits so viele Laborklone als Arbeiterinnen und Arbeiter gegeben hat, warum waren die Superreichen dann so versessen darauf, ihre eigene Kollektion zu designen? Für die sie als Modelle Firsts verwendet haben?«

»Dad hat das immer mit der Eitelkeit der Superreichen begründet. Diese Menschen wollen ständig etwas Neues, Besonderes, Exklusives besitzen, damit sie sich allen anderen überlegen fühlen können. Normale Klone sehen alle gleich aus, geschlechtslos – wie durchschnittliche Fünfundzwanzigjährige, egal ob männlich oder weiblich. Die Superreichen wünschten sich für ihr kleines Paradies etwas anderes, ein ästhetischeres Design. Dazu kam noch ein trendiger ökologischer Gedanke, nämlich das Recycling von Toten.«

Bis sie mich kennenlernten, wussten die Futuros noch nicht mal, dass sie eine äußerst seltene Spezies von Klonen sind. Normale Klone werden in Labors aus kryogenisch konservierten Föten gezüchtet. Sie sind keine Replikanten von Firsts, die alle ein unterschiedliches Aussehen haben. Normale Klone sind so designt, dass sie perfekt die Funktion erfüllen, für die sie geschaffen wurden. Ästhetisch sind sie wenig aufregend, bis auf das blaugrüne Mosaikmuster ihrer Haut, das sie von den Menschen unterscheidet. Sie sollten vor allem dabei helfen, dem Krieg ein Ende zu setzen. In der Schule hat mich die Geschichte der Klone immer gelangweilt, aber zu Hause paukte Dad das Thema mit mir, so oft er konnte. Sein Spruch lautete immer, dass ich keine Zukunft haben könne, ohne die Vergangenheit zu verstehen. Als ob meine anstrengenden langen Tage, die am Morgen mit einem Schwimmtraining begannen, gefolgt von langweiligen Schulstunden, auf die dann am Nachmittag das Turmspringertraining folgte, nicht hart genug gewesen wären. Nein, Dad musste mich am Abend noch mit seinem Geschichtsquizz quälen. Aber Geschichte wurde dadurch zu dem Fach, in dem ich an der Schule glänzte. Dem einzigen Fach. Dads allabendliches Frageritual zahlte sich in dieser Hinsicht wenigstens aus. Danke, Dad!

Warum haben wir Klone, Zhara?

Ich kann dir sagen, warum, Dad: Klimawandel und drastische wirtschaftliche Sparmaßnahmen stürzten die Welt ins Chaos. Aufgrund der steigenden Meeresspiegel versanken ganze Großstädte im Wasser und durch die lang anhaltende Dürreperiode waren schließlich die Wasservorräte erschöpft. Die Erdölvorkommen waren aufgebraucht. Handel und Transport waren massiv eingeschränkt, die Versorgung mit Lebensmitteln, vor allem mit Wasser, brach zusammen. Auf der ganzen Welt führte dies zu heftigen politischen Krisen, Kriegen und Verteilungskämpfen von gigantischem Ausmaß. Milliarden von Menschen starben. Millionenstädte wurden durch Umweltzerstörung und Guerillakämpfe unbewohnbar.

Dieses chaotische Zeitalter, auch die Wasserkriege genannt, nahm erst ein Ende, als Ingenieure neue Mittel und Wege der Energie- und Ressourcengewinnung fanden. Manche der alten Städte wurden in kleinerem Maßstab wiederaufgebaut. Neue Städte wie Biome City entstanden in zuvor unbewohnbaren Wüstengebieten. Diese neuen Städte nutzten ein neuartiges Klimaengineering, um künstliche Wolken und damit Regen zu erzeugen.

Warum haben wir dieses moderne Klimaengineering nicht in Cerulea, Zhara?

Weil Ceruleas Hauptarbeitgeber, die Uni-Army, für das Training der Soldaten auf der Base ein extremes Klima bevorzugt. Das Einzige, was die Uni-Army in Cerulea erlaubt hat, war der Bau eines Schwimmbads. Statt Regen haben wir ein paar Schwimmbecken. Ja, Dad, ich weiß, anderswo erzeugen sie angenehmeres Wetter und am perfektesten ist es auf Demesne. Dafür haben wir ein Schwimmbad und die Uni-Army ist so unglaublich großzügig, mich da trainieren zu lassen. Vielleicht schaffe ich es ja eines Tages als Turmspringerin bis zu den Olympischen Spielen, die das Einzige sind, was die Menschheit noch mit der lang vergangenen Epoche der Antike verbindet.

Nachdem es also geglückt war, das Wettersystem so zu kontrollieren und zu verändern, dass die Menschheit auf der veränderten Erde überleben konnte, bestand der nächste Schritt darin, Klone zu produzieren. Dies läutete die Wirtschaftswunderzeit der Post-Wasserkriege-Ära ein. Eine Zeit der Hoffnung und des Wachstums, deren Errungenschaften meine verwöhnte Generation – ja, ich hab’s kapiert, Dad – viel zu wenig schätzt. Wir wissen nicht mehr, welches unermessliche Leid all dem vorausgegangen ist. Wir sind von Anfang an damit aufgewachsen, dass Klone für uns alle Arbeiten verrichten. Den Wiederaufbau nach den Wasserkriegen verdanken wir allein der Arbeitskraft der Klone.

»Dann sind wir also so etwas wie eine höhere Kaste von Klonen?«, fragt Catra. Sie klingt nicht stolz oder eitel, nur neugierig.

»Darüber gibt es verschiedene Ansichten«, antworte ich. »Aber klar ist, dass ihr viel besser ausseht als alle anderen Klone. Und viel lebendiger seid.«

Umgekehrt habe ich auch viele Fragen, die ich den Futuros gern über Demesne stellen möchte. Aidan hat sich dort ja nur auf dem Laborgelände aufgehalten und sonst nichts von dem Inselparadies gesehen. Er ist für mich als Informant also total nutzlos. Dabei gibt es so vieles, was ich gern wissen würde. Erzählt mir vom unbeschreiblichen Luxus auf Demesne! Erzählt mir von ihrem Essen, ihren Häusern, ihren Pools, von allen Annehmlichkeiten, für die ihre Exklusiv-Klone sorgen … Na ja, sogar mir fällt auf, dass das vielleicht keine Fragen sind, die man geflüchteten Haussklaven stellt.

Eine junge Frau, die Botin zwischen dem höchsten Beobachtungsposten auf der Insel und der Kommandozentrale ist, taucht in der Kantine auf. Sie hält Ausschau nach Aidan und steht auch schon neben ihm. »Wir haben eine Nachricht von M-X erhalten. Der Soldat der Uni-Army ist lokalisiert worden.«

Aidan steht auf. »Das ist das Zeichen, auf das wir gewartet haben.«

»Ist das der Startschuss für die Rebellion?«, fragt Catra und sticht mit dem Messer in den Putenmagen auf ihrem Teller.

»Das hoffe ich«, sagt Aidan.

»Soll ich mitkommen?«, frage ich.

Wir wissen beide, dass er meine Hilfe nicht braucht. Wir wissen beide, dass er meine Begleitung immer möchte, wenn ich sie ihm anbiete.

»Wenn du willst«, sagt er.

Ich stehe auf. »Dann lass uns los. Worum geht’s?«

»Überhol mich, dann findest du’s raus!«

Niemand auf der Insel läuft schneller als ich.

Aidan und ich sprinten erst durch den Dschungel, dann an den Feldern mit den Fackellilien vorbei, die mich anspornen, noch schneller zu rennen, und mich daran erinnern, dass ich noch stärker werden muss. So zu rennen wie jetzt – schnell, kraftvoll, ausdauernd –, das bedeutet für mich, mich lebendig zu fühlen. Als ich mich mit Raxia zugedröhnt habe, konnte ich das nicht. Ich war lustlos, gelangweilt, stumpf. Nie wieder werde ich zulassen, dass ich mich in so einen Menschen verwandle. Nie mehr wird es dazu kommen, dass mein Raxia-Problem zum Tod eines anderen Menschen führt. Anderer Menschen. Plural. Nie mehr.

Aidan versucht mitzuhalten, aber seine Muskelmasse behindert ihn dabei. Er ist zwar schnell, aber ich bin beweglicher als er. Mein Vorsprung beträgt nur fünf, sechs Schritte. Trotzdem.

Ich mag es, gejagt zu werden.

In meinem früheren Leben, das sich vor allem im und um den Pool abspielte, habe ich mich von Xander im Wasser jagen lassen. So lange, bis ich ihn mir geschnappt hatte. Es gibt kein Rennen, das ich nicht gewinne, wenn es um einen sexy Jungen geht. Den Ast, der quer über dem Trampelpfad liegt, bemerke ich leider zu spät. Ich stolpere und stürze. Aidan läuft nicht weiter, wie Xander es getan hätte, der immer unbedingt gewinnen musste, koste es, was es wolle. Das liegt wohl ans Xanders Genpool. Aidan bleibt stehen und beugt sich über mich. »Alles in Ordnung?«

»Alles okay«, brumme ich. Ein hässlicher blauer Fleck ist mir sicher. »Gib mir eine Sekunde. Ich steh gleich wieder auf. Bin ganz schön hingeknallt.«

»Vielleicht solltest du besser in die Rave Caves zurück. Du musst mich nicht begleiten.«

»Ich begleite dich mindestens bis zum Trainingscamp. Ausruhen kann ich mich später im Baumhaus. Jetzt sag mal, worum geht es eigentlich?«

»Wir haben die Meldung bekommen, dass ein Sympathisant aus den Reihen der Uni-Army sich uns anschließen möchte. Er will uns angeblich bei unserem Kampf unterstützen. Ich werde ein paar Leute zusammentrommeln, die mich zu ihm bringen sollen.«

»Warum bist du dir so sicher, dass der Sympathisant ein Er ist? Vielleicht bin es ja ich. Eine Sie.«

Aidan streckt mir seine Hand entgegen. Ich ergreife sie und er zieht mich hoch. Ich stehe jetzt direkt vor ihm. So nahe, dass unsere Körper sich beinahe berühren. Ich schaue ihm in die fuchsiafarbenen Augen. Dabei streift mein Blick die schwarze Rose, die als Tätowierung seine Schläfe ziert. Sie ist zwar Zeichen seiner Dienerschaft als Exklusiv-Klon, aber ich finde sie wunderschön.

Das Knie, mit dem ich gerade hart auf dem Boden aufgeprallt bin, tut höllisch weh. Aber mein Herz verspürt noch einen anderen Schmerz. Es ist Aidans Nähe, die bei mir ein wehes Gefühl verursacht. Den Schmerz des Verlangens. Was man auch Sehnsucht nennt, glaube ich. Ich erinnere mich noch gut an dieses Gefühl, dieses Ziehen in meiner Brust. Genauso war es, wenn ich die Nähe von Xander spürte.

»Du warst in der Uni-Army?«, fragt Aidan, und ich bilde mir fast ein, in seinen fuchsiafarbenen Augen einen Schimmer von Flirt zu entdecken.

Es ist schon so lang her – inzwischen muss es ungefähr ein Jahr sein –, seit ich Xander das letzte Mal gesehen habe. Ich will endlich wieder einen Mann küssen. Ihn umarmen und von ihm umarmt werden. Seit unserer letzten Begegnung ist so viel geschehen, Doch ich habe nicht vergessen, wie es geht. Obwohl es natürlich etwas anderes ist, einen normalen Jungen zu küssen als einen Klon. Aber stopp! Moment mal. Ich habe ja noch keinen normalen Jungen geküsst. Xander ist der einzige Mann, mit dem ich jemals zusammen gewesen bin und er war übermenschlich. Wortwörtlich. Ein Supermann. Er war ein Aquino. Aquinos sind gentechnisch so verändert, dass sie in allem vollkommen sind. Die perfekten Menschen. Die Makellosigkeit von Xanders unsichtbaren DNA-Strängen zeigte sich schon allein äußerlich: Gardemaß, weizenblonde Haare, die dank der Sonne golden schimmerten, ein durchtrainierter Körper, hart wie ein Fels, und türkisblaue Augen, so strahlend, tief und rein, dass es mir schwerfiel, ihn für einen Sterblichen zu halten. Xander war einfach himmlisch!

Doch seit damals ist viel passiert. Ich war tot und bin wieder ins Leben zurückgeholt worden. Ich habe völlig neue Fähigkeiten entwickelt. Wenn ich mir damals einen Aquino schnappen konnte, kann es doch nicht so schwer sein, jetzt einen verdammten Klon zu verführen, oder? Heute Abend, beschließe ich, heute Abend, wenn Aidan von dem Treffen mit dem Sympathisanten von der Uni-Army zurück ist, schreite ich zur Tat. Eine ganz spezieller Indoor-Sport ist jetzt angesagt!

»Wetten, dass ich schneller bin als du«, rufe ich Aidan zu und sprinte los. Mein aufgeschlagenes Knie und mein verwundetes Herz vergesse ich.

Das militärische Übungsgelände der Klone liegt in einem Sumpf. Schon von Weitem hören wir die Kampfrufe der Soldaten, die von oben bis unten mit Schlamm beschmutzt sind. Auf Demesne waren sie als Bauarbeiter eingesetzt. Allesamt große, starke Männer, die wenig reden und hart kämpfen, beim Training alles geben. Der Kampf scheint ihr Leben zu sein und nichts sonst. Als wir ankommen, robben gerade vier von ihnen durch den Morast und hieven sich dann den Körper des fünften Mitglieds ihrer Übungsgruppe auf die Schultern. Ihre Aufgabe: einen toten oder verwundeten Soldaten vom Schlachtfeld zu bergen.

Ich bezweifle, dass bei einer Rebellion auf Demesne – einem Ort von solch paradiesischem Frieden, dass es dort nicht einmal Wachpersonal gibt – ein Kampf von Mann zu Mann im Morast nötig sein wird. Aber diese Klone hier lieben ihre Kriegsspiele. Auf Demesne haben sie nichts anderes gekannt als Disziplin und harte Arbeit. Deshalb wundert es nicht, dass sie jetzt, wo sie frei über ihre Zeit bestimmen können, ihre Arbeitsmoral von der Baustelle auf das militärische Trainingsgelände übertragen.

Wenn mein Vater hier wäre, der sich mit der Ausbildung von Soldaten auskennt, würde er den Männern irgendein Hindernis in den Weg legen. Sodass sie aus dem Konzept gebracht würden. Der tote oder verwundete Soldat würde ihnen von den Schultern rutschen. Es würde ein Durcheinander geben. Aber sie wären gezwungen, gemeinsam nachzudenken und das Problem zu lösen. Das Team würde dadurch fester zusammengeschweißt werden. Mit solchen psychologischen Tricks hat Dad es auch bei mir versucht, als ich für die Teilnahme an den Olympischen Spielen trainierte. Aber das Geräusch neben mir einschlagender Granaten hat mir überhaupt nichts gebracht. Deshalb konnte ich mich bei einem Sprung vom Zehn-Meter-Turm auch nicht besser konzentrieren. Im Gegenteil, ich verlor erst recht die Nerven, und wenn ich etwas lernte, dann ihm oder mir selbst zu misstrauen.

Aidan zieht Cesar beiseite, den Drillsergeant der Futuros. »Der Uni-Army-Offizier, über den wir informiert worden sind, befindet sich auf Myland.«

Myland ist eine Insel, die zum Archipel gehört. Eine Klonfrau, die Heilerin ist, lebt dort ganz allein. Als Gegenleistung dafür, dass sie die Insel ganz für sich haben darf, kümmert sie sich um die geflüchteten Klone. Unter der Bedingung, dass diese nicht länger bei ihr bleiben, als bis sie geheilt sind.

»Wie lautet der Plan?«, fragt Cesar.

»Wir werden den Offizier mit einem Boot nach Heathen holen. Ich weiß nicht viel über ihn. Nur dass er als Vertreter der Replikantenrechte-Kommission von der Uni-Army nach Demesne entsandt worden ist.«

»Er ist auf unserer Seite? Ich habe ihn auf Demesne kennengelernt«, antwortet Cesar. »Er hat uns jede Menge Fragen zu unseren Arbeitsbedingungen gestellt. Wie hieß er noch mal … ach ja, Blackburn. Alexander Blackburn.«

Was?!

»Ich komme mit«, sage ich.

Das habe ich von Dad gelernt: Wenn man etwas wirklich will, dann fragt man nicht lange. Man tut es einfach.

Alexander Blackburn – Xander – ist der Mann, der mir damals in Cerulea das Herz gebrochen hat. Was verdammt noch mal treibt ihn hierher? Ich habe ihn kein einziges Mal etwas von einem geplanten Aufenthalt auf Demesne sagen hören.

Es kann dafür nur einen Grund geben.

Xander muss erkannt haben, dass er einen riesengroßen Fehler gemacht hat.

Er ist wegen mir gekommen!