DREIUNDDREISSIGSTES KAPITEL

Ich kann Aidan nicht helfen. Ich muss darauf vertrauen, dass er sich selbst hilft. Der Governor hat keine Ahnung, wen er da als Geisel zu nehmen versucht hat. Aidan ist brutal. Listig. Furchtlos. Und er ist mein.

Mit Aidan und den Android-Soldaten als Gegnern ist der Governor bereits ein toter Mann. Da habe ich keinen Zweifel.

»Überleg dir schon mal, wie du von der Insel wegkommst, Demenzia«, sage ich. »Wenn ich sie auftreiben kann, schicke ich Elysia und Tahir zu dir, damit du sie mitnimmst.«

»Wie viel Zeit habe ich?«, fragt sie. »Ich habe keine Ahnung, wie man sich um Transportmittel kümmert. Das machen sonst immer meine Klone. Und ich muss auch noch packen, mich von allen verabschieden und …«

»Du hast ungefähr eine Stunde. Stimmt doch, Xander?«

Xander nickt. »Ich übernehme das mit dem Transport. Sieh du zu, dass du Elysia und Tahir auftreibst. In genau dreißig Minuten kommt der Riesenrüttler.« Er macht eine kurze Pause. »Willst du danach noch die Dreingabe, du weißt schon?«

»Natürlich will ich«, sage ich. »Es kann hier keinen Frieden geben, bis nicht alles, was sich allein dem Leid der Klone verdankt, zerstört ist. Wirf noch ein paar Feuerwerkskörper rein, als krönenden Abschluss. Schenke uns eine neue Landschaft für den Neuanfang.«

»Also die totale Zerstörung«, sagt Xander.

Ich renne zum Aufzug. Als die Tür sich bereits schließt, fällt mir noch eine letzte Sache ein. »Sobald du die Kontrolle über das Kommunikationssystem hast, schick den Klonen eine Nachricht, dass sie sich in die Bunker oder hinauf in die Berge begeben sollen!«

»Wird gemacht«, sagt Xander und salutiert. Die Aufzugtür schließt sich.

Den Rest muss ich allein erledigen.

Bevor ich nach Demesne kam, hatte ich noch nie das Privileg, in einem Luftmobil durch die Lüfte zu schweben. Sie waren Luxusvehikel, die höchstens einmal ganz fern am Himmel zu sehen waren, den Superreichen vorbehalten. Jetzt habe ich in das Bordsystem des Luftmobils einer der reichsten Familien unter den Superreichen die Zielkoordinaten eingegeben, damit es mich zu ihrem Anwesen zurückbringt. Einem Anwesen, das bald vollkommen zerstört sein wird. Und ich habe den Befehl dazu gegeben.

Als das Luftmobil pfeilschnell über die Insel gleitet, ist die Luft nicht mehr so weich und süß wie vorher. Sie ist bitter und schmeckt nach Rauch. Überall unter mir sehe ich Häuser brennen. Ich lächle. Die Rebellion ist in vollem Gang.

Die Futuros bemächtigen sich ihrer Insel.

Das Luftmobil senkt sich in der Finsternis auf das Anwesen der Fortesquieus nieder. Die Fenster sind alle erhellt, aber nirgendwo sehe ich Flammen. Ich bemerke, dass Elysia am Ende der kurzen Landepiste steht und zu mir hochwinkt. Aber wo ist Tahir? Wenn sie jetzt beieinander wären, könnte ich sie sofort in das Luftmobil laden und mit ihnen zu Demenzia zurückfliegen. Das Fluggerät kommt zum Stillstand, und Elysia öffnet die Tür, um mir beim Aussteigen zu helfen.

»Wo ist Tahir?«, frage ich. »Wir haben nicht mehr viel Zeit. Wir müssen von hier verschwunden sein, bevor die nächste Attacke kommt.«

»Schnell!«, ruft sie und packt mich am Arm. Gemeinsam rennen wir zum Haupthaus. »Tahir hat einen fürchterlichen Streit mit seinem Vater. Nicht einmal das Erdbeben konnte die beiden stoppen.«

»Hast du die Nachricht bekommen? Das hier ist die Rebellion!« Sie nickt. »Tahir und du, ihr müsst von hier fort. Auf der Stelle!«

»Ich kann nicht fort. Nicht ohne ihn. Aber er reagiert nicht auf mich. Er ist jetzt voll in der Hyper-Teen-Phase.«

In der Eingangshalle des Hauses hat sich die Dienerschaft versammelt und wartet auf Anordnungen. »Geht in einen Bunker oder hinauf in die Berge!«, rufe ich. »Nehmt Essensvorräte für ein paar Tage mit. Schnell!« Sie rühren sich nicht, sondern starren Elysia an.

»Jetzt!«, brüllt Elysia sie an.

Die Haussklaven rennen auseinander.

Elysia dreht sich zu mir. »Tahir ist mit seinen Eltern in der FantaSphere.«

»Was? Sie relaxen jetzt bei einem Spiel?«, frage ich.

»Mitnichten«, ruft Elysia, während wir lostürmen. »Wir waren gerade zurückgekehrt und saßen alle beim Abendessen, als das Erdbeben kam. Tariq ist sofort in die FantaSphere.« Wir müssen durch so viele Gänge, dass ich das Gefühl habe, es nimmt kein Ende. »Er sagte, es sei der einzige sichere Ort, von dem aus er alle Vorgänge im Firmensitz von ReplikaPharm steuern könne. Tahir ist hinter ihm her. Ich konnte noch hören, wie Tariq in der FantaSphere Anweisungen brüllte, dass irgendwer unbedingt die Zellproben sichern sollte. Da hat Tahir auf ihn eingeboxt. Ich wusste nicht, was ich tun sollte, deshalb bin ich zum Landeplatz, um dort auf dich zu warten. Mein Instinkt sagte mir, dass du bald dort eintreffen würdest. Falls du noch kommen würdest.«

Sie hat tatsächlich geglaubt, dass ich nicht zurückkommen könnte, um sie zu holen. Ich bin froh, dass ich ihr das Gegenteil bewiesen habe. »Was für Zellproben denn?«, frage ich außer Atem. »Die vom Baby?«

»Ja. Vom Baby. Und von mir und Tahir und den Terror-Ts. ReplikaPharm will unsere Beta-Hormone dazu benutzen, einen Impfstoff zu entwickeln, mit dem überall auf der Welt die rebellischen Teenager ruhiggestellt werden sollen. Sie nennen es das Anti-Teen-Projekt.«

Ich stoße einen empörten Schrei aus. »Die machen wirklich vor gar nichts halt! Ein Grund mehr, ihnen heute Nacht mit der größten Rebellion aller Zeiten zu kommen. Und dabei die Zellproben zu zerstören.«

Elysia bleibt plötzlich stehen. »Aber bitte nicht das Baby«, fleht sie mich an. »Bitte lass nicht zu, dass es getötet wird.«

Ich verspüre eine riesige Erleichterung. Elysia empfindet etwas für ihr Kind. »Aidan kümmert sich darum.«

Elysia drückt mir ein Küsschen auf die Wange. »Danke! Ich habe heute Nachmittag auch herausgefunden, dass er lebt. Ich wollte es dir sofort mitteilen, aber du warst nicht da. Und dann ist hier die Hölle losgebrochen.«

Wir rennen weiter. »Gleich geschafft!«, rufen wir. Plötzlich geschieht vor uns eine Explosion.

Die FantaSphere liegt in Trümmern. Die weißen Wände des Raums sind auseinandergeborsten, die Decke ist eingestürzt. Dichte Staubwolken behindern die Sicht. Was nicht zu sehen ist, was ich aber weiß: Am Himmel bildet sich gerade eine gigantische Wirbelsturmwolke.

Es droht höchste Gefahr und wir müssen dringend von hier verschwinden. Aber Tahir und Tariq sind in einen derart heftigen Streit verwickelt, dass sie nichts von all dem wahrnehmen, was um sie herum passiert. Sie haben ihren eigenen Kampf auszufechten.

»Das werde ich nicht tun!«, brüllt Tahir seinen Vater Tariq an.

»Tahir, lass sofort deinen Vater los!«, ruft Bahiyya.

Tahir hat die Hände um Tariqs Hals gelegt. »Du wirst es und Elysia mir nicht mehr spritzen können! Niemals! Zum Teufel mit dir!«

»Aber es könnte dir doch helfen«, stottert Tariq. »Ein Gegenmittel für euch Hyper-Teens.«

»Wir lassen uns von dir nicht länger manipulieren! Ich hasse dich Vater! Dich und alles, wofür du stehst. Profit aus dem Leiden anderer ziehen. Ich mach da nicht mehr länger mit!«

Tariq versucht sich freizukämpfen, während Tahir immer fester zudrückt. Elysia unternimmt keinen Versuch, Tahir zu stoppen. Ihre Augen sind tiefschwarz geworden. Ich will mich auf die beiden stürzen, um diesem Wahnsinn ein Ende zu machen. Aber Bahiyya kommt mir zuvor und versucht, sich zwischen ihren Mann und ihren geklonten Sohn zu schieben. »Hör auf, Tahir! Bitte! Ich flehe dich an! Lass deinen Vater los!«

»Lass mich endlich frei sein!«, brüllt Tahir Tariq ins Gesicht.

»Geh!« Tariq bringt die Worte kaum hervor. »Ich werde anordnen, dass das Frachtflugzeug, das die Mitarbeiter von ReplikaPharm evakuiert, dich und Elysia ebenfalls wegbringt.«

Tahir nimmt die Hände von Tariqs Hals, der zu Boden fällt und krampfhaft nach Luft schnappt. Bahiyya kniet sich neben ihn und streichelt und küsst ihren Mann. »Was hast du getan, Tahir?« Tränen strömen ihr übers Gesicht. »Du bist genauso ein Monster wie Ivan!«

Einen schlimmeren Namen hätte Bahiyya nicht nennen können. »Ich könnte nie wie Ivan sein, Maman!«, ruft Tahir. »Niemals!«

Wie stellt man es an, sich taktvoll in einen totalen Familiencrash einzumischen? Indem man auf jedes Bemühen, sich taktvoll zu verhalten, verzichtet. »Wir müssen fort!«, brülle ich. »Jetzt!«

Aber die Familie hört nicht auf mich, weil sie nur mit sich und ihrer Tragödie beschäftigt ist. »Du kannst nicht fort«, sagt Bahiyya schluchzend zu Tahir. »Ohne uns schaffst du es nicht.«

Elysia ergreift das Wort. »Wir schaffen es«, sagt sie. »Das können wir und das wollen wir.« Sie versucht, Tahir wegzuzerren. »Jetzt komm! Wir müssen weg!«

Ein Blitz schlägt in das Anwesen der Fortesquieus ein. Gleichzeitig bewegt sich unter uns der Boden. Alle Mauern werden durchgerüttelt. Zu spät.

Das ist das wahre Erdbeben. Das richtig große.