Kapitel 5 - Blicklose Tiefen

 

Die letzten spätherbstlichen Tage vergehen und der Winter schickt eisige Winde voraus. Nicht mehr lange und der erste Schnee wird fallen, was die Reparaturen an den Häusern umso dringender macht. Ich vertiefe mich in all die Arbeit, die ich finden kann, helfe aus, wo ich gebraucht werde. Raikon gehe ich so oft wie möglich aus dem Weg, außer es lässt sich nicht vermeiden. Der Verband an seiner Hand ist inzwischen weg und doch ist es, als wäre der Bissabdruck, den ich hinterlassen habe, immer noch da. Und Raikon wird nicht müde, mich immer wieder daran denken zu lassen, indem er die Stelle mit einem Finger berührt und sachte darüberstreicht, während ein verdammtes Lächeln seine Mundwinkel erhebt. Allein der Anblick macht mich rasend, aber ich gebe vor, dass es mich nicht kümmert.

Dringend brauche ich Jownas Beistand, also begebe ich mich auf die Suche nach ihr. Ich habe sie schon einige Tage nicht gesehen, weil ich mich versteckt habe, zu groß lastet meine Schmach, dass ich diesem körperlichen Verlangen nicht beikommen konnte. Da tröstet es mich nur wenig, dass es nicht bis zum Äußersten gekommen ist, denn trotzdem ist es ein weiterer Verrat an meinem Stamm. Nicht auszudenken, wenn er es geschafft hätte, mich vollends zu besitzen.

Ein Schauder durchfährt meinen Körper und ich beiße mir auf die Unterlippe. Verflucht, warum stellt allein der Gedanke nur so viel in mir an?

Eigentümliche Geräusche dringen auf einmal an mein Ohr und es kommt Bewegung in meinen Fellumhang. Verdutzt halte ich inne, durchsuche meine Kleidung und greife in plüschiges Fell. Ich bekomme einen buschigen Schwanz zu fassen und ziehe ihn aus meinem Mantel. An meiner Hand hängt Yuna und gluckert vor sich hin.

„Du freche kleine Pelzwurst. Weiß dein Herr, dass du wieder ausgebüchst bist?“, will ich wissen und lasse sie vorsichtig zu Boden gleiten.

Sofort schnuppert Yuna in die Luft und macht sich schneller als ich gucken kann auf den Heimweg. Zumindest hoffe ich das, denn wenn Raikons kleiner Augenstern verschwindet, wird er mich bestimmt nicht mehr anlächeln wie bisher.

'Er soll dich auch gar nicht anlächeln' , erinnert mich die gehässige Stimme in mir und wenn ich nicht gerade im Dorf unterwegs wäre, wo eine Menge Leute sind, würde ich mir selbst ins Gesicht schlagen, um wieder zur Besinnung zu kommen.

Noch drei Hütten weiter und ich kann das Wohnhaus des Häuptlings sehen. Jowna ist durch ihre Haarkunst schnell aufgestiegen und wohnt beim Häuptling, um als Erstes seiner Frau zu Diensten zu sein. Wenn das erledigt ist, darf sie sich um andere kümmern. Da Jowna sehr fleißig ist, hat sie sich auch des Haushalts angenommen, und sie arbeitet mit der Häuptlingsfrau Hand in Hand. Gerade ist meine Freundin dabei, die Wäsche aufzuhängen. Sie bemerkt mich erst, als ich fast schon neben ihr stehe. Ihr erschöpfter Gesichtsausdruck entgeht mir nicht und ich mache mir sofort Sorgen.

„Jowna, ist alles in Ordnung?“, will ich wissen, doch sie zwingt sich ein Lächeln auf und winkt ab. „Ach, ich schlafe nur etwas schlecht. Rikkon ist seit zwei Tagen mit seinem Bruder beim Nachbarstamm, aber sie sollten jeden Moment wieder eintreffen.“

„Ich warte mit dir, wenn du möchtest“, biete ich an und schiebe meine eigenen Probleme weit nach hinten.

Jowna ist immer für mich dagewesen, jetzt bin ich an der Reihe. Sie nimmt mein Angebot dankend an und wir plaudern eine Weile über die Neuigkeiten im Dorf. Da Jowna im Haushalt des Häuptlings lebt, bekommt sie die Verwicklungen mit, die mir nutzen könnten, auch wenn ich jetzt im Winter noch nicht viel ausrichten kann.

Es dauert länger als erwartet und langsam beginnen Jowna und ich zu frieren. Trotzdem harren wir aus, bis endlich der erlösende Ruf der Wachen erschallt.

„Die Söhne des Häuptlings kommen!“

Jowna und ich eilen zum Haupttor, wo sich nun nach und nach alle Bewohner des Dorfes versammeln. Doch die Freude über die Rückkehr wird schnell getrübt. Ein großer Schlitten wird hereingezogen und als er zum Stehen kommt, kann ich sehen, dass jemand darin liegt. Ich erkenne Rikkon, sehe, dass er sich nicht rührt, aber gerade kann ich keinen Bezug herstellen. Ich habe das Ganze noch gar nicht richtig begriffen, da rennt Jowna schreiend auf den Schlitten zu. Die Wachen versuchen sie aufzuhalten, doch sie ist schneller und klettert in das Gefährt, wo sie sich an Rikkons Brust wirft und in Tränen ausbricht.

Ich kann mich nicht rühren, denn die toten Augen des Häuptlingsohns scheinen auf mich gerichtet zu sein. Dunkle, blicklose Tiefen, die mich trotzdem finden, dazu die fahle Haut und der blaue Schimmer seiner blutleeren Lippen. Ich weiß genau, was das heißt: Dieser Tod ging nicht natürlich zu, sondern wurde mit Gift begangen.

***

Wie betäubt sitze ich neben Jowna, welche inzwischen aufgehört hat, zu schreien. Nur noch stumme Tränen fließen ihr die Wangen hinab, während man Rikkon ins Haus getragen hat. Seine Familie ist bei ihm und Fjorden muss sicher erklären, was geschehen ist. Jowna durfte nicht weiter bei ihm bleiben, was ihr förmlich das Herz aus der Brust gerissen hat. Ich konnte sie nicht verlassen, also sitzen wir draußen auf einer Bank hinter dem Haus, damit niemand mit neugierigen Fragen auf sie einstürmen kann.

Dass es ein Giftmord war, hat sich bereits herumgesprochen. Fjorden hat den Verantwortlichen bereits gefasst, es war ein Sklave, der wie meinesgleichen seines Heims beraubt wurde und Rache üben wollte. Die sofortige Hinrichtung wurde bereits durch Rikkons Bruder vollzogen. Aber dieser Tod ist sinnlos, denn er bringt Jownas Liebe nicht zurück.

Irgendwann muss ich gehen und Jowna zurücklassen. Ich verspreche ihr, am nächsten Tag wiederzukommen, doch sie reagiert nicht auf meine Worte. Es ist, als wäre mit Rikkon auch ein Teil von ihr gestorben, und hätte damit die letzte Hoffnung auf Glück von ihr genommen.

Ich gehe nach Hause. Dort angekommen will ich zuerst im Stall verschwinden, überlege es mir dann aber doch anders. Als ich eintrete, finde ich Terzia und Luzia allein vor, und ohne ein Wort kommen sie zu mir und umarmen mich. Rikkon war beliebt, gut Freund mit allen, auch mit den beiden, also wehre ich nicht ab, was sie brauchen. Ich lege die Arme um die beiden und hoffe, ich kann ihr Leid lindern, wenn ich es schon bei Jowna nicht vermag.

Raikon kommt wenig später ebenfalls nach Hause, sein Gesicht ist nachdenklich. Als er uns drei sieht, kommt er wortlos dazu und legt ebenfalls die Arme um die Zwillinge. Mich zu berühren, wagt er nicht, aber sein Blick begegnet meinem, fragt mich danach, wie es mir geht. Ich bin zu keinem Wort fähig und wende mich ab, aber ich bleibe, wo ich bin. Am heutigen Tage sollte wohl niemand allein sein.

***

Das Dorf befindet sich in Winterstarre, jeder Dorfbewohner scheint neben sich zu stehen, während der Tod Rikkons noch so greifbar ist. Auch bei der zweitägigen Trauerfeier ist das Leid vieler spürbar. Leise Tränen werden geweint, während man ansonsten stumm in die Flammen blickte, die Rikkons Körper umgeben haben. Der normale Totenritus mit einem provisorischen Grab konnte nicht vollzogen werden, da niemand den Anblick des vergifteten, jungen Mannes länger ertragen wollte. Die Feier danach ist ebenso schweigsam, jeder scheint seinen Erinnerungen an ihn nachzuhängen und ein stilles Mahl wird vollzogen. Ich habe mich um Jowna gekümmert, wurde nicht müde, ihr etwas zu trinken oder zu essen zu geben. Sie nahm nur wenig an, aber immerhin überhaupt etwas, so dass ich das Gefühl hatte, wenigstens einen kleinen Beitrag für sie leisten zu können.

Als ich am zweiten Abend zurück zur Hütte gehe, gesellt sich Raikon zu mir. Auch er war die gesamte Zeit anwesend, saß jedoch direkt beim Häuptling und dessen engsten Gefolge. Jetzt läuft er neben mir und um seinen Mund liegt ein bitterer Zug. Statt der Trauer sehe ich Wut in seinen Augen, auf die ich mir keinen Reim machen kann. Aber ich mache mir keinerlei Gedanken darüber, da ich mit meinen Sorgen bei Jowna bin. Als ich sie eben verlassen habe, war sie blass und teilnahmslos, hob nicht einmal den Blick, als ich mich verabschiedete. Ihr Herz ist ohne Zweifel gebrochen, aber hoffentlich nicht ihr Lebenswille.

Nach wie vor schweigend setzen Raikon und ich unseren Weg zur Hütte fort. Ich folge ihm sogar hinein, denn heute steht nicht einmal mir der Sinn danach, allein zu sein. Auch Raikon hat nicht die Absicht, mit mir zu reden, stattdessen schenkt er uns beiden Wein ein, stellt einen der Becher vor mich hin und geht dann mit seinem auf und ab, während er sinnierend in den Inhalt starrt.

Es kommt erst wieder Leben in die Hütte, als Luzia und Terzia auftauchen.

„Ihr hattet recht, Raikon, es war-“

„Nicht jetzt“, unterbricht er Luzia augenblicklich und erst jetzt nehmen die beiden Frauen mich wahr.

Sofort erstirbt das, was sie erzählen wollten, auf ihren Lippen und ich glaube, so etwas wie Misstrauen in ihren Augen zu sehen, ehe es durch die übliche Art ersetzt wird, wie sie mich sonst anblicken. Ich kann es mir nur so erklären, dass sie Dinge vor mir verheimlichen. Und kann ich es ihnen verübeln? Ich habe selbst Geheimnisse vor ihnen und das nicht wenige.

Ich erhebe mich und verlasse ohne ein weiteres Wort die Hütte. Keiner hält mich auf und das sagt mir alles, was ich wissen muss. Allerdings macht mich das auch wütend und so lenken mich meine Schritte nicht zu den Stallungen, sondern zur Rückseite des Hauses. Dort gibt es einen kleinen Zugang, durch den ich mich nun quetsche, welcher mich direkt unter den Wohnraum führt. Es war wohl als geheimer Notausgang geplant, doch er wurde nie abgeschlossen. Trotzdem kann ich nun gedämpft verstehen, was über mir gesprochen wird.

„Was habt ihr herausgefunden?“, will Raikon wissen.

„Nicht viel. Fjorden ist gerissen und hat seine Spuren gut verwischt. Aber Vochkon ist geschwätzig wie eh und je, wenn er zu viel Honigmet hatte, und er hat geplaudert. Fjorden hat seinen Bruder auf dem Gewissen, er hat den Giftmord verübt, daran gibt es keinen Zweifel.“

Meine Augen werden groß, mein einziger Gedanke gilt Jowna, die die Liebe ihres Lebens verloren hat.

„Was machen wir nun?“, fragt Luzia und genau das frage ich mich auch.

Ein Seufzen Raikons erfolgt.

„Nichts. Die Nachfolge geht uns nichts an und Mord und Intrige sind nichts Neues, wenn es darum geht, den eigenen Hintern auf den Thron befördern zu können. Mit Fjorden verkompliziert sich unser Vorhaben, aber es lässt sich nicht ändern. Also schweigt mit mir still und bleibt unauffällig. Ich werde Euch beschützen, wie ich es versprochen habe.“

'Wenn er nur die Zwillinge beschützt, dann ist es ihm sicher egal, was aus mir wird' , sage ich mir, krieche aus meinem Versteck und gehe wie betäubt zu den Stallungen.

Das Gehörte war nicht für mich bestimmt und je länger ich darüber nachdenke, umso weniger ist es für meine eigenen Zwecke geeignet. Unmöglich kann ich Jowna sagen, wer für den Tod ihres Geliebten verantwortlich ist, denn sie würde ohne Zweifel Rache üben wollen. Doch vor diesem dunklen, zerstörerischen Gefühl möchte ich sie bewahren, denn ich weiß nur zu gut, wie betäubend es sein kann und wie schwer es auf der eigenen Seele lastet. Nein, ich muss sie vor diesem Wissen bewahren und darauf hoffen, dass sie sich erholt.

Erneut nehme ich mir vor, Jowna weiterhin ein guter Freund zu sein und ihr über die Trauer hinweg zu helfen, denn das ist im Moment alles, was in meiner Macht zu stehen scheint.

***

Die Trauer über den Verlust seines Sohnes hat den Häuptling schwer krank gemacht, so dass er das Haus nicht mehr verlässt. Eine Woche später ist er tot und die nächste Totenfeier findet statt. Die Geschäfte und der Titel des Häuptlings gehen auf Fjorden über, nachdem dieser bei der eilig darauffolgenden Wahl als neues Oberhaupt auserkoren wurde. Auch Raikon war aufgestellt, doch er hatte keine Chance, was Fjorden ihm unaufhörlich unter die Nase gerieben hat.

'Er ist viel zu selbstsicher' , denke ich schon während des ganzen Schmierentheaters, welches nur einen Tag nach der Beerdigung des Häuptlings in einem rauschenden Fest mündet.

Es ist viel zu auffällig, doch scheinbar hat Fjorden seine Mittel, um sich die Bevölkerung hörig zu machen. Ich vermute jede Menge Angst und Schrecken, denn sein engster Berater und gleichzeitig rechte Hand ist niemand anderes als Vochkon. In mir ist so viel Wut wegen dieser ganzen Ungerechtigkeiten, dass mir ganz übel ist. Doch es soll noch viel schlimmer kommen.

„Vochkon, mein Freund und treuester Kämpfer. Ich habe ein Geschenk für dich“, grinst Fjorden im Laufe des Abends.

Er steht von seinem Platz auf, geht hinüber zu Jowna, die gerade dabei war, die leeren Becher mit Wein aufzufüllen, und schnappt sich ihr Handgelenk. Der Weinkrug fällt herunter und zerbricht auf dem Boden, doch Fjorden interessiert das wenig. Er zerrt Jowna zu Vochkon hinüber, obwohl sie sich wehrt, und wirft sie einen Augenblick später in dessen Schoß.

„Dieses Geschenk ehrt mich sehr, mein Häuptling“, grinst Vochkon und sofort drückt er Jowna an sich, welche schreit und weint.

Ich kann nicht mehr an mich halten und springe auf, doch Raikon ist schneller.

„Dieses Mädchen ist meins. Der Häuptling hat sie mir gegeben“, sagt er ruhig und doch im drohenden Ton.

„Nun, du hast niemals Anspruch auf sie erhoben. Kein Wunder also, dass sie meinem Bruder nachgestiegen ist. Doch Rikkon ist nicht mehr hier und wir wollen ja nicht, dass die Kleine vertrocknet, nicht wahr?“, grinst Fjorden süffisant, ehe er zum letzten Schlag ausholt. „Und was ein Häuptling gibt, kann der nächste wieder nehmen, das sollte dir bewusst sein, Raikon.“

„Sie ist keine Sklavin, sondern ein vollwertiges Mitglied der Vangionen“, grollt Raikon, doch Fjorden lacht nur.

„Nicht mehr. Sie ist Kriegsbeute, ebenso wie dein Bogenjunge. Das heißt, sie sind Sklaven, solange sie hier sind, und ich kann mit ihnen tun und lassen, was ich will. Also pass zukünftig besser auf dein Eigentum auf, Raikon.“

Sein Blick gleitet über mich und ein unangenehmer Schauer rieselt über meinen Rücken, so dass ich kaum atmen kann.

In Raikons Kiefer zuckt ein Muskel, seine Hand liegt fast schon auf seinem Schwert, doch er kann sich im letzten Moment zurückhalten. Stattdessen setzt er sich wieder hin und zieht mich mit hinab, damit ich nichts Dummes tue. Ich muss zusehen, wie Vochkon Jowna an den Haaren in eins der Nachbarzimmer zieht und nur die Götter wissen, was er ihr antun wird. Ich will hinterher, male mir aus, wie ich eins der Brotmesser schnappe, in den Raum platze und Vochkon umbringe. Doch Raikons Hand liegt eisern auf meinem rechten Oberschenkel und drückt mich nieder, so dass ich keine Chance habe. Und nur sein aufgebrachter, finsterer Gesichtsausdruck, der mir sagt, dass er das Gleiche empfindet wie ich, sorgt dafür, dass ich meinen Gedanken nicht nachgebe. Vochkons Zeit wird kommen, das steht fest.

***

Fjorden beendet das Fest recht plötzlich, nimmt sich zwei Mädchen und scheucht den Rest der Feiernden nach draußen. Es ist klar, was er vorhat, aber ich kann ihn nicht davon abhalten und so bleibt mir nichts anderes übrig, als mit Raikon und den Zwillingen den Rückweg anzutreten. Ich bin so wütend, so rasend, dass Raikon mich auch jetzt noch am Arm festhält, damit ich nicht zurücklaufen kann und doch noch eine blutige Tat begehe. Er geht voraus, zieht mich mit sich und lässt mich nicht einmal in den Stall gehen. Stattdessen schleift er mich mit sich ins Haus und stößt mich in den Schlafraum, den er sich mit Terzia und Luzia teilt.

„Was soll das?!“, schreie ich und will an ihm vorbei, doch seine Hände halten mich schraubstockartig fest.

„Lasst das“, knurrt er und zum ersten Mal macht er mir wirklich Angst.

Raikon sieht mich aufgewühlt an, schüttelt den Kopf und lässt mich dann los. Er beginnt, rastlos durch den Raum zu wandern, und auch die Zwillinge sind unruhig. Schließlich hält Raikon inne und wendet sich mir zu. Ganz dicht tritt er zu mir und sieht mich beschwörend an.

„Das ist Eure letzte Nacht in diesem Haus, ich will, dass Ihr ausgeruht seid. Morgen werdet Ihr uns verlassen, Ihr könnt nicht mehr hierbleiben“, sagt er düster.

„Ich kann nicht einfach gehen!“, brülle ich ihn an, da packt er mit einer Hand mein Gesicht am Kinn und zwingt mich dazu, ihn weiter anzuschauen.

„Ihr habt es doch vorhin gehört, Alarik! Fjorden hat Euch wieder zum Sklaven gemacht! Wenn Ihr ihm oder seinen Leuten in die Hände fallt, kann ich Euch nicht mehr schützen, verstehst Ihr das?! Er könnte mit Euch machen, was auch immer er im Sinn hat, und da Ihr bei mir seid, wird es nichts Angenehmes sein!“

Raikons Stimme brennt sich in meine Gedanken, ich starre ihn entsetzt an und verstehe nun den Ernst meiner Lage. Er lässt mich los und ich fühle mich auf einmal so schwach, dass ich mich auf das Lager setzen muss, um nicht umzukippen.

„Wir schaffen Euch sicher hier raus, gleich morgen, bevor die Sonne aufgeht“, sagt Luzia hinter mir und sie legt eine Hand auf meine Schulter.

„Ihr bekommt ein Pferd, Essen und genug Kleidung, damit Ihr versorgt seid. Was Ihr sonst tut, ist Euch überlassen.“

„Ich kann nicht gehen... mein Volk ist hier, Jowna braucht mich“, wende ich erneut ein, meine Stimme klingt brüchig dabei.

Raikon schüttelt betrübt den Kopf.

„Vergesst sie. Eure Leute sind mehrheitlich eingeschüchtert oder in Fjordens Heer eingegliedert worden. Und Jowna könnt Ihr nicht mehr helfen, sie ist nun Vochkons Eigentum und für Euch unerreichbar“, sagt er und ich kann nicht glauben, was ich höre.

Die Hilflosigkeit zerfrisst mich von innen und ich merke, wie nutzlos ich bin. Ich kann nichts tun, rein gar nichts und das wird mir so sehr bewusst, dass mir die Tränen kommen. Raikon kommt zu mir, schließt mich in seine Arme und lässt mich nicht los, bis nur noch Erschöpfung in mir zurückbleibt.

***

Mitten in der Nacht schrecke ich schreiend hoch, vor meinen Augen ist Feuer und Blut, Leichen türmen sich vor mir auf. Ich atme hektisch ein und aus und bekomme doch keine Luft. Mein Herz rast, während meine Kleidung verschwitzt an mir klebt und mich zusätzlich einengt.

Die Dunkelheit wird von einer Kerzenflamme erhellt und ich sehe die Gesichter der Zwillinge und Raikon. Sie sagen etwas, reden mit mir, aber ich verstehe sie nicht. Ich presse die Hände auf meine Ohren, kneife die Augen zusammen, versuche alles auszublenden, doch meine Panik lässt nicht nach. Plötzlich werde ich hochgehoben, verliere den Halt, pure Kraft umgibt mich und als ich die Lider wieder öffne, sehe ich Raikon. Im nächsten Moment werde ich in kaltes Wasser getaucht und verschlucke mich prompt. Es dauert nicht lange und ich werde wieder hochgezogen. Ich ringe nach Luft und nehme meine Umgebung wieder richtig wahr. Raikon sieht mich besorgt an, weshalb mir wüste Beschimpfungen im Hals steckenbleiben. Meine Atmung ist immer noch beschleunigt, beruhigt sich jedoch nach und nach, während das Wasser an mir herabrinnt.

„Seid Ihr wieder hier?“, fragt mich Raikon leise und ich nicke zaghaft, als ich mir dessen sicher bin.

„Es tut mir leid, ich-“, entschuldige ich mich, doch Raikon und auch die Zwillinge schütteln den Kopf.

Luzia lächelt mir einfühlsam zu, ehe sie sanft über meinen Arm streichelt.

„Wir alle kennen die Schrecken des Krieges. Es ist nichts, weswegen man sich entschuldigen sollte“, sagt sie traurig.

Terzia legt tröstend den Arm um sie und lehnt sich an ihre Schulter. Luzia beginnt, leise ein Lied zu singen, und Terzia atmet tief durch. Dieses Bild berührt etwas in mir und ich muss einfach nachfragen.

„Wo kommt ihr eigentlich her?“, möchte ich wissen.

Das Lied verstummt wieder. Luzia und Terzia zögern, sie schauen zu Raikon und ich sehe ebenfalls zu ihm, um zu sehen, wie er nickt. Scheinbar gibt er ihnen gerade die Erlaubnis zu sprechen. Mir fällt wieder dieser Moment ein, als ich die drei belauscht habe. Es gibt einiges, was ich nicht über sie alle weiß.

„Luzia und ich stammen aus einem kleinen Dorf, welches genau an der Grenze zu zwei rivalisierenden, römischen Familien lag. Immer wieder wurden wir überfallen, es vergingen manchmal nur wenige Tage, bis ein erneuter Angriff stattfand. Irgendwann gab man uns beiden die Schuld“, erzählte Terzia.

„Wieso? Was hattet ihr mit den Überfällen zu tun?“, will ich wissen.

„Wir sind Zwillinge. Das reichte in diesem kleinen Dorf aus, um schief angesehen zu werden.“

Ich bin fassungslos, da mir diese Engstirnigkeit nicht erklärbar ist. Was konnten schon Kinder für die Umstände ihrer Geburt?

„Eines Tages sind wir geflohen. Und keinen Tag zu früh, denn der darauffolgende Angriff löschte das ganze Dorf aus. Wir hatten Glück, auch wenn wir kurz danach als Sklavinnen verkauft wurden“, führt Terzia weiter aus.

„Und dann hat Raikon uns gefunden und befreit“, fügt Luzia hinzu und die beiden Frauen lächeln dem Mann zu, der nun neben mich tritt.

Ich weiß nicht, was ich sagen soll, also schweige ich. Aber ich fühle genau, dass ich jetzt einen weiteren Grund habe, Raikon nicht als das zu sehen, was ich in ihm wahrnehmen will.

„Geht es Euch besser?“, fragt er mich und ich weiche seinem Blick schnell aus, ehe ich nicke.

„Ja. Wir sollten wieder schlafen“, sage ich und zu viert gehen wir zurück zum Bett.

Doch als ich wieder in der Dunkelheit liege, habe ich Skrupel einzuschlafen. Ich möchte nicht noch einmal der Grund sein, weswegen die anderen wach werden könnten. Aber entgegen meiner Annahme ist noch jemand wach.

„Könnt Ihr nicht schlafen?“, raunt Raikon mir zu.

Kurz überlege ich, mich schlafend zu stellen, aber ich lasse es bleiben.

„Nein.“

„In ein paar Stunden müsst Ihr bereit sein zur Flucht. Ihr solltet Euch ausruhen.“

„Ich kann nicht.“

Raikon rutscht näher zu mir, sein Duft steigt mir in die Nase, seine Wärme ist spürbar. Mir stockt der Atem, als er einen Arm um mich legt.

„Ich wecke Euch, bevor Ihr schreit. Ihr braucht keine Angst zu haben.“

Ich verbeiße mir jedweden Kommentar, denn er hat recht, die Angst sitzt mir im Nacken. Stattdessen denke ich vernünftig und schließe die Augen, während Raikons Arm um meiner Mitte der Anker ist, der mir Sicherheit gibt. Ehe ich mich versehe, drifte ich doch noch in den Schlaf, nur um kurz darauf wieder geweckt zu werden.

„Es ist soweit“, sagt Luzia leise und sofort ist die Müdigkeit weg.

Richtig, meine Flucht steht bevor, auch wenn ich wünschte, es wäre nicht so. Die Vernunft gebietet mir, auf Raikon zu hören, aber trotzdem sehe ich immer wieder Jowna vor mir, höre ihre Verzweiflung. Kann ich sie wirklich zurücklassen? Es kommt mir nicht richtig vor, aber welche Wahl habe ich?

Mechanisch ziehe ich mehrere Kleidungsschichten übereinander und als ich fertig bin, drückt mir Luzia eine schwere Tasche in die Hand, in welcher sich Proviant befindet. Wir sind gerade abmarschbereit, als Terzia die Hütte betritt.

„Utarion ist bereit“, sagt sie und ich spüre, dass es ernst wird.

Mit dem Pferd werde ich den Geheimgang nicht nutzen können, also gilt es einen anderen Weg zu finden. Raikon ist deshalb unterwegs, um einen alternativen Weg auszukundschaften. Solange heißt es abwarten und das ist nicht meine größte Stärke. Je länger Raikon weg ist, umso ungeduldiger werde ich. Unruhig gehe ich durch die Hütte und halte mich nur mit Mühe davon ab, aus der Behausung zu stürmen und Jowna doch noch mit mir zu nehmen. Natürlich weiß ich, dass Raikon recht hat und ich nicht mehr an sie herankommen werde.

'Eher werde ich geschnappt und dann gibt es nichts mehr, was ich tun kann' , denke ich mir.

Am besten ist es, erst einmal dieses Dorf hinter mir zu lassen, um die Übriggebliebenen meines Stammes zu suchen. Danach werde ich zurückkehren und alle in diesem Dorf befreien, das habe ich mir fest vorgenommen.

Endlich kommt Raikon zurück, doch sein Gesicht verheißt nichts Gutes.

„Was ist los?“, wollen auch die Zwillinge wissen.

„Fjorden hat überall Wachen aufgestellt. Wir werden es nicht ungesehen schaffen und schon gar nicht in den Wald. Er hat seine Männer in jeder Ecke und jedem Winkel, wir sitzen alle in der Falle“, informiert er uns düster.

„Und wenn ich ohne Pferd gehe und den Geheimgang nehme?“, will ich wissen, doch auch in diesem Fall weiß Raikon Schlechtes zu berichten.

„Das war mein zweiter Gedanke, aber auch außerhalb des Dorfes ist die Wachmannschaft vergrößert worden. Nicht einmal eine Maus würde es in den Wald schaffen, ohne von Pfeilen durchbohrt zu werden.“

Weitere Worte sind nicht nötig, denn mit Fjordens beginnender Schreckensherrschaft geht eine weitere Tür vor meinem geistigen Auge zu, die mich von der Freiheit trennt.

***

Es ist nicht der einzige Fluchtversuch, den ich unternehme, doch jedes Mal scheitert es an den verstärkten Wachposten. Es ist nahezu unmöglich, nach draußen zu gelangen, sobald die Nacht hereinbricht, und auch am Tag fühlt man sich beobachtet. Das alles soll zu unserer Sicherheit sein, wie Fjorden nicht müde wird zu betonen, aber ich glaube ihm kein Wort.

Auch Raikon lässt mich nicht mehr allein hinaus, sondern besteht darauf, mich überallhin zu begleiten. Doch in seiner Gesellschaft kann ich nicht zu Jowna, also beknie ich ihn tagelang, bis er mich allein hinauslässt. Sein Widerwillen ist ihm deutlich anzusehen und es braucht so einige Überzeugungsarbeit, dabei bin ich wie er ein Krieger, wenn auch nur, wenn es sein muss.

Erst als ich Raikon geschworen habe, keine unnötigen Risiken zu begehen, darf ich Jowna besuchen gehen. Ich atme erleichtert auf, als ich sie in den Stallungen des Häuptlings sehe, wo sie die Tiere füttert. Doch je näher ich ihr komme, umso deutlicher zeigt sich, was ihr angetan wurde. An ihrem Hals sind mehrere Bisse und dunkle Flecken zu sehen. Wenn Jowna sich bewegt, kann ich Schmerz über ihr Gesicht huschen sehen und ich verfluche Vochkon und Fjorden dafür.

„Jowna“, spreche ich meine Freundin an.

Augenblicklich zuckt sie mit einem Aufschrei zusammen und lässt den Futtereimer fallen.

„Ich bin es, hab keine Angst“, sage ich schnell und trotzdem bleiben ihre Augen schreckgeweitet, so als wäre ich ein Monster.

Was auch immer ihr angetan wurde, es hat sie verändert. Ihre freundliche, fröhliche und aufgeschlossene Art ist völlig verschwunden, dafür stehen Misstrauen und Angst nun an deren Stelle.

„Geh“, sagt Jowna.

Ihre Stimme ist leise und zeugt von Leid. Doch am schlimmsten ist ihr Blick zu ertragen, der in diesem Augenblick vor allem ein Gefühl transportiert: Enttäuschung. Und sie richtet sich allein auf mich.

„Jowna, lass mich dir helfen“, versuche ich es erneut, doch sie schüttelt heftig den Kopf, noch während Tränen in ihre Augen schießen.

„So wie du mir geholfen hast?!“, schreit sie mir entgegen.

Ich taumle zurück, als hätte sie mich geohrfeigt und sehe sie aus entsetzten Augen an. Ist es nun so weit? Verliere ich nun auch den letzten Rückhalt, den ich von ihr erhalten habe?

„Wo warst du die letzten Tage? Warum bist du nicht zu mir gekommen? Du hättest mehr tun müssen!“, schreit Jowna unter Tränen und ich kann ihr nichts entgegensetzen, denn sie hat recht.

Ohne mich wären wir nicht in dieser Lage, daran gibt es keinen Zweifel. Mitfühlend will ich sie in den Arm nehmen und gehe auf sie zu, doch da werden Jownas Augen zu Schlitzen.

„Geh mir aus den Augen!“, zischt sie und ich erstarre mitten in der Bewegung.

„Jowna, es tut mir leid“, bringe ich hervor, doch sie schüttelt heftig den Kopf.

Sie will nicht hören, was ich zu sagen habe, aber ich gebe nicht auf.

„Bitte, ich bin doch hier. Lass mich für dich da sein“, versuche ich es ein weiteres Mal.

„Du kommst zu spät. Und nun geh und lass mich allein. Ich habe Arbeit“, sagt Jowna kalt und wendet sich von mir ab.

Sie hebt den Futtereimer auf und ignoriert mich, so als wäre ich nicht da. Ich trete den Rückzug an, wobei ich mich wie ein geprügelter Hund fühle. Eine weitere Entschuldigung kommt mir nicht über die Lippen, denn ich weiß, dass sie nichts bewirken würde.

Den Rückweg absolviere ich rein automatisch, während ich weder etwas sehe, noch etwas höre. Mir geht nur durch den Kopf, dass ich niemanden mehr habe, da sämtliche Verbindungen zu den Aresaken gekappt wurden. Mit Jowna habe ich meine einzige Verbündete sowie meinen letzten Halt verloren. Mit diesem Wissen und einem vollkommen tauben Gefühl in mir stolpere ich zur Hütte hinein und sehe mich Raikon gegenüber. Er ist sofort auf den Beinen und ich starre ihm entgegen, während alles so kalt und trostlos erscheint.

„Alarik, was ist passiert?“

Ich schaffe es kaum, ihm noch ins Gesicht zu sehen, und wende den Blick ab. Ein Beben durchläuft meinen Körper, dann noch eins.

„Wart Ihr bei Jowna? Was ist geschehen?“, fragt er weiter und allein ihr Name lässt mich ein schmerzvolles Keuchen ausstoßen.

„Ich war nicht für sie da. Sie will mich nicht mehr sehen“, antworte ich und meine Stimme klingt so hohl, wie ich mich fühle.

„Sie wird sich beruhigen, sobald wir sie von Vochkon weggeholt haben. Sie wird Euch verzeihen“, hält Raikon dagegen, doch ich weiß, dass er in diesem Moment lügt.

Jownas Worte waren endgültig, es gibt kein Zurück mehr, nicht nach allem, was ihr geschehen ist.

„Ich bin allein. Ich habe niemanden mehr“, flüstere ich mit einem gebrochenen Lächeln.

Über Raikons Gesicht huscht ein Ausdruck von Erschütterung, dann zieht er mich auf einmal an sich und umarmt mich fest. Ein erneutes Beben durchläuft meinen Körper und ich kann kaum atmen. Ein Schluchzen überwältigt mich, meine Eingeweide verkrampfen sich und ich kralle mich an Raikons Körper. Unerschütterlich hält er mich und ich lasse einfach los. All meine Gefühle fließen in Form von Tränen aus mir heraus und ich kann nichts dagegen tun.

Wie ein unbeugsamer Fels steht Raikon mit mir da und hält mich. Als mich die Kraft völlig verlässt und ich fast in die Knie gehe, ist er es, der mich auffängt. Müde lehne ich an seiner Brust, höre seinen kraftvollen Herzschlag und lasse mich davon trösten. Die Tränen fließen dennoch unaufhörlich weiter und ich kann nicht kontrollieren, was für Laute aus meiner Kehle dringen. Es ist mir auch egal. Alles ist so verdammt egal.

Raikon bringt mich in sein Bett und ich wehre mich nicht dagegen. Er könnte diese Situation ausnutzen, ich würde es nicht einmal spüren. Ich bin in einem Zustand, der mich alles nur dumpf wahrnehmen lässt. Aber innerlich weiß ich, dass er nicht so ein Mensch ist, und tatsächlich lässt er mich in Ruhe. Ich darf einfach weiter an ihn gelehnt liegen, darf seinem Herzschlag zuhören und ansonsten alles ausblenden. Raikon gewährt mir diesen unausgesprochenen Wunsch und nach einer Weile schließe ich die Augen und übergebe mich dem Schlaf, der mich mittels Erschöpfung einfach überwältigt.

***

Der Winter ist erbarmungslos und kratzt an den Gemütern. Dennoch kehrt eine Art normaler Alltag ein, während Fjorden die Geschicke des Dorfes leitet. Sein Führungsstil unterscheidet sich grundlegend von dem seines Vaters und man hört ihn oft von großen Kriegen reden und wie er die übrigen Stämme übernehmen will. Die Bewohner des Dorfes lassen sich aus Angst von seinem Feuereifer anstecken und die Riege seiner engsten Berater besteht aus seinen besten Kriegern. Alles, was für ihn existiert, ist Krieg und Unterwerfung und nur der harte Winter hält ihn davon ab, seine Pläne wahrzumachen. Es grenzt an Größenwahn, was ihn umtreibt, denn immer öfter ist auch die Rede einer Häuptlingsfeier, die er im Frühling abhalten will, um mit einem riesigen Fest in einen Krieg zu starten. Direkt nach dieser Feier am ersten Tag des Frühlings will er dann mit einem Heer losziehen, welches die Welt noch nicht gesehen hat. Auch uns Sklaven will er mit in die Sache hineinziehen, denn wir sollen in vorderster Reihe für ihn kämpfen. Was Fjorden als Ehre sieht, ist für mich lediglich ein Ausdruck dafür, dass wir als Erstes daran glauben sollen, während seine Krieger unverletzt bleiben. Was aus uns wird, ist ihm einerlei, das ist so klar wie Wasser. Dafür muss ich mir nur ansehen, was aus Jowna geworden ist. All ihre Kleider sind beschädigt, ihr Gesichtsausdruck ist leer, ihre Haut ist blass und manchmal muss sie Vochkon bei den Festen zu Willen sein. Ihr Blick heftet sich jedes Mal auf mich und ihr lebloser Ausdruck in ihren Augen zeigt mir, dass ich sie auf dem Gewissen habe. Sie mag noch leben, mag keine Leiche sein, aber dennoch ist sie ein Opfer meiner Feigheit.

Eines Abends ist es wieder so weit und Vochkon vergeht sich an Jowna vor den Augen aller. Doch gerade als er sich dröhnend in sie bohren will, greift sie vorne in ihr Kleid und zieht ein scharfes Messer. Sie treibt es ihm mit einem hasserfüllten Aufschrei mitten in seinen fetten Wanst. Vochkon brüllt auf, wirft Jowna von sich herunter und will sich auf sie stürzen, doch Jowna ist schneller und wendiger. Sie hat das Messer fest in der Hand, als sie aus der Hütte herausstürzt, und Vochkon blutet wie ein abgestochenes Schwein.

Mich hält nichts mehr, ich springe auf und renne Jowna hinterher. Wenn ich sie schnell genug erreiche, kann ich ihr von dem Geheimgang erzählen, den Raikon in seiner Hütte versteckt hält. Ich muss nur schnell sein und dann kann ich ihr doch noch helfen, so wie sie es von mir verlangt hat. Ich hätte es ihr schon viel eher sagen müssen, doch immer, wenn ich sie im Dorf gesehen habe, ist sie mir ausgewichen. Das ist jetzt meine letzte Chance, sie zu retten, ihr zu helfen, ihr zu beweisen, dass ich keine völlige Enttäuschung bin.

Doch als ich das erste Blut im Schnee sehe, fallen alle meine Hoffnungen in sich zusammen. Ich folge der Blutspur, renne, so schnell ich kann. Doch als ich bei Jowna ankomme, ist es bereits zu spät. Sie hockt zitternd im Schnee, das Messer ist ihr längst aus den zitternden Händen geglitten. An ihren Armen sind lange, tiefe Wunden, das Blut quillt daraus hervor. Es verlässt ihren Körper so schnell, wie ich es noch nie gesehen habe.

„Jowna!“

Ich stürze zu ihr, als sie nach hinten kippt, drücke sie geistesgegenwärtig an mich. Fahrig versuche ich mit einer Hand etwas Stoff von meiner Kleidung abzureißen, um ihre Wunden verbinden zu können, aber ich bin zu langsam, zu panisch. Als ich einen prüfenden Blick auf Jownas Gesicht werfe, blicken mich tote Augen aus einem blassen Gesicht heraus an.

„Jowna? Nein! Oh Gott, bitte nein!“, schreie ich gepeinigt und der Schmerz kommt so heftig, dass ich kaum atmen kann.

Ein weiteres Gewicht sackt auf meine Schultern herab und reißt mich in die Tiefe. Wieder lastet der Tod eines geliebten Menschen auf mir, auch wenn ich es noch nicht wahrhaben will.

„Jowna, nein... Jowna“, murmele ich vor mich hin, versuche sie aus ihrem ewigen Schlaf zu wecken.

Doch es hat keinen Zweck, denn ihr Blut umgibt sie wie ein roter See.

'Sie kommt nicht zurück, nie mehr' , wird mir bewusst, aber ich will das nicht hinnehmen.

Ich lasse Jowna nicht los, drücke ihren kalten Körper an mich, während der Schnee sich verdichtet und uns nach und nach bedecken will. Ich will sie hier nicht zurücklassen, also bleibe ich bei ihr, halte sie und ignoriere, dass der Tod sie sich schon längst gegriffen hat. Vielleicht wird er auch nach mir seine Finger ausstrecken und der Gedanke ist für mich nicht so erschreckend, wie er sein sollte.

'Es ist alles egal. Sie ist weg, ich habe niemanden mehr' , denke ich, doch mein Unterbewusstsein schickt mir Bilder von Raikon und den Zwillingen.

Aber sind sie wirklich für mich da oder bin ich nur ihr Werkzeug? Ich bin hin und hergerissen, denn sie verbergen so viel vor mir, auch wenn sie sich gleichzeitig öffnen. Ich weiß nicht, was ich denken soll, und ich habe auch keine Kraft mehr. Es wäre so einfach, loszulassen und mich der Kälte zu ergeben, die meine Haut schmerzen und meine Finger taub werden lässt.

Gerade will ich meine Augen schließen, mich von der Friedlichkeit des Schnees einlullen lassen, doch da höre ich Raikon.

„Alarik!“

Seine Stimme klingt verzweifelt, aber das könnte auch allein meine Einbildung sein.

'Ob ich ihm wichtig bin'? , frage ich mich und würde es so gern wissen.

„Alarik!“, brüllt Raikon, dass es widerhallt, und ich halte nicht aus, wie schmerzlich es sich anhört.

„Hier“, flüstere ich, dann wiederhole ich es lauter. „Hier!“

Eine ganze Suchmannschaft kommt, aber ich habe nur Augen für Raikon. Sein mitfühlender Blick wärmt mich einen kleinen Moment, doch als er nach mir greift und mich von Jowna trennen will, wehre ich mich.

„Nein, ich lasse sie nicht allein!“, rufe ich und trete und schlage um mich, während ich wieder zurück zu meiner Kindheitsfreundin will.

Raikon hält mich umso fester, drückt mich an sich und redet auf mich ein. Immer wieder sagt er, dass Jowna tot ist, aber ich will es nicht hören. Immer mehr rege ich mich auf, schaffe es fast, mich aus seinem Griff zu befreien, doch dann spüre ich einen Schlag und verliere unvermittelt das Bewusstsein.

***

Als ich wieder zu mir komme, ist es warm. Eine Decke schmiegt sich an meinen nackten Körper und ich glaube zuerst, dass alles nur ein schrecklicher Traum war. Ich richte mich auf und brauche eine ganze Weile, um zu erkennen, dass ich mich in Raikons Bett befinde. Mein Hinterkopf schmerzt und ich berühre die Stelle, was mich zischend zusammenfahren lässt.

„Eine der Wachen hat Euch außer Gefecht gesetzt, weil Ihr Euch nicht beruhigt habt. Ich dachte schon, Ihr wacht nicht mehr auf“, sagt Raikons erschöpfte Stimme von der Tür aus, was mich zu ihm aufsehen lässt.

„Was ist passiert?“, will ich wissen, doch da fällt mir bereits alles wieder ein.

Raikons betrübter Gesichtsausdruck bestätigt alles, was ich für einen Albtraum gehalten habe. Trotzdem muss ich es aus seinem Mund hören.

„Ist sie... ist Jowna...?“

Verdammt, ich kriege die Frage nicht über meine Lippen. Frustriert schaue ich auf meine zitternden Finger, die einen Moment später von anderen Händen ergriffen werden.

„Seht mich nicht so an, bitte. Ich kann das gerade nicht“, sage ich und blinzele erste Tränen hinfort.

„Ihr habt eine wertvolle Freundin verloren, Euer Stamm hat sich von Euch abgewandt. Eure Familie ist tot, Ihr seid in der Fremde und wisst nicht, wohin mit Euch. Ich verstehe das sehr gut“, sagt Raikon leise und streichelt über meine Finger.

Auf meinen ungläubigen Blick hin lacht er kurz, aber es erreicht seine Augen nicht. „Einst war ich genauso verloren wie Ihr. Meine Mutter war alles, was ich hatte, doch in meinem achten Winter erkrankte Sie und fiel ins Fieber. Mit ihrem letzten Atemzug verriet sie mir, dass Yorik mein Vater ist, und so zog ich, als sie starb, allein durchs Land, um ihn zu finden. Ich wusste nicht einmal, ob ich es lebend zu ihm schaffe, ob er mir glauben würde oder ob er mich totschlagen lässt, weil ich behaupte, sein Sohn zu sein. Als Bastard hätte er mich töten oder verstoßen können, doch er erkannte die gravierende Ähnlichkeit aus seiner Jugend zu mir und nahm mich auf. Er gab mir ein Zuhause und ein Ziel, er bildete mich aus und forderte mich. Ich durfte niemals sein Nachfolger sein, aber ein Verbündeter und ein Freund der Familie. Das war und bin ich auch immer gewesen.“

Halb erwarte ich, dass er mir mehr erzählt, beispielsweise von seinen Plänen, von denen nur die Zwillinge zu wissen scheinen, doch nichts Derartiges kommt über Raikons Lippen. Dafür streichelt er weiter über meine Finger und ich flüchte mich in dieses tröstliche Gefühl.

„Es tut mir leid, was mit Jowna geschehen ist“, sagt er weiter und der Schmerz in mir wallt erneut auf, so als würden Klauen versuchen, mir das Herz aus der Brust zu reißen.

„Das wird Fjorden büßen“, presse ich hervor, während meine Hände Fäuste bilden.

„Überstürzt es nicht, Alarik. Fjorden ist jetzt doppelt so wachsam als vorher, zumal sein wichtigster Handlanger tot ist. Es wird nicht einfach, an ihn heranzukommen, und ich bitte Euch, zu warten. Ihr werdet Eure Chance bekommen, aber bis ich Euch sage, dass es soweit ist, werdet Ihr keinen Finger rühren, verstanden? Gehorcht mir nur dieses Mal.“

Raikons ernster Blick geht mir durch und durch. Ich beschließe, für den Moment auf ihn zu hören. Doch es steht fest: Sobald ich eine Chance wittere, werde ich Fjorden zur Strecke bringen.

***

Nach Vochkons und Jownas Tod ist Fjorden grausam geworden. Der geringste Fehler wird als Verrat angesehen und auf Raikons Anraten bleibe ich vor allem in seiner Hütte oder in den Stallungen. Der Winter vergeht und macht dem Frühling Platz. Die Häuptlingsfeier steht bevor und mit dem Weichen des Schnees verschwindet auch Fjordens Angst. Großkotzig wie eh und je stellt er sich als der nächste Kriegsherr dar, der alle Stämme unter sich einen will.

Das Fest wird vorbereitet und ich bin froh, dass ich mich in endloser Arbeit vergraben kann. Seit Jownas Tod habe ich kaum gesprochen und noch weniger den Kontakt zu anderen gesucht. Die einzigen Menschen auf meiner Seite sind wohl Raikon und die Zwillinge, von denen ich jedoch auch nicht hundertprozentig weiß, ob ich ihnen völlig vertrauen kann. Doch Fjorden ist wohl der größere Feind, so dass die drei das geringere Übel zu sein scheinen. Es gibt immer öfter Momente, in welchen sie sich zu gemeinsamen Gesprächen zurückziehen, aber ich belausche sie nicht. Ich hätte sowieso nichts von ihren Informationen, denn mir fehlen die Möglichkeiten, wie ich sie nutzen könnte. Ich bin nach wie vor wieder ein Sklave und ich muss jeden meiner Schritte mit Bedacht wählen.

Die Freude über den Frühling verbreitet sich im ganzen Dorf, die Jagd wird eingeläutet. Heute Abend wird es zum Fest Wildschwein und Reh geben, es wird eine rauschende Feier werden. Jeder Bewohner geht in seiner vorbereitenden Tätigkeit auf, es ist, als ob es die grausamen Ereignisse der Vergangenheit niemals gegeben hätte. So viel Heuchelei, es ist kaum auszuhalten. Und doch bin ich ruhig und lauere, wie ein aresakischer Jäger auf Beutezug.

Der Abend kommt, die Dämmerung legt sich über die Umgebung und Fackeln erleuchten den Weg zum Dorfplatz. Die Menschen besingen ihren neuen Häuptling, während ich stumm im Kreis stehe und beobachte.

Fjorden ist ausgelassener Stimmung, unvorsichtig. Es wäre ein Leichtes, ihn zu überwältigen und ihn in den Tod zu schicken. Aber ich kann es nicht, denn ich käme nicht einen Schritt in seine Richtung, ohne dass mich seine Krieger zu Boden bringen würden. Sein Misstrauen hat Fjorden noch nicht abgelegt, vielleicht wird er es auch nie. Also stehe ich weiter im Kreis und sehe zu, wie mein ganzes Leben schon. Dabei wäre heute meine Chance, denn Raikon ist in das Fest eingebunden. Er kann mich nicht zurückhalten, so wie beim letzten Mal, also kann ich es nur heute wagen.

Meine Gedanken drehen sich nur darum, wenigstens eine gute Sache zu leisten, um meinem Stamm zu Diensten zu sein. Aber jeder Plan, den ich mir zurechtgelegt habe, scheitert an der Wachsamkeit der Krieger, die Fjorden um sich geschart hat.

'Ich werde keine Chance bekommen. Dazu müsste ich so schnell wie der Wind sein' , denke ich bei mir und hoffe stattdessen auf die Nacht.

Wenn Fjorden sturzbetrunken ist, kann ich mich im Schutz der Dunkelheit an ihn heranschleichen und ihm die Kehle durchschlitzen. Vielleicht schaffe ich es sogar, von hier zu fliehen und genügend Abstand zwischen dieses unheilvolle Dorf und mich zu kriegen. Dann wäre ich frei und könnte im Wald leben, wie ich es schon einmal vorhatte.

Die Trommeln holen mich ins Hier und Jetzt zurück und ich sehe zu, wie Krieger mit Pfeil und Bogen auf die Mitte des Platzes zugehen, während Fjorden sich in den Häuptlingssessel setzt, der mit zahlreichen Fellen bestückt ist. Doch mein Blick klebt nun an Raikon, der meinen Bogen und meinen Köcher mit meinen Pfeilen führt. Mit konzentriertem Blick nehmen alle Aufstellung vor mit Stroh ausgestopften Gebilden, die wie Tiere aussehen. Die Krieger schießen darauf und sammeln Punkte, je nachdem, wo das Tier getroffen wird. Raikon liegt vorn, doch das scheint Fjorden nicht zu gefallen. Die Rivalität zwischen den beiden ist nicht verschwunden, auch wenn Fjorden nun alles hat, was man sich erträumen kann. Er lässt keine Gelegenheit aus, um Raikon daran zu erinnern, dass er es niemals weiterbringen wird als zu dem, was er jetzt ist.

Raikon besiegt alle, das Volk feiert ihn bereits, doch Fjorden hat Einwände.

„Vielleicht mag Raikon der Beste unter uns sein. Aber ich frage mich, ob er auch gegen Alarik ankommt. He da, Alarik, komm her!“, ruft er und ich stolpere nach vorn, weil ich nicht damit gerechnet habe.

„Was soll das, Fjorden?“, fragt Raikon knurrend, doch Fjorden lächelt nur.

„Was ist? Hast du Angst, dass dein Sklave besser ist als du selbst?“, erkundigt er sich spöttisch und seine Schergen lachen darüber.

Ich erkenne das Ziel. Fjorden will, dass Raikon gegen mich verliert, was wirklich eine ziemliche Blamage für ihn wäre.

„Geht wieder zurück, Alarik“, sagt Raikon zu mir, doch der neue Häuptling mischt sich wieder ein.

„Bleib, Alarik. Tritt gegen Raikon an und wenn du gewinnst, schenke ich dir die Freiheit.“

Mein Blick geht zu Fjorden, ich kann kaum glauben, was ich höre, doch es scheint sein Ernst zu sein.

„Ganz recht. Du musst ihn nur besiegen, dann lasse ich dich gehen. Du könntest ein völlig neues Leben beginnen, ganz weit weg von hier.“

Die Hoffnung explodiert in mir und ich stimme mit einem Nicken zu.

„Dann los, begeistert mich“, sagt Fjorden, klatscht in die Hände und fordert Pfeil und Bogen für mich ein.

Doch Raikon fängt die Waffen ab und tauscht mit mir. Tränen schießen mir in die Augen, als ich meinen Bogen nach all der Zeit wieder in den Händen halte und das vertraute Gewicht des Köchers auf meinem Rücken spüre.

Der Wettkampf beginnt und ich habe nichts verlernt. Sicher findet jeder meiner Pfeile sein Ziel und ich kann gut mit Raikon mithalten. Er liegt in Führung, doch ich hole auf und Fjorden feuert mich an, so wie einige seiner engsten Gefolgsleute, während Terzia und Luzia Raikon unterstützend zurufen. Ich blende all das aus, konzentriere mich auf meine letzten Schüsse, die die Entscheidung bringen könnten. Doch in diesem Moment erkenne ich meine Chance. Es wäre dumm, sie nicht zu ergreifen, wenn sie doch vor mir liegt.

Der Gedanke, dass der Häuptling mir die Freiheit versprochen hat, kommt in mir hoch. Ich könnte ein friedliches Leben führen, ganz ohne Anstrengung, während meine Rache mich direkt ins Verderben führen könnte. Was soll ich tun? Was soll ich wählen? Die Entscheidung fällt mir nach einem Blick in mein Herz nicht schwer.

Ich lege blitzschnell drei Pfeile auf einmal ein, spanne den Bogen und drehe mich erst im letzten Moment, ein neues Ziel erfassend. Drei Pfeile bohren sich einen Bruchteil eines Augenblicks in den Hals Fjordens, der Jownas Tod zu verantworten hat. Zuerst herrscht Stille, dann höre ich die Schreie von vielen. Doch mein Blick löst sich keinen Moment von diesem Unglücksbringer, den ich zur Strecke gebracht habe, ehe ich von einer Horde Krieger niedergerissen werde.