»Oh, mein Gott, das ist Pater Mike«


Das erste Opfer

/////// Eine der unvergesslichsten Gestalten am Trade Center war Pater Mychal Judge, einer der sechs Kaplane der Feuerwehr von New York City. Er war ein geselliger, schwuler, ehemals alkoholabhängiger Ire, der in der ganzen Stadt dafür bekannt war, sich um Feuerwehrleute, Obdachlose und AIDS-Opfer zu kümmern. Seit 1992 war er als Kaplan bei der FDNY tätig und bei zahlreichen Notfällen zugegen gewesen, so auch 1996 beim Flugzeugabsturz von TWA Flight 800, die über Suffolk County, New York explodierte. Am 11. September traf er als einer der Ersten am World Trade Center ein. Man nimmt an, dass er der einzige Priester gewesen ist, der an jenem Tag die Zwillingstürme betreten hat.

Mychal Judge, Kaplan, FDNY: Es ist wunderbar, wie ich manchmal morgens aufstehen und den ganzen Tag über meinen Verrichtungen nachgehen kann, ohne zu begreifen, dass alles, was geschieht – jede einzelne Sache, die geschieht – irgendwie ein Teil des göttlichen Plans ist.

BRUDER MICHAEL DUFFY:Sowohl Priester als auch Feuerwehrmänner greifen in das Leben anderer Menschen ein, wenn diese in einer Krise stecken. Beide haben ähnliche Ansichten über das Leben. Sie sind geprägt vom Bedürfnis, zu helfen und zu retten. Also gibt es da zum einen Mike Judge, der das auf eine spirituelle Art und Weise tun will, und zum anderen sind da die Feuerwehrmänner, die es auf eine körperliche Art und Weise bewerkstelligen wollen. Das passte auf ganz natürliche Weise zusammen.

MALACHY MCCOURT, Schauspieler:Es gibt eine alte Postkarte, auf der eine riesige Jesusgestalt zu sehen ist, die in so ein extrem langes Gewand gekleidet ist und in die Fenster des Empire State Building hineinschaut. Das war Mike Judge in New York. Er war überall in der ganzen Stadt präsent.

BRUDER MICHAEL DUFFY:Am 11. September spazierte einer unserer Ordensbrüder, Brian Carroll, die Sixth Avenue hinunter und sah tatsächlich, wie das Flugzeug in niedriger Höhe über ihn hinwegflog. Als Nächstes sah er Rauch aus den Trade Towers aufsteigen. Er rannte in das Zimmer von Mychal Judge und sagte: »Mychal, ich glaube, sie werden dich brauchen. Ich glaube, das World Trade Center steht in Flammen.« Mychal Judge sprang auf, legte seine Ordenstracht ab und stieg in seine Uniform der New Yorker Feuerwehr. Und er nahm sich – ich muss das sagen, falls jemand denken sollte, dass er vollkommen untadelig war – die Zeit, sich zu kämmen und seine Frisur mit Haarspray in Form zu bringen. Er rannte die Treppe hinunter, stieg mit einigen Feuerwehrmännern in sein Auto und fuhr zu den Türmen. Einer der ersten Menschen, auf die er dort traf, war der Bürgermeister, Mayor Giuliani.

RUDY GIULIANI, Bürgermeister, New York: Pater Judge lief in die andere Richtung. Ich ging nach Süden, er nach Norden. »Pater Judge«, sagte ich zu ihm, »bitte beten Sie für uns.« Er setzte ein Lächeln auf und sagte: »Das tue ich doch immer.« Ich erwiderte: »Danke schön.« Wir hatten nicht wirklich Gelegenheit, den ganzen Witz durchzuspielen – normalerweise sagte ich: »Beten Sie für mich.« Er würde entgegnen: »Das werde ich tun.« Woraufhin ich entgegnen würde: »Es hilft mehr, wenn Sie beten, Sie stehen auf viel besserem Fuß mit Gott.« Und er dann: »Richtig, aber es ist besser, wenn Sie es tun, das ist ungewöhnlicher und die größere Überraschung für ihn.«

/////// Fast eine Stunde lang übte Pater Judge mit seiner Präsenz einen beruhigenden Einfluss auf die Rettungskräfte aus – er betete laut in der Lobby des Nordturms und eilte einmal nach draußen, um einem Feuerwehrmann, Danny Suhr, die letzte Ölung zu erteilen. Ein aus dem brennenden Turm herabfallender Menschenleib hatte Suhr getroffen und ihn erschlagen.

GREGORY FRIED, Leitender Chirurg, NYPD:Ich sah Mychal Judge, den Kaplan der Feuerwehr, und bat ihn: »Pater, seien Sie vorsichtig.« Er antwortete: »Gottes Segen«, denn er sagte immer »Gottes Segen«. Dann wandte er sich nach rechts und ich ging nach links.

BILL SPADE, Feuerwehrmann, Rescue 5, FDNY: Ich kannte ihn von anderen Einsätzen, anderen Ereignissen und von Hochzeiten und so. Ich rief ihm zu: »Hey, Pater, wie geht's, erinnern Sie sich an mich?« Er antwortete: »Na sicher erinnere ich mich, haben Sie den Zwanziger dabei, den ich Ihnen neulich geliehen hab?« Er war dort im Gebäude, im Nordturm. Er hatte seinen Rosenkranz bei sich, in seiner rechten Hand, und sprach das Gebet. Er war leichenblass. Alles, was er um sich herum sah, hat ihn zutiefst beunruhigt.

CHRISTIAN WAUGH, Feuerwehrmann, Ladder 5, FDNY:Man konnte es seinem Gesicht ansehen. Normalerweise scherzte er ständig herum. Er sagte immer irgendjemandem hallo. Dieses Mal war er wie versteinert.

CHIEF JOSEPH PFEIFER, Battalion 1, FDNY:Er war mit uns in der Lobby und ich konnte ihm ansehen, dass er betete.

LTBILL COSGROVE, NYPD:In diesem Augenblick wackelte das ganze Gebäude. Alle Lichter gingen aus. Es gab dieses gigantische Sauggeräusch. Wir glaubten, dass es unser Gebäude war, das einstürzte. Aber es war das andere. Der Druck riss die Fenster aus Turm eins heraus. Es herrschte völlige Dunkelheit.

WESLEY WONG, Leitender Special Agent, FBI New York: Ich machte ein paar Schritte und stolperte über etwas, das ich für einen Trümmerhaufen hielt. Ich konnte kaum die Umrisse des Schutzanzugs erkennen. Ich sagte zu ein paar anderen Feuerwehrleuten: »Hey, ich glaube, einer von euch liegt verletzt am Boden.« Zwei kamen herbei und versuchten, in der Dunkelheit etwas auszumachen.

LTBILL COSGROVE:Einer der Feuerwehrmänner richtete seine Lampe auf ihn – und ich kann mich noch erinnern, wie er ausrief: »Oh, mein Gott, das ist Pater Mike.«

WESLEY WONG: Wir hoben Pater Judge vom Boden auf und machten uns auf den Weg nach draußen.

LTBILL COSGROVE:Ich habe ihn an einem Arm getragen. Jemand anders hat den anderen Arm genommen. Zwei weitere Jungs die Füße.

WESLEY WONG: Wir setzten Pater Judge in den orangefarbenen Stuhl, der auf dem berühmten Foto von ihm zu sehen ist. Der Stuhl stand einsam im Zwischengeschoss herum. Einige der Feuerwehrleute begannen, sich um Pater Judge zu kümmern, und versuchten, seine Atmung zu unterstützen. Zu diesem Zeitpunkt war er bereits in äußerst schlechter Verfassung.

JOHN MAGUIRE, Finanzberater, Goldman Sachs:Ich konnte sehen, wie die Feuerwehrleute einen Mann auf einem Stuhl heraustrugen. Später habe ich erfahren, dass das Pater Mychal Judge war. Ich bot ihnen meine Hilfe an. Es waren fünf Männer nötig, weil man auf den Trümmern laufen musste und der Boden unter einem sich ständig bewegte, was das Gehen sehr erschwerte.

SHANNON STAPLETON, Fotograf, Reuters:Ich bemerkte, wie einige Rettungskräfte diesen Mann auf einem Stuhl trugen. Mir war gleich klar, dass das ein ziemlich starkes Motiv abgab. Sie waren nicht besonders glücklich darüber.

LTBILL COSGROVE:Ich erinnere mich, dass ich aufblickte, weil einer der Feuerwehrmänner einen Fotografen anschrie. Er sagte ihm in sehr deutlichen Worten: »Aus dem Weg mit dir.«

CHRISTIAN WAUGH:Damals dachte ich, dass es äußerst geschmacklos wäre, Pater Judge auf diese Weise zu fotografieren. Ich war hinter Shannon Stapleton her, dem Fotografen. Ich schrie auf ihn ein. Ich wusste, dass das Ding in einer halben Stunde im Internet zu finden sein würde.

JOHN MAGUIRE:Wir trugen ihn zu einer Straßenecke und legten ihn dort auf den Bürgersteig. Ich presste meine Hand auf seine Brust, denn ich dachte daran, Wiederbelebungsmaßnahmen einzuleiten. Keine Reaktion. Wir haben dann seine Hände zusammengefaltet und sein Gesicht mit einer Jacke bedeckt.

JOSE RODRIGUEZ, Polizist, NYPD:Wir knieten uns auf den Boden. Ich ergriff Pater Judges Hand. Er war bereits tot. Lieutenant Cosgrove legte seine Hand auf Pater Judges Kopf und wir sprachen ein Vaterunser.

BRUDER MICHAEL DUFFY:Die Feuerwehrmänner nahmen seinen Leichnam an sich. Weil sie ihn so sehr respektierten und liebten, wollten sie ihn nicht einfach auf der Straße liegenlassen. Sie trugen ihn eilig in die Kirche St. Peter. Sie liefen den Mittelgang hoch und legten seinen Leichnam vor dem Altar nieder. Sie bedeckten ihn mit einem Tuch. Auf dem Tuch platzierten sie seine Stola und seine Dienstmarke der Feuerwehr.

MONSIGNORE JOHN DELENDICK, Kaplan, FDNY: Mir wurde gesagt, dass der Leichnam von Mychal Judge in St. Peter liege. Ich bin dorthin gegangen – ich musste dafür einen Bogen laufen – und sie hatten ihn fast wie für eine feierliche Aufbahrung vor dem Altar gebettet. Ich habe ein wenig gebetet.

BRUDER MICHAEL DUFFY:Der Leichnam von Mychal Judge war der erste, der von Ground Zero geborgen wurde. Oben auf seinem Totenschein steht die Zahl »1«.

JAMES HANLON, ehemaliger Feuerwehrmann, FDNY:Er war das erste offizielle Opfer des Angriffs.

CRAIG MONAHAN, Feuerwehrmann, Ladder 5, FDNY:Ich glaube, er hätte es gar nicht anders gewollt. Es war, als hätte er die Führung übernommen – als hätte er all diese Engel geradewegs durch die Himmelspforte geführt. So erschien es uns zumindest. Sollte irgendeiner dieser Jungs auf dem Weg nach oben in Verwirrung geraten, so war er da, um ihnen den Übergang von diesem Leben ins nächste zu erleichtern.