/////// Während die Anschläge an diesem Dienstagmorgen ihren Lauf nahmen und sich die Nachrichten verbreiteten, verwirrten und verstörten sie die Kinder – und hinterließen bei ihnen über alle Altersklassen hinweg bleibende Eindrücke.
Babys
SHERYL MEYER, Mutter, Tulsa, Oklahoma: Mein Sohn wurde am zwölften einen Monat alt. Am elften wollte ich zum ersten Mal mit ihm im Kinderwagen spazieren gehen – in Oklahoma war es immer noch brütend heiß – und ich wachte auf, als mir mein Bruder nur kurz auf den Anrufbeantworter sprach: »Mach mal den Fernseher an.« Ich habe den ganzen Morgen unter Schock dagesessen und schließlich beschlossen, doch nach draußen zu gehen. Es war völlig surreal, wenn ein Flugzeug vorüberflog, und das passierte noch oft, während alle Flüge umgeleitet wurden, bevor der Luftverkehr endgültig eingestellt war. Ich weiß noch, wie ich meinen Sohn ansah und daran dachte, dass auch er eines Tages von diesen schrecklichen Ereignissen erfahren würde. Ich wünschte, er müsste nicht wissen, dass es derart Böses gibt.
Zwei Jahre
JENNA GREENE, Mutter, Maryland: Ich brachte meinen Zweijährigen gerade zum Kindergarten um die Ecke vom Weißen Haus und war spät dran. Wir hörten die ganze Fahrt über Kleinkinderlieder wie »Die Räder vom Bus« – ich hatte keine Ahnung, was los war, aber ich hörte viele Sirenen. Die Leiterin des Kindergartens fing uns am Eingang ab und wirkte gehetzt. »Geht nach Hause«, sagte sie. »Kehrt gleich wieder um und fahrt nach Hause. Hier ist es nicht sicher.« Auf der Rückfahrt hörte ich die ganze Zeit den Sender WTOP, und mein Sohn weinte und weinte – teils weil wir keine Kinderlieder mehr hörten, teils weil selbst er merkte, dass etwas Schlimmes passiert war.
Drei Jahre
BEAU GARNER, Michigan: Meine einzige Erinnerung ist die, dass meine Mutter vor dem Fernseher stand und Nachrichten schaute. Ich wüsste nicht, dass ich die Einstürze oder die Ansprache des Präsidenten gesehen hätte. Ich weiß nur, was das Ganze mit meiner Mutter machte. Die Bedeutung des Moments übertrug sich auch irgendwie auf mich, auch wenn ich nicht verstand; der 11. September ist für mich nicht bloß eine frühe Erinnerung, sondern meine frühste überhaupt. Nur eine aufblitzende Szene.
Fünf Jahre/Vorschulalter
LACHLAN FRANCIS, Vermont: Der 11. September ist die erste Erinnerung meines Lebens. Ich erinnere mich an eine bestürzte Mrs Blanchard, die uns sagt, dass wir heute früher nach Hause gehen. Meine Tagesmutter holte mich und die anderen mit ihrem Minivan ab und fuhr uns zu ihr nach Hause. Es war der einzige Tag bei ihr, an dem wir fernsehen durften. Meine Tagesmutter schaute sich in der Endlosschleife die Aufnahmen der Flugzeuge an, die in die Türme einschlagen, während sie verzweifelt versuchte, ihre Tochter anzurufen, die in Manhattan wohnte. Die anderen Kinder und ich hatten zwar keine Vorstellung vom Ernst und von der Tragik des Ganzen, aber wir saßen trotzdem gebannt vor dem Sofa und haben immer und immer wieder zugeschaut, wie die Flugzeuge in die Zwillingstürme krachten.
BLAKE RICHARDSON, Connecticut: Meine Mutter erzählte später, dass sie sofort zur Schule gefahren ist, um mich und meine Geschwister abzuholen, als sie im Fernsehen den Einschlag des ersten Flugzeugs sah. Sie erklärte mir, dass ein Flugzeug ins World Trade Center eingeschlagen war, und ich hatte keine Ahnung, was das bedeutete. Am nächsten Morgen haben wir uns mit der ganzen Vorschulgruppe auf dem Teppich in den Kreis gesetzt und darüber gesprochen. Ich weiß noch, dass ich verwirrt war, weil meine Mutter vom »World Trade Center« gesprochen hatte und meine Lehrerin »die Zwillingstürme« sagte, und ich dachte, das sind verschiedene Sachen. Von den anderen Flugzeugen habe ich erst vielleicht ein Jahr später gehört. Heute kann ich mir gar nicht vorstellen, wie schlimm es für meine Lehrerin gewesen sein muss, einem Raum voller Fünfjähriger so etwas Schreckliches zu erklären.
JING QU, Illinois: Meine Mutter hat in einem der Hochhäuser in der Nähe des Sears Tower in Chicago gearbeitet. Die Schule schickte die Kinder früher nach Hause, aber ich wusste nicht, warum. Meine Mutter kam auch früher nach Hause als sonst. Sie hat mich in die Badewanne gesetzt und gefragt: »Weißt du schon, was passiert ist?« Dann erzählte sie mir, dass es einen schrecklichen Unfall in New York am World Trade Center gegeben hatte, wo wir erst wenige Monate vorher gewesen waren. Von Terrorismus und Patriotismus hatte ich keine Vorstellung. Meine Mutter und alle anderen, die in den höchsten Gebäuden von Chicago arbeiteten, waren nach Hause geschickt worden.
Sechs Jahre/erste Klasse
KELLY YEO, Kalifornien: Der Himmel war grau, als meine Babysitterin mich weckte und mir sagte: »Heute gehst du nicht in die Schule. Es gibt Krieg. Böse Männer haben New York bombardiert.«
RIKKI MILLER, Michigan: Ich war in der ersten Klasse bei Mrs Smith. Wir hatten eine Frau zu Gast, die Nick Nase vorlas. Mrs Smith bekam einen Anruf. Einer nach dem anderen wurden wir nach draußen gerufen. Gegen Ende des Tages waren nur noch wenige von uns da – darunter meine Schwester, die Zweitklässlerin war, und ich. Als wir nach Hause kamen, hat meine Mutter uns von einem schrecklichen Anschlag erzählt, der viele Leben gekostet hatte. Meine Mutter wollte nicht, dass wir Angst vor der Schule kriegen, also wollte sie uns nicht zu Hause behalten.
ALMA M., Kalifornien: Die Erwachsenen haben sich alle irgendwie seltsam benommen. Sie waren alle ganz angespannt, und irgendwas war nicht richtig, alles war so still.
Sieben Jahre alt/zweite Klasse
ROBERT KORN, Florida: Ab etwa zehn Uhr wurden alle von ihren Eltern abgeholt. Meine Mutter holte mich und meinen besten Freund ab. Sie weinte. Sie und mein Vater waren beide auf Long Island aufgewachsen und hatten über zehn Jahre in Manhattan gewohnt, bevor sie nach Florida gezogen waren. Als wir nach Hause kamen, machte mein Vater meinem Freund und mir Sandwiches. Er war völlig fertig. Einer seiner Highschool-Freunde war Feuerwehrmann in New York. Später erfuhr er, dass sein Freund in einem der Türme umgekommen war, Thomas Joseph Kuveikis. Ich habe mich mit meinem Freund hinten auf die Veranda gesetzt; wir aßen unsere Sandwiches mit Erdnussbutter und Marmelade und schauten Nachrichten. Wir haben bestimmt drei Stunden dort gesessen, bevor meine Mutter wieder rauskam und auf den einen Sender umschaltete, der keine Nachrichten zeigte: Cartoon Network. Ich wusste, dass das alles nicht normal war, was da gerade abging.
TANIA COHEN, New York: Black-Hawk-Helikopter flogen über unser Haus in die Stadt. Meine Grandma ging in die Küche und machte einen großen Stapel Pfannkuchen.
HIBA ELAASAR, Louisiana: Ich war ein ziemlich schüchternes, leises Kind, aber ich hatte gerade meine erste Freundin gefunden. Nach dem Tag kam sie vorbei und sagte: »Wir können keine Freundinnen mehr sein, Hiba. Meine Mom hat gesagt, bevor das nicht vorbei ist, dürfen wir nicht.«
Acht Jahre/dritte Klasse
DENISE SCIASCI, Pennsylvania: Meine Lehrerin führte mich mit Tränen in den Augen die Treppe hoch und drückte mir die Hand, als wäre ich ihr eigenes Kind. Ich fragte mich, wie so etwas Schlimmes an so einem schönen, warmen Sonnentag passieren konnte.
ALEXA CERF, Washington, D. C.: Ich war die Neue in der Schule, und als unsere Lehrerin sagte: »Ihr wisst vielleicht noch nicht, was das Pentagon ist, aber es ist ein Gebäude, das für uns sehr wichtig ist«, dachte ich, sie meinte, wichtig für unsere Schule. Sie erzählte, dass ein Flugzeug dort auf dem Gelände abgestürzt war. Ich traute mich nicht zu fragen, welches Gebäude denn das Pentagon war, aber ich schaute aus dem Fenster und suchte nach einem abgestürzten Flugzeug.
REBEKKAH PORTLOCK, Alabama: Ich verstand zum ersten Mal, dass wirklich schlimme Sachen auch Leuten passieren konnten, die sie nicht verdient hatten.
JESSICA SWEENEY, New Jersey: »Ist deine Mom okay?« Ich starrte meine blonde Freundin Alex an, während der Rest unserer dritten Klasse fernsah. Alex' große blaue Augen schauten an mir vorbei, als sie sagte: »Ich weiß nicht. Sie hatte da heute Morgen ein Meeting.« Ich legte ihr die Hand auf die Schulter. Alex' Name stolperte aus dem Lautsprecher, und sie wurde ins Sekretariat gebeten. Ich gab ihr meine Packung Kekse mit Dipcreme, die mir meine Mutter für die Pause eingepackt hatte, bevor meine Lehrerin mit Alex nach unten ging. Nach ein paar Minuten kam Alex wieder in die Klasse und drückte mich mit Tränen in den Augen. Sie sagte: »Ihr Meeting in New York wurde abgesagt, als sie gerade hingefahren ist. Sie ist noch vor der Brücke umgedreht.«
MANAR HUSSEIN, New Jersey: Während die Nachrichtensprecherin zu erklären versuchte, dass wir angegriffen wurden, wurde auf dem Bildschirm die Textzeile eingeblendet: »Vermutlich Entführer von al-Qaida, einer islamischen Terrorgruppe …« Die Worte waren den Drittklässlern fremd, aber das Wort »islamisch« kannten sie gut, denn damit hatte ich mich an diesen ersten Schultagen vorgestellt. Ein paar Mitschüler starrten mich fragend an. Ich schämte mich unwillkürlich für etwas, das nichts mit mir zu tun hatte.
Neun Jahre/vierte Klasse
MATTHEW JELLOCK, Pennsylvania: Gegen Ende des Tages machte die Schule eine Durchsage, um uns über die Vorfälle zu informieren. Man ließ uns zu einer Schweigeminute aufstehen, während der Song »God Bless the USA« lief. Ich verstand, wie groß die Sache war, als ich nach Hause kam und fernsah. Es war eine traurige Erfahrung, und ich fragte mich: Warum? Warum ist das passiert?
SELENA GOMEZ, Texas: Alle waren ganz verstört.
KAREN ZHOU, Kalifornien: Ich war Eiskunstläuferin und habe an diesem Morgen im Fünf-Uhr-Sportblock trainiert. Was genau ich während des einstündigen Trainings gemacht habe, weiß ich nicht mehr, aber am Ende war ich glücklich. Ich rannte in die Cafeteria und bombardierte meine Mutter mit fröhlichen Fragen, ob sie auch richtig zugeschaut hatte. Ich rechnete damit, dass sie genauso fröhlich war, aber stattdessen war sie so kreidebleich wie alle anderen Eltern dort.
ELIZABETH ESTRADA, Texas: Ich wusste nicht, was und wo die Zwillingstürme waren. Ich saß auf einem der Tische und weinte. Meine vierjährige Schwester kam später mit ihrer Lehrerin in den Raum, um Nachrichten zu schauen. Ich setzte mich absichtlich hinter sie, damit sie mich nicht weinen sah. Auch wenn sie sicher nicht ganz verstand, was los war, hatte sie bestimmt Angst wegen all dem Aufruhr. Der 11. September 2001 war der erste Tag, an dem ich jemals an der Sicherheit meines Landes zweifelte.
KRISTIN CAMILLE CHEZ, Florida: Ich verstand nicht, warum jemand so vielen Leuten etwas antun wollte. Die Täter hatten die doch nicht alle gekannt, welchen Grund konnten sie also haben?
NICK WALDO, Alaska: Meine Mutter erzählte mir von Flugzeugen, die abgestürzt waren, und da wir ländlich in Alaska wohnten, dachte ich, irgendwo war ein Kleinflugzeug im schlechten Wetter runtergekommen. Ich wusste nicht, warum das so eine große Sache sein sollte. Dann fragte ich: »Ach, kannten wir wen, der an Bord war?«
Elf Jahre/sechste Klasse
DANA MEREDITH, Kansas: An meiner Grundschule war es Tradition, dass die sechsten Klassen für drei Tage in ein Naturerlebniszentrum fuhren. Meine Klasse fuhr vom zehnten bis zwölften September 2001. Am elften September war ich mit meinen Freunden draußen. Morgens fuhren wir Kanu, nachmittags gingen wir wandern und erkundeten einen alten Friedhof, und am Abend haben wir Fußball gespielt und Apollo 13 geschaut. Alles schien ganz normal, außer vielleicht die verschlungenen Kondensstreifen der Flugzeuge, die hatten umkehren müssen – davon habe ich immer noch ein Foto von meiner Kodak-Einwegkamera – und dass unsere Direktorin doch nicht wie geplant zu uns rauskam, weil es angeblich »Disziplinarprobleme« mit einem Schüler gab, eine Notlüge, wie ich später verstand. Bevor wir am nächsten Tag nach Hause fuhren, riefen unsere Lehrer uns zusammen und erklärten uns, was passiert war, auch wenn ich keine Vorstellung von der Bedeutung des Ganzen hatte und nicht mal wusste, was das World Trade Center war.
Zwölf Jahre/siebte Klasse
JOSE GODINEZ, Kalifornien: Es passierte, lange bevor ich zu meinem zweiten Dienstag der siebten Klasse aufstand. Die Lehrerin schaltete die Nachrichten ein. Ich klebte vor dem Bildschirm, fasziniert von den neuen Begriffen, die ich lernte. »Terrorismus« war vorher noch nicht Teil meines Wortschatzes. Und in Sachen Naher Osten wusste ich bis dahin eigentlich nur über das alte Ägypten Bescheid.
IRENE C. GARCIA, Kalifornien: Während sich meine Geschwister für die Schule fertig machten, schaute ich morgens meistens Cartoons. Ich weiß noch, dass ich genervt war, als ich durch die Sender schaltete und so ziemlich jeder dasselbe zeigte. Ich wollte doch nur meine Zeichentrickfilme sehen. Ich schaltete weiter, bis ich mir dann doch ansehen wollte, was los war. Aus einem Gebäude quoll Rauch, und der Sprecher sagte, es sei ein trauriger, tragischer Tag in New York.
MICHAEL, Pennsylvania: Ich schlug das World Trade Center im Klassenlexikon nach.
DAN SHUMAN, Minnesota: Hauptsächlich erinnere ich mich an das unausgesprochene Gefühl – das wohl nicht mal die Erwachsenen in Worte fassen konnten –, dass etwas Schreckliches, völlig Unverständliches passiert war, das schon jetzt alles für immer verändert hatte. Nach der Schule erzählte mein Vater mir davon, wie John F. Kennedy umgebracht worden war, als er acht war. Er sagte, auch das hatte Amerika überstanden, und genauso würde das Land das hier überstehen.
EMILY BOUCK, Florida: Mein Vater ist Pilot. Er arbeitete gerade. Alle Schüler der Middle- und Highschool wurden in die Sporthalle gebracht. Ich saß auf der Tribüne und war vollkommen aufgelöst. Meine Religionslehrerin holte mich raus und ging mit mir ins Büro des Direktors: »Weißt du, wo dein Vater ist?« Wusste ich nicht. Er war in einem der letzten Flugzeuge am Himmel, nachdem er auf halber Strecke Richtung New York wieder nach Fort Lauderdale hatte umkehren müssen. Als ich anrief, konnte er rangehen. Ich bin immer noch dankbar, dass er sich die wenigen Momente genommen hat, mir zu sagen, dass es ihm gut ging, und dafür, dass die Lehrerin sich um mich kümmerte.
KAT COSGROVE, New Hampshire: Ich verstand den Ernst der Lage nicht – ein paar Staaten entfernt waren Flugzeuge in ein paar Gebäude gekracht. Ich weiß nicht, ob ich vorher schon jemals das Wort »Terrorismus« ausgesprochen hatte. Als ich nach Hause kam, machte ich den Fernseher an, weil ich wissen wollte, was los war. Ich weiß noch, dass ich durch über hundert Kanäle schaltete und immer wieder die gleichen Bilder sah, wie die Zwillingstürme einstürzten. Ich zählte 31 Sender, die Liveberichte von den Anschlägen brachten. Als ich sah, dass sogar MTV und VH1 nur darüber sprachen, verstand ich endlich, wie groß die Sache war, und kriegte Angst. Auf einmal war es nicht mehr bloß ein Problem der Erwachsenen, sondern eins, über das auch ich Bescheid wissen sollte.
Vierzehn Jahre/neunte Klasse
KATHRYN MASTANDREA, Connecticut: Ich kam in den Sozialkundeunterricht, und mein Lehrer hatte angeschrieben: »›Der Religion ist es ein Gräuel, wenn Gräueltaten in ihrem Namen verübt werden‹ – Gandhi«. Ich konnte nicht glauben, dass es ein Terroranschlag gewesen war, ich dachte immer noch, dass es eine Verkettung schrecklicher Fehler war. Manche unserer Lehrer ließen die Nachrichten laufen, andere versuchten, Unterricht zu machen. Beim Mittagessen unterhielt sich niemand, und es stand eine Schlange bis weit durch den Schulflur vor den beiden Münztelefonen am Eingang. Wir wohnten in einer Schlafstadt New Yorks, und fast jede von uns hatte mindestens einen Elternteil, der in der Stadt arbeitete. Mein Vater arbeitete zwar nicht in Manhattan, war aber jede Woche auf Geschäftsreise. Ich stand also Schlange, ein flaues Gefühl im Magen, und wollte unbedingt mit meiner Mutter sprechen, damit sie mir sagen konnte, dass Dad okay war.
SEAN B., Alabama: In dem Jahr wollte ich etwas Neues ausprobieren, einen neuen Look, eine neue Identität. Ich lernte Skateboard fahren und war in einer Punk-Rock-Band. Ein Typ namens Steven saß vor mir. Er war in der zehnten Klasse, saß aber aus irgendeinem Grund mit bei uns in Physik. Steven war so, wie ich sein wollte – ich eiferte ihm nach. Sekunden nachdem der Fernseher angeschaltet worden war, und bevor ich ganz hatte verarbeiten können, was ich sah, beugte ich mich vor und flüsterte ihm zu: »Anarchie.« Er lachte, und ich kam mir sofort dreckig vor. Das Schuldgefühl wuchs weiter, während wir die Nachrichten schauten. Eine der größten Tragödien in der Geschichte unseres Landes, und mein erstes Wort dazu war ein Witz.
Fünfzehn Jahre/zehnte Klasse
LOURDES V. BAKER, Kalifornien: Zum ersten Mal verstand ich richtig, dass nichts einfach ist, dass manches niemals Sinn ergibt und dass manchmal schreckliche Sachen ohne guten Grund passieren. Es war das Ende meiner Kindheit.
BILL KUCHMAN, New York: Die stärkste meiner Erinnerungen an den 11. September betrifft den Kontrast zwischen diesem surrealen Tag und den monotonen Routinen, denen ich weiter folgte. Nachdem ich den Tag in der Schule verbracht und nach jedem neuen Informationsfetzen über die Terroranschläge Ausschau gehalten hatte, ging ich trotzdem noch zu meinem Highschool-Job in der Stadtbücherei. Ich war für den Abend eingeteilt, und es kam mir nicht in den Sinn, mit der Routine zu brechen. Ich ging zur Arbeit und brachte meine vierstündige Schicht hinter mich.
Ich kann nicht mehr sagen, woher ich wusste, dass unsere Lokalzeitung, der Rochester Democrat & Chronicle, am Nachmittag eine Sonderausgabe über den 11. September herausgebracht hatte, aber als mein Vater mich von der Bücherei abholte, wollte ich unbedingt eine haben. Nach einem seltsamen Abendessen bei Burger King fuhr mein Vater mit mir von Tankstelle zu Tankstelle, um noch ein Exemplar der Sonderausgabe zu finden. Um die Uhrzeit waren sie schon alle ausverkauft, aber diese stumme Fahrt durch die Stadt hat sich mir als zentrale Erinnerung an den 11. September eingebrannt.
Sechzehn Jahre/elfte Klasse
JON KAY, Kalifornien: Gegen sieben Uhr morgens änderte sich der Ton bei KFI AM 640 drastisch. Bill Handel las die Nachrichten vor, als wären direkt über dem Wilshire Boulevard Außerirdische gesichtet worden. Als ich meinen Mitfahrer abholte, kam ich mir mit meinen sechzehn Jahren plötzlich gar nicht mehr so erwachsen vor.
TAHLIA HEIN, New Jersey: Am 11. September wurden bei mir an der Highschool die Schülerfotos gemacht. Wenn man Glück hatte und Anderson oder Charles hieß, war man wahrscheinlich vor neun Uhr früh durch die Schlange in der Sporthalle. Dann hatte man ein echtes Lächeln. War man eine Daniels oder ein Elton, hatte man wahrscheinlich schon gehört, dass irgendwas passiert war – an der Highschool breitet sich jedes Gerücht rasend schnell aus –, war aber noch nicht wieder im Klassenraum gewesen, wo ein Fernseher stand. War man ein Gore oder eine Hein wie ich, hatte man Pech gehabt. Dann musste man sich die ganze schreckliche Sache ansehen und sich hinterher fürs Jahrbuch-Foto hinsetzen. Das Kommando »Lächeln!« klang wie eine Beleidigung.
Siebzehn Jahre/zwölfte Klasse
JOANNE FISCHETTI, Staten Island: Man sagte uns, wir sollten sofort nach Hause gehen. Ich ging mit meiner besten Freundin durch den Park, und wir unterhielten uns darüber, ob sich jetzt alles ändern würde, ob wir einen Abschlussball kriegen würden, ob wir aufs College gehen konnten, ob es nun Krieg gab, was nun mit Amerika passieren würde. Es war unfassbar, wie schnell man das Sicherheitsgefühl verlieren konnte.
College
MICHAEL SZWAJA, University of Illinois, Urbana-Champaign: Ich ging im Kopf noch mal alles durch, was ich am Abend vorher für den Test »Ethik im Journalismus« gelesen hatte. Als ich reinkam und mich schnell setzte, merkte ich, dass wir den Test nicht schrieben. Der Professor hatte auf den beiden Fernsehern in den Raumecken verschiedene Sender laufen, die beide über die Anschläge am World Trade Center berichteten. »Schaut einfach zu«, sagte er. »Der Unterrichtsplan für heute hat sich gerade geändert.«
MALLORY CARRA, New York University: Eine lange Schlange stand vor einem Münztelefon an, während gleichzeitig alle versuchten, mit dem Handy zu telefonieren. An den Computern in der Unibibliothek ging das Internet nur noch im Schneckentempo. Nachdem ich zehn Minuten lang immer wieder »neu laden« geklickt hatte, las ich meiner Freundin Jia schließlich die dreizeilige AP-Story vor. »Zwei Flugzeuge sind ins World Trade Center eingeschlagen.« Ich brauchte selbst einen Augenblick, bis ich verstand, was die Worte bedeuteten. In dieser Welt vor Twitter fasste ich meine Gefühle um 9:14 Uhr früh auf meinem LiveJournal zusammen: »omg ich hab Angst.«
DAPHNE LEIGH, Ripon College, Wisconsin: Ich rief meinen Freund Andy im Wohnheim an. Er klang verpennt. So ruhig wie möglich bat ich ihn, den Fernseher anzuschalten und mich dann zurückzurufen. Während ich weiterschaute, passierte es wieder [ein Flugzeug schlug in den zweiten Turm ein]. Mein Telefon klingelte fast sofort. Andy sagte, er habe es gesehen, und er wolle »sich freiwillig melden«. Ich wusste erst gar nicht, was er meinte. Er redete weiter, dass er jetzt seine Mutter anrufen musste, dass er sein erstes Unijahr noch abschließen wollte, dass er sich aber freiwillig melden wollte, weil man das so macht. Er tat es wirklich. Er ging noch in dem Jahr zur National Guard.
NATASHA WRIGHT, George Washington University, D. C.: Ich werde nie vergessen, wie surreal es war, zurück ins Wohnheim zu kommen und den Fernseher anzuschalten. Zu erfahren, dass es auch am Pentagon einen Anschlag gegeben hatte. Zu sehen, dass die Bewohner des Watergate gegenüber evakuiert wurden, während man uns verboten hatte, das Gebäude zu verlassen. Die Panik griff um sich; die Studentinnen auf meinem Stockwerk weinten zusammen. Manche packten ihre Sachen, um über die Brücke aus der Stadt zu kommen. Die meisten von uns saßen im Schockzustand herum. Ich habe die ganze Zeit geweint. Wir kannten uns kaum, aber das hat uns zusammengeschweißt.
DAPHNE LEIGH: Ich meldete mich bei Freunden zu Hause auf unserem einzigen Kommunikationsweg damals, weil wir alle übers Land verstreut waren – dem AOL Instant Messenger. Wir hatten alle die gleichen Ängste.
ERNIE SMITH, Michigan State University: Ich lebte zum ersten Mal nicht mehr zu Hause – ich war erst vor zwei Wochen ausgezogen. Wie die Flugzeuge in die beiden Türme krachten – das ist meine erste echte Erinnerung, als ich auf mich allein gestellt war.
MICHAEL SZWAJA: Das war der erste Moment, seit ich auf dem College war, in dem ich meine Eltern vermisst habe.
COURTNEY KIRKPATRICK, University of Texas: Auf einmal war das Leben draußen in der Welt viel zu viel.