Frühsommertage. Der Garten, der im Winter so schrecklich öde ausgesehen hatte, begann alles Mögliche zu enthüllen: Lupinen, Margeriten und irgendwelche wilden Kletterrosen, deren Blüten abfielen, wenn der Wind oder die Wäsche auf der Leine sie berührten. Obwohl es Mai war, herrschte noch immer Frost, und manchmal boten die Distelstauden morgens einen bezaubernden Anblick. Aufrecht, messerscharf, mit Silber bereift. Fast sechs Monate waren es jetzt. Altjungferntage und ungestörte Altjungfernnächte, in denen sie meist wach lag oder unruhige Träume hatte. Sie träumte oft davon, dass sie alle wieder zusammen seien, und im Traum begrüßte sie diese Idee, nicht aber im wirklichen Leben. Wenn sie Eugene sah, verhielt sie sich kühl, wachsam, gleichgültig. Die Eifersucht war verflogen. Einmal sahen sie ihn vom Bus aus, und Cash rief: »Sieh mal, Dada, Dada!« Es war spät am Abend, und er fuhr mit seinem Wagen, der selbst die Farbe der Dämmerung hatte, über einen Platz. Neben ihm saß jemand. Es hätte Maura sein können oder auch jemand Neues, aber sie wollte es gar nicht wissen. Sie wünschte, sie führen bis zum Horizont, schnurstracks aus der Welt hinaus, und überließen sie und Cash sich selbst. Ein Krieg bahnte sich an. Sie trafen sich nicht mehr, weil er ihr geschrieben hatte, es bereite ihm kein Vergnügen, ihr verstörtes Gesicht und ihre bösen kleinen Dolchaugen zu betrachten. Sie fand seinen Blick hasserfüllter als ihren, aber sie wusste, dass sie keine objektive Richterin war. Sie schmiedeten beide Ränke, jeder für sich, aber gründlich, beide fanden, dass ihnen totales Unrecht geschehen sei, beide sannen auf Rache, die auch die letzten, dürftigen Reste ihres einstmals »guten« Lebens zerfetzen würde. Sie täten es für Cash, sagten sie. Aber was ist ein Kind zwischen gekränkten Eltern? Nur eine Waffe.
Er hatte jemanden gefunden, und das musste sie auch. Aber wie anstrengend!
»Verdammt, du könntest doch jeden dazu bringen, dass er dich für freizügig hält«, sagte Baba immer wieder.
»Das will ich nicht«, sagte Kate. Und tat es auch nicht, bis zu einem besonders strahlenden Sommerabend, als ihr neues Telefon schrill und ganz und gar beunruhigend läutete. Niemand außer Baba und Eugene kannte ihre Nummer. Aber es meldete sich eine wildfremde Frauenstimme, die nach Kate fragte. Es stellte sich heraus, dass sie die Fotografin war, die einmal Fotos von Cash gemacht hatte.
»Sie verstecken sich ja wie ein kleiner, alter Maulwurf«, sagte sie. »Ich musste mir Ihre Nummer von der Auskunft geben lassen.«
»Wie geht es Ihnen?«, fragte Kate. Sie kannte die Frau kaum. Sie hatten sich einmal in einem Café getroffen. Der Frau hatte Cashs Gesicht so gut gefallen, dass sie Kate fragte, ob sie ihn für eine Ausstellung, die sie veranstalten wolle, fotografieren dürfe. Wie jedermann sagte sie nach dem Fototermin, sie müssten sich unbedingt wiedersehen. Sie erzählte, dass sie mit einem Verrückten zusammen lebe, der Figuren aus Pappmaché mache und Kate sicher gefallen würde.
»Mir geht es grauenhaft. Er hat mir den Schädel eingeschlagen, und ich sehe alles doppelt. O ja, er ist noch hier, natürlich«, fügte sie hinzu.
Das war das Niederschmetternde. Andere Männer und andere Frauen überlebten es, wenn sie sich gegenseitig abmurksten. Sie verglich das Verhalten anderer Leute stets mit dem von Eugene.
»Wann findet sie denn statt?«, fragte Kate. Die Frau hatte angerufen, um sie zu einer Party einzuladen. Das Wort ›Party‹ übte immer noch einen geheimen Zauber auf Kate aus – ebenso wie die Wörter ›Myrrhe‹, ›Eucharistie‹, ›Rosenwasser‹ oder ›Perlgraupen‹.
»Heute Abend«, sagte die Stimme. »Und Sie müssen unbedingt kommen.«
Warum nicht. Sie war zwar noch nicht ganz bereit für eine zweite Blüte, aber auch nicht mehr ganz abgeneigt. Ein Sommerabend. Und alle ihre Kleider waren wunderbar sauber und warteten nur darauf, ausgeführt zu werden. Seit sie in der Reinigung arbeitete, hatte sie immer alles blütenweiß. Außerdem war es zufällig der Abend, an dem Cash nicht bei ihr war. Sie und Eugene hatten ihn immer abwechselnd bei sich, und derjenige, bei dem er gerade war, brachte ihn am nächsten Tag zur Schule. Er war jetzt ein Schuljunge, der sein eigenes Leben führte und einen Schreibtisch, Bilderbücher und Buntstifte hatte, für die er verantwortlich war. Eines Tages sah sie seine Hausarbeiten nach und las in einem der Schreibhefte einen Aufsatz, für den er einen goldenen Papierstern bekommen hatte. Die Überschrift lautete: Mein Leben, und im Text hieß es:
Ich wohne mit meiner Mutter und meinem Vater in einer großen Höhle. Jeden Morgen geht mein Vater auf die Jagd, und wenn er Glück hat, fängt er einen Hirsch. Während er draußen ist, fegt meine Mutter die Höhle aus.
»Ja, ich werde kommen«, sagte Kate und schrieb sich die Adresse auf. Sie zog ein blaues Kleid an (Maria, Himmelsstern) und legte eine blaue Perlenkette um, die ihr wie ein Rosenkranz bis zum Nabel reichte.
Der Abend hatte eine Art goldenen Nachglanz, der die Welt in Bann hielt. Goldbeschienene Häuser spiegelten sich schräg im Wasser der Themse. Kleine Boote glitten lautlos vorbei, schweigende Männer bahnten sich mit Hilfe eines einzigen Ruders gleichmütig ihren Weg. Es war Flut; die Wasseroberfläche sah so sauber und solide aus, dass sie die Illusion erweckte, man könne auf ihr laufen wie auf einer schwankenden silbernen Straße.
Kate ging ein Stück zu Fuß und sah mit Erstaunen, wie fröhlich die Menschen waren, wie viele in leuchtend roten Pullovern unterwegs waren und wie viele Vögel umherflogen. Sie hatte vergessen, dass Vögel sangen!
Der Schlüssel steckte in der Tür, und der Lärm, der ihr entgegenbrandete, führte sie mitten in einen Raum voller Menschen und vieler, vieler Kerzen in vergoldeten Flaschen. Ängstlich blieb sie einen Augenblick auf der Schwelle stehen: Es ist ein Unterschied, ob man in ein Zimmer voller Menschen hineingehen soll oder ob man nur unterwegs an sie denkt, wenn die Fensterscheiben der Busse ein feuriges Gold sind. Die handgewebten Vorhänge waren zugezogen, der Abend ausgesperrt. Die Musik war so laut, dass sie kein Gesicht erkennen konnte; sobald ihr Hörsinn beeinträchtigt war, schien sie auch nicht mehr sehen zu können. Schlechte Koordination. Ein Mann, irgendein Mann, in einem Sporthemd kam auf sie zu und begrüßte sie.
»Sie sind eben erst gekommen, und Sie sehen so verloren aus in Ihrem hübschen Kleid, und wie heißen Sie, und was tun Sie?«
Sie fragte, ob er der Pappmachémann sei, und als er verneinte, fühlte sie sich nicht verpflichtet, höflich zu sein. Sie hörte sich sagen, dass sie sich meist so durchwurstele. Er stieß ein sattes Lachen aus und bat sie, ihm mehr von sich zu erzählen.
Sie ließ ihn stehen und ging zu dem Tisch mit den Getränken, zu ihrer Gastgeberin, die Goldlamé trug – passend zu den Flaschen, in denen die Kerzen steckten.
»Sie sehen ja so verändert aus, meine Liebe. Was ist geschehen?« Die leicht heisere Stimme schlug ihr entgegen. Kate ging mit einem Lachen über die Frage hinweg und ließ sich einen Whiskey einschenken. Schließlich war der Gastgeberin gerade der Schädel eingeschlagen worden. Womöglich hatten auch alle anderen in diesem Raum eine Katastrophe hinter sich, warum also sollte sie sich bemitleiden lassen?
»Machen Sie sich einfach selbst mit allen bekannt, meine Liebe«, sagte die Gastgeberin. Kate schaute sich um. Zwei Westinder debattierten. Hochgebildet. Sie überlegte, ob sie ihnen von dem Schild erzählen sollte, das sie in der U-Bahn gesehen hatte und auf dem stand: NIGGER, HÄNDE WEG VON UNSEREN FRAUEN. Aber vielleicht würden sie nicht lachen. Vielleicht würden sie ihr sagen, sie solle abhauen. Es hatte eine Zeit gegeben, da hätte sie mit jedem ins Gespräch kommen können. Der Mann, der sie zuerst begrüßt hatte, bemerkte es und kam herüber. Er hieß Roger. Im Scherz begann er, sie mit ihrer eigenen Kette zu erwürgen.
»Sie sind ein bisschen aufdringlich«, sagte sie, war aber dennoch dankbar. Er sah sehr gut aus, und das beunruhigte sie. Seit Monaten hatte sie Baba Vorträge darüber gehalten, wie zufällig körperliche Anziehung sei. Sie war sogar zu dem Schluss gekommen, dass sie sich in Eugene nie verliebt hätte, wenn er nicht eine solche Grabesmiene gehabt hätte.
»Ich bin zurückhaltend«, sagte er. »Außer, wenn ich einer sehr schönen Frau begegne …« Er war so affektiert, dass es sogar aufrichtig gemeint sein konnte.
Offenbar war er allein, denn kein weibliches Wesen hielt nach ihm Ausschau, wie weibliche Wesen es noch in den überfülltesten und schlechtest beleuchteten Räumen zu tun pflegen. Er stand viel zu dicht neben ihr – Hüfte an Hüfte, könnte man sagen.
»Hören Sie sich das an«, sagte sie mit geheuchelter Gleichgültigkeit. Die Frau neben ihnen erzählte gerade einer anderen, sie solle Daphne anrufen, denn Daphne wisse, wo man Antiquitäten fast umsonst bekomme, und Daphnes Klo sei sehr traditionell eingerichtet, und Daphne kenne haufenweise gutaussehende, potente, alleinstehende Männer.
»Ich denke, Sie brauchen keine Daphne«, sagte er.
»Antiquitäten könnte ich brauchen«, sagte sie und dachte an ihre vier Zimmer, von denen zwei – abgesehen von den Teekisten und den Papierbogen im Kamin, auf die der Ruß fiel – noch leer standen. Sie war drauf und dran, ihm davon zu erzählen, als er fragte: »Sind Sie verheiratet?« Sie trug noch den schlichten Goldring, den sie vor langer Zeit gekauft hatten.
»Ja«, antwortete sie. Da trat ein Mädchen von hinten an ihn heran, schlang ihm ihre dünnen, gebräunten Arme um den Hals und verschränkte ihre Hände mit seinen. Kate machte sich davon. Sie nahm sich selbst das Versprechen ab, sich niemandem anzuschließen, sich niemandem anzuvertrauen, sondern durch die Party zu huschen, zu kommen und zu gehen wie die weichen goldenen Nachtfalter, die durchs offene Fenster hereinflogen, umherflatterten und wieder hinausflogen. Allerdings steuerten manche von ihnen auch stracks auf die Kerzenflammen zu!
In der Küche gab es etwas zu essen. In einem großen Topf brodelte klare Brühe. Sie erinnerte sie an die Suppe, die sie auf dem Waterloo-Bahnhof probiert hatte. Trotzdem schenkte sie sich einen Becher ein. Vielleicht würde jemand Vernünftiges kommen und sich mit ihr unterhalten.
»Das ist wirklich klasse«, sagte ein kleiner Schotte zu einem anderen kleinen Schotten, von Zeugen umstanden. Sie alle schrieben Theaterstücke oder Sonette oder Reklametexte für Zahnpasta; sie alle hatten etwas Wichtigtuerisches zu sagen.
»Sind Sie eine irische Krankenschwester oder eine irische Barfrau oder eine irische Nutte?«, wurde sie von einem freundlichen, spitzbärtigen Mann gefragt.
Sie tat, als ob sie taubstumm sei, und auch das brachte die anderen zum Lachen.
Es kamen immer mehr Leute herein, die den Suppendampf gerochen hatten. Sie hielten das Gelächter für echt und redeten einander mit vertrauten Namen an: Do und Jill und Issa, Abkürzungen von längeren Namen, die den Leuten das Gefühl gaben, sie würden nie wieder ganz so einsam sein.
»Er benutzt Schaumstoffeinlagen et cetera«, sagte ein Spaßvogel über einen Mann, der als Frau posierte. Die Geschichte trug ein Gütesiegel, denn der Poseur war Fernsehschauspieler.
»Meine Haare wachsen jeden Tag einen Zoll. Ich sitze im Bett und gucke zu, wie sie wachsen«, sagte ein Mädchen, das wie ein angehender Filmstar aussah. Es war dieselbe, die Roger die Arme um den Hals gelegt hatte. Sie kaute an den Spitzen ihrer lederfarbenen Haare und wartete darauf, dass jemand sagte, wie aufreizend das sei.
»Wenn Clarissa Hunger hat, isst sie einfach ihre Haare«, sagte Roger pflichtschuldig. Ein Ja-Mann.
»Erstaunlich«, sagte Kate mit gequältem Humor. Sie wandte sich an Clarissa, meinte aber ihn: »Wenn Sie in einem Chor mitsängen, würden Sie sicher in der ersten Reihe stehen.«
Wie bissig sie geworden war! Sie ging weg und tat, als wärme sie sich die Hände an dem Becher mit der Suppe, die aber längst kalt geworden war.
Im Nebenzimmer wurde getanzt. Sie schlich sich hinein und fand einen Hocker. Unterwegs griff sie sich einen Drink und trank ihn zu ihrer Suppe. Der Teppich in dem kleinen, dunklen Zimmer war aufgerollt, und es wimmelte von Leuten, die sich schüttelten und wackelten und mit den Armen schlackerten und wie verrückt ihre begehrlichen Köpfe kreisen ließen. Manchmal, in der Pause zwischen zwei Schallplatten, standen die verschiedenen Paare für einen kurzen Augenblick beisammen, und die Frau lächelte einfältig, und der Mann packte sie im Schritt, um seine Ansprüche geltend zu machen, so wie er im Pub, ehe er auf die Herrentoilette geht, in sein Glas spucken würde. Ein Mann fragte einen Rotschopf, ob ihre Haare unten dieselbe Farbe hätten.
»Komm, Puppe, du tanzt ja gar nicht.« Neben Kate stand ein großer Mann. Sie sah hoch und drehte den Kopf langsam von einer Seite zur anderen, um, wie sie es mal gelernt hatte, ihre Nackenmuskeln zu entspannen.
»Ich trinke«, sagte sie.
»Du tanzt ja gar nicht«, wiederholte er. Er hatte ein rötliches, freundliches Gesicht und goldgelbe Wimpern. Sie hätte sich gern mit ihm unterhalten. Sie hätte ihm gern gesagt: »Ich kann nicht tanzen. Ich trinke, statt zu tanzen, oder ich weine.« Und sie hätte gern gesagt: »Bring mir das Tanzen bei«, oder: »Wie viele von diesen Leuten schlafen miteinander?« Aber er bewegte nur die Schultern und schnalzte mit den Fingern im Takt zu der lauten Musik.
»Du willst nicht?«, fragte er. »Bist du so altmodisch?«
»Später«, sagte sie. Er ging auf die Tanzfläche und tat sich mit einem Mädchen zusammen, das aus Trotz allein zu tanzen begonnen hatte. Sie war groß, sah jungenhaft aus und trug eine lederne Hose.
Kate blieb sitzen, beobachtete alles sehr genau und versuchte, im Geiste mitzutanzen. Sie schüttelte die Arme, die Beine, die Hüften, die Schultern, traute sich aber nicht, aufzustehen und mitzumachen.
»Na, wie finden Sie’s?«, rief ihr der Pappmachémann zu.
»Großartig, großartig«, sagte sie. Die Losung. Er tanzte mit einem Mädchen, das einen Erdbeerkorb auf dem Kopf trug, um größer zu wirken. Er warf einen Blick auf Kates silberne Sandalen. Sie waren zehenfrei und hatten ein Riemchen, dünn wie ein Mäuseschwanz, über dem Spann. Träge hielt sie seinem Blick einen Augenblick stand, dann schaute sie sich um, wo es noch etwas zu trinken gab. Sie goss etwas aus einem herumstehenden Glas in ihres und trank gierig. Wenn schon sonst nichts, würde sie sich eben betrinken. Jetzt waren zwei Plattenspieler in Gang, und zwei verschiedene Songs plärrten durcheinander. Die Gesichter der Tanzenden waren verzerrt vor Anstrengung und Misstrauen, und allen stand der Schweiß auf der Stirn. Es war heiß im Zimmer und unbehaglich und laut. Leicht beschwipst, wie sie war, dachte Kate darüber nach, was wohl das Kühlste gewesen war, woran sie sich erinnern konnte: die Ausdünstung frischen braunen Lehms, der unhörbare Dufthauch eben gestochener Torfsoden.
Es war eine Angewohnheit von ihr, in einem schlechten Augenblick an einen schöneren zu denken. Sie dachte an einen Tag, als Eugene nackt durchs Schlafzimmer ging und sie zu ihm sagte, die Hoden eines Mannes seien so delikat wie reifende Trauben. Es musste im Sommer gewesen sein, einmal, weil er nackt herumlaufen konnte, ohne zu frieren, und dann, weil ihr der Anblick hängender Weintrauben noch frisch im Gedächtnis war. Weit entfernt und unwiederbringlich verloren, alle diese Momente. Und mit ihnen war ein Teil von ihr gestorben.
»Komm, ich habe eine Erektion, lass uns gehen«, sagte der Pappmachémann zu dem Mädchen mit dem Erdbeerkorb, und beide schossen zur Tür hinaus. Kate folgte ihnen verblüfft. Sie wollte sehen, ob es bloß Angabe war.
Im Schlafzimmer waren sie jedenfalls nicht. Auf dem großen Doppelbett türmten sich Mäntel, und an einer Seite des Bettes lag ein Baby in seinem Bettchen und starrte mit unergründlichen dunklen Augen an die Decke. Augen, wie nur Säuglinge sie haben – Augen wie Tintenpulver, wenn die ersten Tropfen Wasser hinzugefügt werden und es immer noch ein undurchdringliches Blau ist. Das Baby ließ die Unterlippe hängen und schien weinen zu wollen, als Kate sich zu ihm hinabbeugte, aber einfallsreich, wie sie war, erinnerte sie sich eines Spiels aus Cashs Säuglingszeit. Sie duckte sich hinter den Wall von Mänteln, tauchte auf, duckte sich wieder und tauchte wieder auf, bis das Gejauchze des Kindes andere Leute anlockte. Seine Mutter kam und schüttelte das Kissen auf, um zu beweisen, dass sie die Mutter war. Auch Roger kam, stellte sich neben Kate und sagte: »Sie müssen eine sehr warmherzige Person sein.«
»Bin ich«, sagte sie. »Ich helfe blinden Männern über die Straße«, und aus irgendeinem vergrabenen Instinkt heraus steckte sie dem Kind den Finger in den Mund, damit es daran knabberte.
»Au«, machte sie und zog den Finger rasch zurück. Dann zu Roger: »Traue nie den Unschuldigen, das Kind hat mich gebissen.« Er machte den Mund auf und schnappte ins Leere, als ob er in einen Apfel beißen wollte, der an einer Schnur von der Decke herabhing. Er bewunderte ihre Wangenknochen. Er fragte, warum sie nicht getanzt habe und warum sie ein so spöttisches Gesicht mache. Er habe sie durch den Türspalt beobachtet. Sie wollte ihm die Wahrheit sagen, dass sie müde sei und sich linkisch vorkomme und um einiges älter als fünfundzwanzig, doch stattdessen hörte sie sich etwas ganz anderes sagen.
»Die schreien alle so und spielen sich auf, und keiner hat Format«, sagte sie. Sie war jetzt regelrecht betrunken und gebrauchte Wörter, die affektiert waren und überlegen klingen sollten. Er fragte, woran sie denke.
»Ich habe an Lehm gedacht.«
Sie hätte nichts Verheißungsvolleres sagen können: Jetzt hielt er sie für originell. Wo sie denn herkomme?
»Aus Irland«, sagte sie. »Westirland.« Aber sie erzählte ihm nichts von den sumpfigen Feldern, den braunen, baumlosen Mooren, den meilenweiten menschenleeren Landstrichen mit grauen Ruinen am Horizont: den Orten, aus denen sie ihre Untergangsstimmung bezog.
»Auf einem Hügel liegt eine einsame Burg«, sagte sie, als ob sie ihr gehöre, »und sie ist noch völlig erhalten, sogar die herrlichen steinernen Fensterrahmen, und immer steht da, wie angewurzelt, an einer Felsspalte ein weißes Pferd. Dort würde ich gern leben.«
Lügen. Lügen. Er fiel darauf herein und sagte, er oder vielmehr sie beide müssten eine Pilgerreise unternehmen und auf weißen Pferden über die Moore reiten bis hin zum schäumenden Meer. Sie hatte ein paar Einzelheiten eingefügt, damit er ihr die Gegend wieder beschreiben konnte.
»Pst, pst«, sagte Kate und legte ihm den Finger auf den Mund. Das Baby schloss die Augen. Sie hatte vergessen, welch furchtbare Angst einen in dem Augenblick befällt, da ein Baby einschläft – dass es nicht einschlafen könnte. Sie musste an Cash denken und hatte das Gefühl, ihm untreu zu sein. Dann hängte sie einen Schal über die Seite des Kinderbettchens, damit die Nachttischlampe nicht so grell hineinschien, und sah lächelnd auf. Sie wusste gar nicht mehr, wie angenehm es war, einem Mann dabei zuzusehen, wie er ihr verfiel.
»Ihretwegen hat die Party sich gelohnt«, sagte er.
»Und wie steht’s mit den anderen?«, fragte sie und meinte die blöden, schwatzhaften, klebrigen, taufeuchten Weiber.
»Die sind alle schön«, sagte er. Schuft. Zumindest eine abgedroschene kleine Lüge hatte sie erwartet.
»Ich muss bald gehen«, sagte sie mit einem Blick auf ihre billige Armbanduhr, als ob diese ihre Rettung sei. Eine Frau, die gerade hereingekommen war, um ihren Mantel zu holen, hatte einen Streit mit zwanzig anderen Mänteln, die sie auf den Boden warf.
»Such mir meinen verdammten Mantel und bring mich nach Hause«, sagte sie zu Roger. Kannte sie ihn? Vielleicht nicht. So machte man das heute eben, so verschwanden die Leute paarweise. Viele sahen sich zum ersten Mal und legten sich zusammen auf ein Bett, das einem von ihnen fremd war. Kate erschauerte und sehnte sich nach der Sicherheit eines Taxis, das sie nach Hause brächte.
»Aber ich habe schon ein Mädchen«, sagte Roger und stellte Kate vor.
»Dann haste zwei«, sagte die Frau patzig. »Bist doch ’n Mann, oder?« Er wiederholte, dass Kate sein Mädchen sei, und wandte sich ihr zu, um es sich bestätigen zu lassen. Inzwischen willenlos, ein wenig betrunken, in der Falle gefangen, ließ sie es zu, dass seine Hand mit einer langsam kreisenden Bewegung ihren Bauch streichelte.
Auf dem Weg nach draußen entschuldigte er sich für eine Minute. Um auf Wiedersehen zu sagen, um eine Verabredung für später mit der betrunkenen Frau zu treffen oder um eine Flasche zu stibitzen? Na wenn schon.
Sie fuhren in die entgegengesetzte Richtung ihres Hauses. Sie wollte ihm etwas sagen, ihn fragen, wohin sie fuhren und was er vorhatte. Ab und zu nahm er die Hände vom Lenkrad, schnippte mit den Fingern und schob die Schultern vor und zurück, als ob er tanze und dem Lenkrad Eindruck machen wolle. Er hatte das Radio angestellt.
»Vorsichtig«, sagte sie. In Augenblicken der Gefahr dachte sie immer an Cash.
»Ich bin nie vorsichtig, ich jage dem Tod nach«, sagte er.
Für alle Fälle stützte sie sich mit einer Hand am Armaturenbrett ab.
Sie fuhren zu einer Straße mit einem Pflanzennamen. Dort lag seine Wohnung.
»Diese Straße werde ich mir merken«, sagte sie. Die Milde und Wärme des Abends erfüllte sie noch immer mit einer Spur Freude, und sie streckte die Hände aus, um nach irgendetwas zu greifen.
Sie wünschte, sie könnten spazieren gehen. Lange spazieren gehen, um es hinauszuschieben oder vielleicht ganz zu vermeiden. Für sie war es ein Luxus, nachts spazieren zu gehen, denn sie hatte keinen Mann zur Begleitung. Keine friedfertigen Freunde.
»Du bist ungewöhnlich«, sagte er, »und schön, und ich will dich.«
Sie hatte sich noch gar nicht richtig mit der Frage des Beischlafs befasst. Sie hatte mit ihr gerechnet und doch auch wieder nicht. Sie war unsicher, was sie tun sollte. Liebten andere Leute so, wie sie es gewohnt war, oder gab es Bettgeheimnisse, die sie nicht kannte? Nur mit einem Mann zusammen gewesen zu sein war ein ziemlicher Nachteil. Sie stiegen die hohen Stufen zur Haustür hinauf, dann eine Treppe, dann noch eine und noch eine. Sein Zimmer war eine Mansarde mit einer Bodentür. Er bediente einen Flaschenzug, der Fußboden hob sich, und sie erklomm noch ein paar Stufen und betrat einen Raum, der groß und unordentlich war und zu beiden Seiten zwei riesige Fenster hatte. Er knipste das Licht an und nahm ein paar Kleidungsstücke von einem Sessel, damit sie sich setzen konnte. Die Tür senkte sich langsam, füllte das Loch im Fußboden aus und schloss sich endlich mit einem leisen, dumpfen Geräusch. Es war wie in einem Gefängnis. Wann immer sie in Zukunft das Wort ›Party‹ hörte, würde sie an die freiwillige Einkerkerung denken, die danach kam.
»Dir ist ja mit einem Mal ganz kalt«, sagte er. Sie saß dicht neben ihm auf dem Bett, und sie tranken Wodka aus Zahnputzbechern. Eine weiße Katze mit einem Buckel saß vor ihnen und beobachtete sie.
»Ich will dich«, sagte er und biss sie mit der gleichen Geste, mit der er vorhin in den imaginären Apfel gebissen hatte, ehe er die Bemerkung über ihre Wangenknochen machte.
»Gequälte Augen«, sagte er, »und groß.«
»Manchmal groß, manchmal klein, hängt vom Grad der Müdigkeit ab«, sagte sie und stand auf. Um unbeteiligt zu bleiben, um kühl zu bleiben, um gefühllos zu bleiben. Sie saß in der Klemme, und das konnte jeder ausnutzen. Sie hätte alles hergegeben für ein bisschen Liebe.
Im Badezimmer standen drei verschiedene Farben Lidschatten in kleinen, runden Dosen. Drei verschiedene Augenpaare hatten in den gesprungenen Spiegel geblickt, aus diesen gestreiften Zahnputzbechern getrunken und ganz dicht neben ihm auf dem Bett gesessen. Außerdem hing da ein Kupferring an einem Zweig. Dinge, zurückgelassen von Leuten, die sicher waren, dass sie wiederkommen würden. Die Tür zwischen Bad und Schlafzimmer fehlte. Wie sollte sie das Klo benutzen, wenn sie das Bedürfnis verspürte? Er winkte vom Bett aus zu ihr herüber. »Hallo«, sagte er. Als sie herauskam und er hineinging, läutete das Telefon. Sie nahm den Hörer ab, aber es meldete sich niemand.
»Lass sein«, sagte er. Er stand ein paar Minuten vor der Toilettenschüssel, und vor der Wand konnte sie seine dunkle Gestalt und seine Hand sehen, mit der Handfläche nach unten.
»Ich kann nicht«, sagte er. Dann war er also in ihrer Gegenwart ebenso scheu wie sie in seiner. Erleichtert ging sie zu ihm und hielt seine Hand, und beide beteten sie um das Pipi und warteten darauf, so wie Menschen während einer Dürre auf Regen warten. Sie sagte, sie möge den Geruch von frischem Pipi; es rieche erst eklig, wenn es länger stehe. Und sie fragte, ob er schon bemerkt habe, wie rot es werde, wenn er Rote Beete esse.
»Noch nie Rote Beete gegessen, nur Rhabarber«, sagte er. Zum Spaß sagte er ›Rhabarber‹ rückwärts. Sie sagten es beide ein paarmal, und dann kam das Pipi, und gerade, als sie sich hinsetzen wollten, um es zu feiern, läutete das Telefon erneut.
»Das muss Donald sein«, sagte er.
»Wer ist Donald?«, fragte sie und bezweifelte seine Antwort, noch ehe sie sie gehört hatte.
»Donald ist ein lieber kranker Mann, den ich besuchen muss«, sagte er.
»Wann?«
»Jetzt. Heute Abend. Ich habe es ihm versprochen.«
»Ich werde mitkommen«, sagte sie.
»Nein, das wirst du nicht. Du wirst hier warten.« Er umfasste ihre Schulter und sagte, sie solle nicht kindisch sein, sie müsse ins Bett und schlafen, und wenn er zurückkäme, würde sie erfrischt aufwachen. Er zündete sich eine Zigarre an, hielt ihr die rote Glut vor ein Auge und zog sich die Wildlederjacke über, die er ausgezogen hatte, als sie hereingekommen waren. Er leckte einen Finger an und fühlte ihr damit den Puls. Eine kleine Taufe.
»Warte hier«, sagte er. Sie war überzeugt, dass er zu einer anderen Frau gehen wollte. Er zog wieder am Flaschenzug, ging die Treppe hinab und hob auf der letzten Stufe den Kopf, um ihr zuzunicken, dann schloss sich die Tür und wurde wieder ein Teil des Fußbodens, und diesmal war es wirklich ein Gefängnis. Die bucklige Katze beobachtete sie, und hinter den beiden einander gegenüberliegenden Fenstern war es dunkle Nacht. Ein Flugzeug flog vorbei, die grünen Lichter genau auf Augenhöhe. Sie sollte schnell die Treppe hinuntergehen, ehe ihr die Tür auf den Kopf fiel und sie k.o. schlug. Das sollte sie tun, und das könnte sie auch. Die Katze rührte sich nicht. Vor dem Bleiben fürchtete sie sich eine Spur weniger als vor dem Gehen. Deshalb blieb sie. Dieser Kerl! Ringsum waren Bücher, sie hätte lesen oder stöbern und nach kleinen Hinweisen auf sein Leben suchen können, aber sie saß einfach da und starrte durchs Zimmer auf das Fenster, an dem das Flugzeug vorbeigeflogen war. »Es ist ganz schön weit mit mir gekommen«, sagte sie laut und dachte: Wo sind jetzt die Skrupel aus der Klosterschule? Er hatte sie nicht gezwungen, sie war freiwillig gekommen, um ein wenig – ja, was eigentlich zu erlangen? Befriedigung wahrscheinlich. Zwecklos, es zu beschönigen. Ein schlichter Fall körperlichen Ausgehungertseins. Schließlich zog sie Schuhe, Strümpfe und Miederhöschen aus und steckte sie hinter das Ledersofa, wo sie ihm nicht gleich ins Auge fallen würden. Nach etwa einer Stunde zog sie auch ihr blaues Kleid aus und legte sich zwischen die Laken, die mit getrockneter weißer Farbe bespritzt waren.
Als er zurückkam, lag sie im Halbschlaf.
»Ich bin noch da«, sagte sie, setzte sich auf und barg verlegen ihr Gesicht in den Händen.
»Pst, pst, weiterschlafen«, sagte er, zog sich aus und legte sich leise neben sie. Ein paar Minuten lang geschah nichts. Sie legte ihre Hand auf seine und drückte sie etwas zu fest. Wie schrecklich, wenn er sie jetzt zurückstieß. Wie ungehörig. Er schien kalt, maßvoll. Vielleicht war er weggegangen und hatte … Beschämt schloss sie die Augen, außerstande, den Satz zu Ende zu denken.
»Möchtest du lieber erst schlafen?«, fragte sie. Das traf ihn. Er rückte heran und legte sich mit seinem ganzen Gewicht auf sie. Die zärtlichen Worte, die langen Liebkosungen, die unglaubwürdigen leisen Geständnisse, für sie Vorboten der Liebe – all das fehlte. Reine Routine. So wie er in einem öffentlichen Gebäude einen Feuerlöscher in Gang gesetzt hätte, wenn jemand ›Feuer, Feuer‹ gerufen hätte.
»Du willst ja gar nicht wirklich, dass ich mit dir schlafe«, sagte er. Offenbar seine Art zu sagen, dass er nicht wollte. Sie beobachtete, wie sein Interesse an ihr schwand, wie sie es früher schon bei anderen hatte schwinden sehen. Der sofort wirkende Liebestrank hatte sich wieder einmal als nutzlos erwiesen.
Sie fuhr ihm mit den Fußsohlen über die Unterschenkel und beschleunigte das Tempo, um Leidenschaft vorzutäuschen. Sie erinnerte sich, wie oft sie sich gewünscht hatte, mit einem Mann zusammen zu sein, und nahm sich vor, das Bestmögliche aus der Situation zu machen. Vielleicht musste es für einen weiteren Winter reichen.
»Du willst einen Orgasmus«, sagte er brutal. Sie hatte davon gehört, dass Homosexuelle, die sich zur Täuschung oder aus Eitelkeit zwangen, mit Frauen zu schlafen, diesen gern derartige Demütigungen beibrachten. Sie schüttelte bloß den Kopf und lächelte. Gewöhnlichkeit, Gleichgültigkeit, Lieblosigkeit – all das überraschte sie nicht mehr. Sie hatte einen Orgasmus gewollt, aber jetzt wünschte sie nur, dass sie sich voneinander lösen könnten, ohne das Gesicht zu verlieren.
»Analysiere uns nicht«, sagte sie, küsste seine Schulter und bewunderte verstohlen deren kostspielige Bräune. Lieber Gott, dachte sie, ich verachte ihn. Wenn es eine Möglichkeit gäbe, ihn jetzt leiden zu lassen, würde ich es tun. Wenn er sagte, seine Frau sei mit seinen Kindern durchgebrannt, würde ich das letzte bisschen Mitleid hinunterschlucken und lachen. Zum ersten Mal gestand sie sich ihre eigene Herzlosigkeit ein, zum ersten Mal wurde ihr bewusst, dass ihr Interesse an Menschen ausschließlich von ihren eigenen Bedürfnissen hervorgebracht wurde. Und voller Wehmut dachte sie an das kleine Mädchen – sie selbst –, das einmal geweint hatte, als ein Arbeiter sich die Mistgabel durch den Fuß gejagt hatte. Es schien, als hätten die weltlichen Freuden sie gierig gemacht.
»Alle Frauen, die ich geliebt habe, lieben mich noch«, sagte er.
»Viele?«, fragte sie, um ihn aufzuheitern.
»Viele«, protzte er und sprach das Wort so gedehnt aus, als ob er eine ganze Prozession von ihnen vor sich sähe; liebliche Vestalinnen.
»Eine bestimmte Altersgruppe?«
»Jung«, sagte er.
Und er war es gewesen, der ihr in dem Menschengewühl auf der Party gesagt hatte: »Was dir im Leben fehlt, muss ich dir geben«, und sie hatte sich davon berauschen lassen.
Sie streichelte seinen Rücken, fragte, woher er so braun sei, drehte ihr Gesicht von links nach rechts, lächelte, runzelte die Brauen, machte kleine Scherze – alles nur, damit er glaubte, sie täte so etwas oft und sei keine Anfängerin in fremden Betten. Sie dachte an eine Wandkritzelei, die sie einmal in der Toilette eines Pubs gesehen hatte: Ich habe Charles vor sechs Tagen geheiratet, und er hat mich immer noch nicht gefickt – die Rohheit hatte sie schockiert, so wie ihre eigene Rohheit sie jetzt schockierte. Verzweifelt umarmte sie ihn, drückte ihre Fingernägel in seinen Rücken, bettelte um Küsse. Sie, die so läufig mit in seine Wohnung gekommen war, war jetzt ernüchtert und ging ganz methodisch vor! Aus Anstand würde sie ihn erregen und, wenn es so weit war, Delirium heucheln müssen. Was für ein Betrug. Besonders, wenn man sich vorgenommen hatte, etwas für sich selbst dabei herauszuholen.
Nachher sagte er, er hätte länger warten sollen, aber sie ging darüber hinweg und äußerte etwas vorhersehbar Nobles über Risiken beim ersten Mal.
»Ich werde jetzt schlafen«, sagte sie, »und wenn ich aufwache, möchte ich einen Tee haben.« Immerhin konnte sie ziemlich schnippisch sein.
»Sprichst du von morgen?«, fragte er.
»Ich glaube nicht an morgen«, antwortete sie. Aber etwas früher an jenem Abend, als er ihr die ersten Schmeicheleien sagte, hatte sie die verrückte Idee gehabt, er werde sich vielleicht in sie verlieben, sie heilen, ihr neue Gedanken eingeben, neues Glück schenken, die alten, hässlichen Vorstellungen von frisch vergossenem Blut, Geburtszangen und Fehlern bannen und Eugene verschwinden lassen, diesen gespenstischen Wächter, der sie beschattete, welche Straßen sie auch überquerte oder in welche schändlichen Betten sie auch schlüpfte. Sie hatte ehrlich geglaubt, dieser Mann oder irgendein Mann werde das alles für sie tun. Ach! Jetzt schlief er ein, drehte sich auf die Seite, das Gesicht zum Fenster mit dem Himmel dahinter, wo das Flugzeug vorübergeflogen war, vor Stunden und Jahren. Sie rollte sich zusammen und schmiegte sich in die Mulde seines Körpers. Wie schön wäre es, dachte sie, wenn Frauen wieder die Rippe würden, die sie einst gewesen waren, ehe Gott Eva schuf. Wie angenehm, wie friedlich, wie keusch, wie würdig, nichts weiter als eine Rippe zu sein! Sie klopfte auf das Kissen, um eine harte Stelle zu lockern, und flüsterte: »Gute Nacht.« Dann zog sie sich das Laken übers Gesicht und schloss die Augen.
Aber es klappte nicht. Sie konnte nicht schlafen: Alles war so fremd, und je länger die Nacht sich hinzog, umso mehr fürchtete sie den Morgen. Sie fürchtete sich davor, sich aufzusetzen und »hallo« sagen zu müssen, zu beobachten, wie seine Gedanken von ihr fortstrebten, so wie ein Fluss seinen Lauf ändert, wenn er auf einen Felsen stößt. Er hatte schon gesagt, dass er früh aufstehen müsse. Er hatte ihr schon einen Wink gegeben. Sie schob sich ans Fußende des Bettes und stand auf, ohne auch nur den kleinen Hügel zu berühren, wo seine Füße lagen. Sie zog sich vorsichtig an, untersuchte den Mechanismus der Tür, öffnete sie dann und stahl sich lautlos davon. Sie ließ kein Briefchen zurück. Wieder einmal mit knapper Not entkommen.
Über der Straße draußen waren die Sterne, falls überhaupt welche am Himmel gestanden hatten, verschwunden, und das Licht vertiefte sich von einem bräunlichen Grau zu einem zarten, seidigen Blau; blaues Licht fiel auf die Schieferdächer der hohen Häuser und näherte sich den Fenstern, hinter denen Menschen schliefen, die sich geliebt oder nur davon geträumt hatten oder die sich umgedreht hatten, um dem Anblick und dem Atem eines verhassten Bettgenossen auszuweichen. Menschen waren seltsam und unergründlich. Und ebenso verzweifelt. Er würde erleichtert sein, wenn er entdeckte, dass sie gegangen war.
Auf dem U-Bahnhof zählte sie ihr Geld und rieb sich die bloßen Arme. Der Zug schoss wie eine Windbö in die leere Station, und zusammen mit zwei anderen Mädchen stieg sie in ein Nichtraucherabteil. Waren auch sie aus verbotenen Betten gestiegen? Beide waren ordentlich gekleidet und zurechtgemacht, hatten Lidschatten aufgelegt und Strickjacken angezogen und trugen kleine Reisetaschen. Wenn es ein warmer Tag würde, konnten sie die Strickjacken ausziehen und sie abends wieder anziehen. Sie schloss die Augen; die beiden anderen hatten die ihren bereits geschlossen. Sie schloss die Augen und dachte, dass es unwichtig war, ob man mit einem Mann schlief oder nicht. Ein Nichts, wenn nicht so etwas wie Liebe voranging. Oder sich daraus ergab. Wussten diese Mädchen das? Wenn die U-Bahn nun mit einer anderen zusammenstieß und ihnen nur noch ein paar Sekunden blieben, was würde sie als Letztes hinausschreien? Dieses neu erlangte Wissen oder Cashs Namen oder einen Akt der vollkommenen Reue? Unmöglich zu sagen. Jedenfalls kamen sie heil und sicher an, es waren nur drei Stationen.
Von der Arbeit aus rief sie ihn an. Zumindest war er ein Mann. Er konnte sie vielleicht mit einem anderen bekannt machen, und dieser andere … Selbst bei nüchternem Tageslicht und unausgeschlafen, wie sie war, sehnte sie sich nach der Liebesaffäre de luxe.
»Du bist kein Mädchen für nur eine Nacht, du bist für immer«, sagte er und faselte davon, wie leicht er sich in sie verlieben könne.
»Ich wollte mich nur entschuldigen«, sagte sie und flüchtete sich in die Ausrede, sie habe zu viel getrunken.
»Ich hätte dich gern glücklich gemacht.« Er wurde ganz feierlich.
»Aber du hast mich ja glücklich gemacht«, sagte sie hastig und überstürzte sich mit geheuchelten Beteuerungen.
»Wenn ich aus Budapest zurückkomme, müssen wir uns wiedersehen«, sagte er. Die Flammenschrift stand deutlich an der Wand.
»Viel Spaß dort«, sagte sie. Vielleicht war es ganz gut so. Wahrscheinlich wusste er, dass jeder Mann, mit dem sie sich jetzt einließ, bitter würde bezahlen müssen für das, was zwischen ihr und Eugene geschehen war – nach der brutalen Logik, dass Liebende, denen Unrecht widerfahren ist, sich an Unschuldigen und Außenstehenden rächen.
Sie legte den Hörer auf, und in den paar Minuten, die noch blieben, bis der Laden geöffnet wurde, blickte sie – ohne ihn wirklich zu sehen – auf den Papierstreifen des Börsenfernschreibers mit seinen vielfarbigen Buchstaben, der im Augenblick noch stillstand, bald aber in Gang kommen und gute Geschäfte, Perfektion und vollkommene Genugtuung verbürgen würde.
Die wütende, unfruchtbare Klarsichtigkeit, die von Mangel an Schlaf herrührt, ergriff von ihr Besitz. Sie sah voraus, wie der Tag ablaufen würde: vier Stunden hier, der entsetzliche Geruch der Reinigungsmittel, die dummen, schmutzigen, zusammengeknüllten Kleidungsstücke, die Panik auf den Gesichtern der Leute, die ihren Einlieferungsschein verloren hatten, und ihre Erleichterung, wenn sie ihre Sachen wiedererkannten; für zwei Shilling neun Pence würde sie zu Mittag essen und anschließend ihren täglichen Spaziergang an der Themse machen; vielleicht war Ebbe, und das ablaufende Wasser würde alte Schuhe – warum immer nur einzelne Schuhe? – und durchtränkte Holzstücke und Kondome freigeben; an dem schlammigen, gezeitenfreien Ufer würden graue, schwarze und weiße Tauben auf der Suche nach Futter in dem zurückgehaltenen Sperma picken; und um vier würde sie Cash von der Schule abholen, mit ihm zum Spielplatz gehen und ein bisschen schaukeln, und dann nach Hause zum Abendessen. Wieder eine Nacht. Aber nicht mehr lange. Die Zeit kam, und sie spürte es fast wie Musik in ihren Knochen, da alles anders sein würde. Wenn Babas Tochter erst einmal laufen und sprechen konnte, wäre schon viel gewonnen. Sie wäre Cash eine Schwester. Tracy hatte Baba sie genannt, oder vielmehr, es war Franks Wahl gewesen. Am Ende hatte Frank sie wie sein eigenes Kind aufgenommen und vielleicht noch mehr Aufhebens davon gemacht, dass er nun Vater war, als wenn er es wirklich gewesen wäre. Und Baba, die sonst auch durch Strafen nicht kleinzukriegen war, wurde zu guter Letzt durch Nettigkeit, Schwäche und Abhängigkeit in die Enge getrieben. Noch immer hatten sie und Baba vor, Urlaub zu machen; ein oder zwei Wochen lang würden sie leben, wie es ihnen gefiel, elegant schwindeln, Liebesaffären haben, abends tanzen. Skifahren lernen und Berghänge hinabgleiten und zwischendurch mit ihren Kindern glücklich sein. Sie hatten keinen bestimmten Ort im Auge, aber sie würden schon einen finden. Baba würde sich darum kümmern, denn Frank legte ihr in kleinen Dingen keine Beschränkungen mehr auf. Ziemlich oft war er zu betrunken, um überhaupt zu merken, was geschah. Er schwenkte bloß einen Arm und sagte zu allem, was vorging: »Gewaltig, gewaltig.« Sie würden ein paar sehr schöne Tage, vielleicht sogar Wochen haben. Und während sie bei dem Gedanken daran lächelte, sah sie, wie sich der Papierstreifen des Börsentelegraphen langsam in Bewegung setzte, hörte das Brummen, das Maschinen von sich geben, ehe sie richtig anlaufen, und wusste, dass unten der Geschäftsführer auf den Schalter gedrückt hatte, der den Tag in Gang brachte.
Aber es kam ganz und gar nicht so. Cash wartete nicht am Schultor, als sie dort anlangte. Das war nicht weiter verwunderlich. Stets kam er unweigerlich als Letzter oder hatte noch seine Turnschuhe an und ging an ihr vorbei, weil er vergessen hatte, dass es der Tag war, an dem er zu ihr und nicht zu seinem Vater ging. Als er nicht erschien, suchte sie in der Garderobe nach ihm. Bis auf einen einzigen waren die Metallbügel bereits leer, und ohne Mäntel und Kinder sah der Raum erschreckend verlassen aus. Der blaue Anorak, der noch dort hing, gehörte einem viel größeren Kind. Sie rief. Dann stand sie vor der Toilette und rief abermals. Sie erinnerte sich an irgendein Drama – er war einmal von einem älteren Jungen in der Toilette eingeschlossen worden – und rief jetzt sehr laut, damit er sie auch bestimmt hörte. Schließlich ging sie zum Zimmer des Direktors und klopfte nervös. Er empfing sie in seinem kleinen, ordentlichen Büro, wo er vor einer kalten Tasse Tee saß.
»Ich kann Cash nicht finden«, sagte sie.
»Es tut mir leid, der Schule tut es leid …«, sagte er mit einem Kopfschütteln und fügte »Mrs …« hinzu, einfach um ihren Status als verheiratete Frau anzuerkennen. Offenbar wusste er nicht, wie er es ihr sagen sollte, und bat sie daher, Platz zu nehmen.
»Ich war nicht sicher, ob Sie es wussten«, sagte er dann, nahm die kalte Tasse Tee und reichte sie ihr herüber. Cashs Vater sei gekommen und habe seine Entscheidung bekannt gegeben, den Jungen von der Schule zu nehmen. Ein Schwindelgefühl überfiel sie, und wieder einmal musste sie sich fragen, ob sie nicht vielleicht träumte oder schlafwandelte.
»Wann?«, fragte sie. Einen Augenblick lang glaubte sie, es bestehe irgendein Zusammenhang zwischen ihrer leichtsinnigen Nacht und der Entscheidung des Vaters.
»Letzten Freitag«, sagte der Direktor.
Vor fünf Tagen. Es bestand also kein Zusammenhang. Das schien ihr Stärke zu verleihen. Sie kam wieder halbwegs zu sich und riss sich zusammen, um aufzustehen, und dann wurde ihr ganzer Körper von einer unbezwingbaren, unerbittlichen Kraft gepackt, und sie stürzte aus dem Büro, durch den Korridor und die fünf Straßen entlang zum Haus seines Vaters.
Als sie den Klopfer anschlagen ließ, kam keine Ant wort, und sie wusste, dass es keine geben würde, und trotzdem klopfte sie wieder und wieder und drückte auf die abgestellte Klingel und starrte durch die Fenster, die ganz mit einer weißen Kalkschicht bedeckt waren. Einmal hatte sie die Fenster im Schnee gesehen; jetzt sah sie sie in einem anderen Schnee und schaute und sah nichts. Es war ein großer Augenblick, jener Augenblick, da die Wirklichkeit den Albtraum einholte, der Höhepunkt und das Ende.
Am nächsten Tag kam ein kurzer Brief von seinem Anwalt, dem ein längerer von ihm selbst beilag. Und diese beiden Briefe sagten ihr alles, was sie schreiend zu wissen verlangt hatte, als sie mit den Nägeln an der Tür gekratzt, sich die Knöchel an den Fenstern wundgeschlagen und durch einen verschlossenen Briefschlitz gefleht hatte, man möge sie anhören und ihr antworten. Sie waren geflohen. Cash, Eugene und Maura. Eine Flucht nach Fidschi. Jetzt erkannte sie, wie sorgfältig und prächtig alles vorbereitet worden war, so sorgfältig wie ein größerer Raubüberfall. Er hatte dafür gesorgt, dass sie keinen Verdacht schöpfte, bis sie abgereist waren, und eben das stürzte sie in die allergrößte Verzweiflung – ihre eigene Unbekümmertheit. Wie unzureichend hatte sie ihn beobachtet. Sie dachte noch immer, sie könnte die drei vielleicht erwischen, vielleicht hätten sie gegen die Gesetze verstoßen.
Sie rief das Passamt an, und nachdem sie der Telefonistin und dann einer Sekretärin aufgeregte Erklärungen gegeben hatte, wurde sie mit einem Beamten verbunden, der tatsächlich einen Pass für Cash ausgestellt hatte. Sie fragte, warum man sie nicht verständigt habe, und der Beamte sagte, in solchen Fällen sei die Unterschrift der Mutter nicht erforderlich.
»Finden Sie das gerecht?«, fragte sie.
»Was?«, fragte der Mann am anderen Ende.
»Ach, Mist«, sagte sie wütend und hängte ein. Die Verschwörung war zu gewaltig, die ganze Maschinerie zu gründlich, es war, wie wenn man in der Zeitung die Schlagzeile URLAUBSBUS VERUNGLÜCKT sieht und eine sinnlose, nutzlose, blinde Wut empfindet.
Eugenes Brief war lang und selbstgerecht. Er schrieb, durch die Abscheulichkeit einer Frau habe er eine Tochter verloren und er wolle nicht auch noch einen Sohn verlieren. Er zählte ihre Fehler auf und tat es so gründlich, so intelligent, dass sie fast jedes Mal unwillkürlich nickte und ihm und seinen sorgfältig und grausam gewählten Worten zustimmte, den unbestreitbaren, endgültigen Worten wie »eitel, unmoralisch, kleinlich, hartherzig, schwach, selbstzerstörerisch, unmütterlich«. Sie übersprang ein paar Zeilen und las dann unten weiter:
Mir steht kein anderer Weg offen, als meine Pflicht, die ich als sein Vater habe, bis zum bitteren Ende zu erfüllen. Ich werde nicht zulassen, dass Du sein späteres Leben zerstörst, aus ihm einen dieser von ihren Müttern erstickten, emotional kranken Menschen machst, für die Du eine besondere Vorliebe hast. Was für eine Infektion – denn Gedanke kann man es kaum nennen – veranlasst Dich, es für selbstverständlich zu halten, dass Dein Wohlergehen so unendlich viel wichtiger sei als die gesunde Zukunft des Jungen, als meine Arbeit und mein Leben? Es ist zu spät. Du hättest Deine Ganztagsbeschäftigung als Mutter etwas eher planen müssen, als er von Maura und mir versorgt wurde.
Zu spät! Sie schrie auf: »Du bist verrückt, verrückt. Es ist alles verrückt, sinnlos.« Ein Gedanke nach dem anderen drängte sich ihr auf, und diese Gedanken waren auch nicht weit entfernt von Verrücktheit. Sie würde hinfahren, das Haus in Brand stecken und Cash retten, sie würde den Jungen aus der Schule entführen lassen; nein, sie würde bitten, an seine Güte appellieren, ein Telegramm schicken: »ICH HABE IHN UNTER DEM HERZEN GETRAGEN, ICH HABE IHN ZUR WELT GEBRACHT«, die beiden erpressen, sich ein Schreiben von ihrem alten Freund, dem Politiker, besorgen, eine ganze Delegation von Politikern mit Bannern schicken. Gerechtigkeit! Gerechtigkeit! Gerechtigkeit! In Gedanken drehte und wand sie sich wie eine verrückte Frau, die mitten auf der Straße steht, auf allen Seiten vom Verkehr bedroht. Freunde taten, was sie konnten, trösteten, tobten, fühlten mit ihr mit: aber niemand, niemand auf der ganzen Welt konnte wiedergutmachen, was geschehen war.
Sie ging zu einem Rechtsanwalt, und während sie dort saß und Daten, Fakten, Fragmente ihres Ehelebens von sich gab, hatte sie das sichere Gefühl, dass alles, was geschah, unwirklich war, dass gleich jemand sie anstoßen und lachen und sagen würde: ›Es ist alles nur ein Spiel, wir haben Sie auf die Probe gestellt.‹ Aber nein. Die Besprechung ging weiter. Der Anwalt war ein alter Mann, auf stille Weise freundlich, und Spezialist für Scheidungsfragen. Er blickte auf sein Notizheft, als die Fragen nach ehelicher Untreue an der Reihe waren. Er musste es wissen.
»Nun ja«, sagte sie.
»Wie oft?«
»Einmal.«
»Würden Sie mir bitte sagen, wie es dazu kam?«
»Nein, das möchte ich nicht …«, sagte sie und begann. Sie hatte aufgehört, zur Beichte zu gehen, doch das hier erinnerte sie an jene Tortur, und im Geiste bekreuzigte sie sich. Das Erzählen der Geschichte erweckte keine Reue, sondern hinterließ nur einen faden Geschmack. Eine Nacht der Schäbigkeit. Absurd, überhaupt davon reden zu müssen.
»Und Sie sagen, Ihr Mann wusste nichts davon?«
»Nein, es besteht kein Zusammenhang zwischen den beiden Ereignissen.« O nein, die Vergeltung war viel abscheulicher, viel umfassender als das. Vergeltung wofür? Sie sprach ruhig, manchmal blickte sie in sein Gesicht, das über das große Notizheft gebeugt war, manchmal auf sein gutes Jackett, das über einem Stuhl hing. Er trug eine geflickte Jacke mit Lederflecken an den Ellbogen, und hätte sie ihn besser gekannt, so hätte sie irgendeine freundliche Bemerkung über seine Umsicht gemacht.
»Nun, Ihr Mann … dieser Brief ist ein bisschen ungewöhnlich …«, sagte er und überflog ihn noch einmal.
»So ist er nun mal«, sagte sie. Sie hatte nicht den Wunsch, noch viel zu sagen, nicht den Wunsch, seine Fehler aufzuführen oder ihre eigene Sache zu vertreten; das sind Dinge, die man tut, wenn man Hoffnung hat und wütend ist, und Hoffnung und Wut waren seit Tagen verflogen. Allein schon, dass sie hier saß, kam ihr sinnlos und absurd vor.
»Und nun sagen Sie, hat er Sie, seit Sie ihn verlassen haben, irgendwie belästigt?« Die bloße Frage verstörte sie beide ein wenig.
»Nein«, sagte sie und schüttelte den Kopf.
Nachdem er alle Angaben notiert hatte, klappte er sein Heft zu und sah sie an.
»Warum haben Sie einen solchen Mann geheiratet?«
»Er schien das zu sein, was ich wollte.«
»Einen …«
»Damals wusste ich noch nicht …«
Obwohl ihr Gesicht dem Fenster zugewandt war und das Licht darauf fiel, war keine Spur von Tränen oder Zusammenbruch darin zu entdecken.
»Törichtes Mädchen«, murmelte er, aber auf eine Weise, die liebevoll und nicht tadelnd war. Dann fragte er sie unvermittelt, ob er ihr einen Brandy holen solle, und sie sagte nein. Er blickte auf ihre Hand, die zur Faust geballt auf dem Schreibtisch lag; die Adern schimmerten durch dicht gesäte Sommersprossen. Und behutsam legte er seine Hand auf die ihre und ließ sie dort.
»Wir werden alles tun, was wir können«, sagte er leise.
Sie antwortete nicht.
Es lief auf eine Geldfrage hinaus. Sie könnten hinfahren, wenn sie es sich leisten könne, sie würden es auf dem ordentlichen Rechtsweg durchfechten, aber es werde Zeit kosten, viel Zeit und viel Geld. Er sei ein ehrlicher Mann, er wolle ihr nichts vormachen.
Nach einer Weile stand sie auf und ging, und unten auf der Straße herrschte eine Stille, als sei der gesamte Verkehr eingestellt worden, und ziemlich kühn überquerte sie die Straße.
Das Schreiben nahm Tage in Anspruch, obwohl die Schwierigkeit nicht darin bestand, was sie sagen sollte, sondern wie sie es sagen sollte. Sie war fest entschlossen, sie hatte aufgegeben. Die Übermacht war zu groß, die Schlacht bereits verloren. Sie verfügte nicht über seine Bosheit. Sie verfügte nicht über seine Waffen.
Sie schrieb:
Lieber Eugene,
ich habe mich entschlossen, Cash vorläufig bei Dir zu lassen. Ich vertraue darauf, dass Du alles für sein Wohlergehen tun wirst, und bin überzeugt, dass Du das tust. In Kürze wird sich mein Anwalt mit Dir in Verbindung setzen.
Lieber Cash,
mit meiner Geographie ist es nicht weit her. Auf welchem Längen- und Breitengrad seid Ihr? Was gibt es dort zu essen? Und wie ist es mit Deiner Schule? Ich vermute, dass alles recht fremdartig ist, aber bestimmt sehr aufregend. Wenn Du möchtest, schicke ich Dir Deine Comics.
Sonst nichts – nichts, was zu vertraut oder zu zärtlich oder zu verletzend gewesen wäre. Sie hatte kein Verlangen, mehr zu sagen. Es war, als hätte die Entscheidung selbst sie ausgelaugt, ihr alle Entschlusskraft genommen.
Cash schickte ihr eine Landkarte von der Insel. Sie war mit Tinte auf eine Papierserviette gezeichnet, und dann war der Rand der Serviette beschnitten worden, sodass sie genau die Form einer gedrungenen Flasche ergab. Städte waren eingezeichnet und Flüsse und eine Bäckerei und ein Swimmingpool und unten das Meer. Überall waren Hibiskusbäume, und sie sahen gar nicht aus wie Bäume, sondern wie schwarze Dreiecke zwischen den anderen Dingen. Ganz oben hatte er in Großbuchstaben hingeschrieben: DER HIMMEL IST BLAU. Als sie die Karte betrachtete, kam ihr der Gedanke, die drei hätten in einem Restaurant gegessen, und einer von ihnen hätte ihren Namen gesagt, und da hätte Cash beschlossen oder wäre aufgefordert worden, diese Landkarte zu zeichnen. Sie studierte sie sehr genau, damit sie in ihrem nächsten Brief darauf eingehen konnte. Und sie legte sie zwischen zwei Glasplatten und benutzte das Ganze als eine Art Briefbeschwerer. Im nächsten Brief schrieb sie ihm das und legte die Comics bei. So würde es nun weitergehen, Briefe würden hin und her geschickt werden, Jahr für Jahr, und gelegentlich Fotos, und davor fürchtete sie sich, und sie wusste, dass sie sich dagegen wappnen musste.
Nach Weihnachten ließ sich Kate sterilisieren. Sie wurde als Privatpatientin operiert, und daran schloss sich ein kurzer Aufenthalt in einer teuren Klinik an – Geld, das sonst für Kleider oder eine Sommerreise draufgegangen wäre. Am zweiten Tag kam Baba zu Besuch. Kate saß im Bett und las gerade einen Zeitungsartikel über Frauen, die freiwillig an einem wissenschaftlichen Experiment teilnahmen und vierzehn Tage in einer unterirdischen Höhle verbrachten. Sie las daraus vor: »Die Ärzte, die von einer angrenzenden Höhle aus mit den Frauen in telefonischer Verbindung stehen, sind nach wie vor überrascht über die körperliche Belastbarkeit und die muntere Stimmung der Frauen, die einander nicht gekannt hatten, bevor für sie das Leben in Finsternis begann.«
»Frank sagt, du könntest doch genauso gut zu uns ziehen …«, unterbrach Baba sie.
»Wirklich?«, fragte Kate erfreut, überrascht.
»Er hat es vorgeschlagen, nicht ich«, sagte Baba mürrisch.
»Früher hat er mich nicht gemocht«, sagte Kate.
»Das muss er wohl überwunden haben«, sagte Baba, aber sie war trotzdem froh, ihr das Angebot machen zu können. Sie würden zusammen sein, miteinander plaudern, leichtsinnige Anwandlungen haben; sie könnten Pläne schmieden, an die sie beide schon seit langem nicht mehr glaubten.
»Nun?«, fragte Baba nach einiger Zeit, und das hieß: ›Wie ist dir zumute?‹
»Na«, sagte Kate, »wenigstens habe ich das Risiko beseitigt, denselben Fehler noch einmal zu machen«, und aus irgendeinem Grund sandten diese Worte ein Frösteln durch Babas Herz.
»Du hast etwas beseitigt«, sagte Baba. Kate rührte sich nicht, zuckte mit keiner Wimper; sie war so reglos wie der weiße Bettpfosten. Was dachte sie? Welche Worte gingen ihr durch den Kopf? Worauf hatte sie sich vorbereitet? Offenbar wusste sie es nicht, denn in diesem Augenblick war sie ganz zufrieden, ohne die geringsten Gewissensbisse. Für Baba war es seltsam, Kate so zu sehen – all die erwarteten Reaktionen blieben aus: Schuldgefühle, Zweifel, Traurigkeit; sie betrachtete einen Menschen, dem zu viel weggeschnitten worden war, ein wichtiger Bereich, von dem sie beide nichts wussten.