1

HARLOW

SECHZIG TAGE BIS ZUM BLUTMOND

H eute war der angeblich beste Tag meines Lebens, der, auf den alle meine Klassenkameraden und ihre Familien hingefiebert hatten – nur ich hasste ihn, seit dem Moment, als ich aufgestanden war.

Als ich die Wohnung von Angelina und mir am Martin Place verließ, wehte mir Jingle Bells entgegen, getragen von der heißen Sommerluft. Mit aufgerissenen Augen bestaunte eine Menschentraube den riesigen Weihnachtsbaum, der auf dem Platz vor unserem Hochhaus jährlich aufgestellt wurde und vor dem in sieben Wochen die Fernsehübertragung des Weihnachtskonzerts aufgezeichnet werden würde.

»Abgefahren! Wir haben 39 Grad Anfang November! Crazy!«, scherzten Backpacker und Touristinnen und Touristen aus aller Welt und schüttelten dabei ungläubig ihre Köpfe.

Normalerweise schmunzelte ich darüber, nicht so heute.

Heute nervte es. Sehr sogar.

Was hatten sie erwartet? Australien lag auf der südlichen Halbkugel, und Sommer herrschte hier von Dezember bis März. Hätten sie sich halt vor ihrer Reise informieren sollen.

War ich gerade unsachlich und unfair? Ja.

War das meine übliche Art? Nein, da ich sonst immer den freundlichen Sohn mimte.

Nur war in diesem Moment offensichtlich, dass sich meine Laune heute, im Gegensatz zu den hochsommerlichen Temperaturen, frostig zeigte.

Menschen und ihre Erwartungen nervten mich. Und da lag die Wurzel meiner schlechten Laune. Nicht die Touristen trugen die Schuld, sondern meine Familie, mein Coven und die St. Andrew Academy . Alle erwarteten von mir, gerade heute, das perfekte Abbild eines wohlerzogenen Jungen zu mimen, der, Zitat: »Großes leisten wird«.

In vier Stunden würde ich die Schulhymne auf der Abschlussfeier singen. Eine Ehre, die nur den besten Studierenden zuteilwurde. Mit Namen Harlow McQueen, Sohn des ehrwürdigen McQueen-Coven, direkter Nachfahre der berühmten Angelina – bla, bla, bla. Der ganze Mist, der seit einundzwanzig Jahren mein Leben bestimmte.

»Sir, Ihr Fahrer wartet. Haben Sie Gepäck, das ich tragen soll?«

Ich wandte mich vom Weihnachtsbaum ab, bevor ich ihn aus Versehen in Brand steckte, und sah zu Carlton.

»Nein danke, Carlton.« Müde lächelte ich unserem Butler zu. »Es ist bereits alles in der Schule, nur ich fehle.«

»Ein großer Tag, Sir. Wir sind außerordentlich stolz auf Sie.« Carlton lächelte ehrlich. An manchen Tagen fühlten sich er und seine Frau, die bei uns als Köchin angestellt war, mehr nach Familie an, als meine tatsächliche es tat.

»Wie stehen die Chancen, dass Fred mich zum Flughafen statt St.Andrew fährt?«, fragte ich mit einem Seufzen.

»Ich befürchte, das würde Ihre Frau Mutter nicht erfreuen.«

Untertreibung des Jahrhunderts. Angelina Grace Loveage McQueen würde ganz Sydney unter Wasser setzen und mich wie eine Ratte aus dem Flughafen fluten, wenn ich die Eier besäße, mich ihr zu widersetzen. Gut, dass sie mich nahtlos in das High-Society-Korsett gepresst hatte und ich deswegen ausführte, was sie anordnete. Immerhin war ich ein braver Sohn, der spurte wie ein Paradepferd.

Selbstachtung? Brauchte ich nicht, weil mich die Hexengemeinde vergötterte. Redete ich mir zumindest ein.

»Na, dann werde ich zur Abschlussfeier fahren«, sagte ich zu Carlton. »Angelina bekommt schließlich immer, was sie verlangt.«

Carlton nickte. Nur in seinen Augen blitzte etwas auf, was mich an Mitleid erinnerte. Das schlimmste aller Gefühle.

* * *

Zehn Minuten später überquerte meine Limousine die Harbour Bridge vom Sydney Business District nach Nordsydney. Rechts von mir erblickte ich das Sydney Opera House mit seinen weißen Segeln. Die Vormittagssonne tanzte über die hellen Dächer und tauchte die zahllosen Touristinnen und Touristen in einen weichen Schein. Viele von ihnen nahmen die Fähren vom Circular Quey, um so zum Zoo oder zum bekannten Manly Beach zu gelangen. Das öffentliche Verkehrssystem in Sydney bestand nicht nur aus Bussen und U-Bahn, sondern ebenso aus Fähren, die primär die Nordseite der Stadt ansteuerten. Der Naturhafen, über den die Harbour Bridge gebaut worden war, war durchzogen von Booten, Kreuzfahrtschiffen und den gelb-grünen Fähren. Wie elegante Schwäne zogen sie ihre Bahnen durch das klare Wasser und standen für Freiheit, während ich in mein Gefängnis namens St. Andrew Academy fuhr.

»Sir, wir sind jeden Augenblick da«, erklang Freds Stimme durch die Sprechanlage. »Sie sollten sich entsprechend kleiden.«

Brummend riss ich den Blick von dem Wasser los und betrachtete meine Shorts und das Tanktop. Betrat ich so die Bühne, würde das einen Skandal auslösen. Einen Moment dachte ich ernsthaft darüber nach.

Was sollte St. Andrew machen? Mich rausschmeißen?

Heute fand sowieso nur der formale Abschluss statt – unsere Zeugnisse waren schon geschrieben und jede Hexe freute sich auf das anstehende Uni-Leben. Nur ich nicht. Ich würde ins Familiengeschäft einsteigen und lediglich dem Schein nach studieren. Meine tatsächliche Ausbildung würde ich im Coven erhalten und das Glatteis der Politik und gehobenen Gesellschaft betreten.

»Danke, Fred«, murmelte ich. Mit den Fingern fuhr ich wehmütig über meine sommerliche Kleidung. Es half nichts. Es gab Regeln – und an diese musste ich mich halten.

Geschmeidig stimmte ich einen Ton mit meinen Stimmbändern an, ließ ihn zwischen Zwerchfell und Kehlkopf tanzen. Er vibrierte warm und tief. Ich konzentrierte mich darauf, den Bass zu verstärken und weiter die Tonleiter hinabzusteigen. Einen Augenblick später resonierte die richtige Tiefe durch meinen Brustkorb und die Melodie entwich über meine Lippen. Formte Töne und verwob die Magie mit der kurzen Klangfolge. Ein goldenes Licht legte sich um mich, Funken tanzten meinen Körper entlang, wandelten meine Kleidung um, und nur einen Wimpernschlag später trug ich die Schuluniform.

Jede Hexe der St. Andrew beherrschte diesen Canto – oder auch Belcanto genannt. Da unsere Hexenmagie auf Gesang, Melodien und Musik aufbaute, stellte der richtige Ausdruck für Zauber Belcanto dar – kurz Canto, wenn man nicht jenseits der hundert Jahre alt war. Was erstaunlich viele Hexen in Sydney in der Tat waren.

Der Belcanto mit Namen St. Andrews Stolz galt als Basiszauber des College, und wir hatten ihn am ersten Tag gelernt. Für viele von uns war es jedoch nicht der erste Canto, den wir in unserem Leben beigebracht bekommen hatten. Die meisten von uns hatten durch ihre Coven schon einige simple magische Anwendungen gelernt und unser Wissen in Cantos wurde dann in der St. Andrew vertieft.

Trotz der Klimaanlage lief Schweiß meinen Nacken hinab und wurde durch den engen Hemdkragen aufgefangen. Als Mitglied der Hexenwelt-Elite trug ich selbst bei fast 40 Grad einen Anzug. Meine Hose und das Jackett in einem Dunkelblau legten sich über das hellblaue Hemd und wurden komplettiert durch eine tiefrote Krawatte, auf der sich eine verzauberte Bestickung in Form einer goldenen Schlange bewegte. Für gewöhnliche Menschenaugen offenbarte sich dort ein Karomuster – für uns Hexen hingegen schlängelte sich das Wappentier langsam über das Stück Stoff, das mir das Atmen erschwerte, so eng war sie gebunden. Manchmal fragte ich mich, ob St. Andrew die Krawatte absichtlich eng in Erscheinung treten ließ, um uns zu quälen. Mit feuchten Fingern löste ich den Krawattenknoten ein wenig. Immerhin würde ich gleich die Hymne singen – und dafür brauchte ich Luft.

Die Limousine kam zum Stehen. Ich atmete tief ein und aus, beruhigte damit meinen Puls, verstaute meine schlechte Laune hinter einer lächelnden Maske und stieg aus.

Mein Fuß hatte kaum den makellos weißen Kies des Hauptplatzes des College berührt, da riefen die ersten Leute, die dort offenbar auf andere Studierende oder manche sogar auf mich warteten, meinen Namen. Freundlich nickte ich ihnen zu, verteilte ein paar High Fives und Umarmungen, bevor ich mich auf das Haupthaus aus weißem Marmor mit Goldverzierungen zubewegte.

Auf dem Weg erreichten Floskeln und belanglose Gespräche meine Ohren, ohne dass sie mich interessierten. Ich lächelte weiterhin freundlich, zeigte die strahlenden Zähne, wie um einen Zahnpastawerbespot zu drehen, und nickte geistesabwesend. Ein perfekt dressiertes Äffchen, das auf Kommando mit Bravour das Parkett der High Society betrat, seine Pirouetten drehte und sich dann brav verbeugte.

Eine Fassade aus Lügen, die ich über die Jahre meisterlich errichtet hatte und mit voller Inbrunst hasste.

Wie durch Watte registrierte ich die Sätze, die mir entgegengeworfen wurden, während ich weiter auf das Haupthaus zusteuerte, ohne zu antworten. Mein Lächeln musste genügen, denn mit den Augen hatte ich ein anderes Ziel fixiert.

»Glückwunsch, Harlow«, sagte jemand und klopfte mir auf die Schulter.

Ich antwortete mit einem Nicken.

»Krass, dass die drei Jahre schon rum sind«, kam von einer mir unbekannten Person.

Eine gespielt erstaunte Geste, indem ich die Arme fassungslos ausbreitete, als würde es mir nicht am Hintern vorbeigehen.

»Bald studieren wir«, sagte ein Kumpel, von dem ich vermutete, er war nur wegen meines Reichtums und des Ansehens mit mir befreundet.

Ein weiteres Nicken von mir.

»Mate, heute Abend feiern wir!«, brüllte Oliver, einer meiner wenigen echten Freunde, in mein Ohr. »Champagner für alle!«

Als würde ich mich die Aussicht darauf erfreuen, streckte ich meine zur Faust geballte Hand gen Himmel – doch mein Blick verweilte unaufhörlich auf einer Person, die in der Tür des Haupthauses stand.

Der Geruch von Ozon und verschiedenen Blumen – ihrer Magiesignatur – wehte mir entgegen. Dort, in ein wallendes Kleid aus teurem schwarzem Stoff gehüllt, thronte meine Mutter Angelina Grace Loveage McQueen, die bedeutendste und einflussreichste Hexe Australiens – wenn nicht sogar der ganzen Welt. Ihr Brustkorb hob sich unmerklich zu einem Canto, während ihr weißblondes Haar, wie von einer unsichtbaren Hand getragen, sanft um ihren Kopf wehte. Die stechend grünen Augen auf mich gerichtet, öffnete sie den Mund. Ich musste den Canto nicht einmal hören, um zu wissen, was mir bevorstand.

»Harlow Jammison Cassidy McQueen! Wo bleiben deine Manieren?« , dröhnte ihre Stimme in meinen Gedanken. Wie ich es hasste, wenn sie, ohne zu fragen, mental in meinen Kopf eindrang.

»Ma’am? Ich bin hier, lächele und werde gleich singen. Was habe ich nun wieder verbrochen?« Gerade so widerstand ich dem Drang, meine Hände wütend zu Fäusten zu ballen.

»Es heißt Madam President! Erinnere dich dran, dass du den gesamten Coven und zudem den Namen McQueen repräsentierst! Was denken die Leute, wenn der Sohn der Präsidentin sich benimmt wie eine covenlose Hexe?«

Hatte ich erwähnt, dass Angelina nicht nur meine Mutter und die Oberste Hexe unseres Covens war, sondern ebenso die Präsidentin der Hexengemeinschaft Australiens? Ups.

Die Hexe vor mir stellte das volle Paket an Macht, Einfluss und politischem Kalkül dar und gehörte damit zu den mächtigsten Frauen weltweit. Etwa gleichauf mit der US-Präsidentin und der deutschen Hexenkanzlerin. Kein Mensch in einer Machtposition reichte diesen drei Frauen das Wasser. Was der Grund war, weswegen nur ranghohe und einflussreiche Personen der menschlichen Politik über die Hexengemeinschaft im Bilde waren. Die meisten Sterblichen nahmen uns als ihresgleichen wahr. Wussten nicht, dass es einen Friedensvertrag zwischen ihnen und Hexen gab, in dem wir zugesichert hatten, kriegerische Konflikte von ihnen zu lösen, aber dafür die Macht über jegliche Regierungsentscheidungen erhielten.

Weltweit gab es keinen Menschen mehr, der das oberste politische Amt innehielt – jegliches Amt war bekleidet von einem Mitglied der Hexengemeinschaft. Zu groß war die Angst der Menschen, es sich mit den Hexen des eigenen Landes zu verscherzen und so unserer übernatürlichen Macht unterlegen zu sein. Wir kontrollierten die Welt, aber regelte das alle Unstimmigkeiten und Kriege? Mitnichten, denn auch Hexen gierten nach Macht. Was dazu geführt hatte, dass die Konflikte sich verschoben hatten.

»Harlow Jammison Cassidy McQueen, hör auf zu träumen. Der Sohn des Verteidigungsministers spricht zu dir!«

Verwundert sah ich zu Oliver, der mich breit angrinste.

»Mate, hörst du mir überhaupt zu?« Mittlerweile standen wir vor meiner Mutter, die ihre Nase rümpfte bei Olis Wortwahl.

»Oliver King, immer wieder eine Freude, dich zu sehen«, begrüßte sie ihn zuckersüß.

Als ob. Meine Mutter hasste ihn und seinen Vater. Und doch hatte sie meine Hochzeit mit Olis Schwester, Ruby King, bereits vor Jahren arrangiert. Trotz dieser völlig überholten und dämlichen Tradition, Hexenhochzeiten zu arrangieren, hielt ich ihr wenigstens zugute, dass sie es für Einfluss und ein gemeinsames Kind getan hatte. Wir Hexen heirateten meist nicht aus Liebe, sondern aus Vernunft und zur Machtstärkung. Für Menschen mutete so etwas sicherlich merkwürdig an, doch für uns war es so normal wie das Singen von Zaubern – oder eben auch Cantos genannt.

Um es mit den Worten von Angelina auszudrücken: »Sohn, mich stört nicht, dass du schwul bist. Zur Urmutter, ich selbst bin bisexuell. Bei der Ehe geht es nicht um Liebe. Ihr müsst nur ein Kind zeugen, um die Blutlinien zu vereinen. Das funktioniert auf magischem Weg. Glaubst du, ich hätte mit deinem Vater geschlafen? Ganz sicher nicht! Was denkst du, wie viele Hexen neben ihrem Ehepartner einen anderen Partner lieben? Niemand verbietet dir, einen Freund zu haben. «

Richtig, ich wurde wie ein Handelsgut verscherbelt, sollte nur ein Kind zeugen und könnte nebenher einen Mann lieben. Kein Ding. Überhaupt nicht überholt, diese Vorstellung, oder invasiv in mein Leben.

Willkommen in der Familie McQueen.