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HARLOW

SECHZIG TAGE BIS ZUM BLUTMOND

J ax Ingram – niemand schaffte es, mich derart wütend und so schmachtend zugleich werden zu lassen wie dieser Kerl. Mein Kryptonit. Während mir seine Art ungeheuerlich auf die Nerven ging, wurden meine Knie dennoch weich, sobald ich seine volle, tiefe Stimme vernahm. Und bei der Urmutter, wann immer er sang. Totaler Fan-Boy-Modus bei mir – und das war völlig unangebracht. Wenn meine Mutter Angelina davon wüsste, wäre ich erledigt.

Also tat ich, was jeder unreife, verwöhnte Einundzwanzigjährige tat, der nicht auf sein Erbe verzichten wollte: Ich behandelte die Straßenhexe von oben herab, strafte ihn mit eisigen Blicken. Was dazu geführt hatte, dass er mich heimlich Eisprinz nannte, was ich wiederum nur durch Zufall im zweiten Jahr an der St. Andrew mitbekommen hatte, als Jax es im Vorbeigehen vor sich hin genuschelt hatte. Und später durch Ruby bestätigt worden war, die es mir grinsend verraten hatte.

Genervt pflückte ich ein Blütenblatt vom Blauen Hibiskus neben mir und warf es von unserem Balkon des Penthouse. Langsam segelte es in Richtung des Opernhauses, während ich weiterhin versuchte, Jax’ Augen aus meinen Gedanken zu verdrängen. Das Braun seiner Iriden strahlte wie die Glut von Feuer, sobald die Sonnenstrahlen sie trafen. Eingerahmt von wilden dunkelbraunen Strähnen seines Haars und unterstrichen durch die vollen Lippen, umringt von einem Dreitagebart.

Wunderbar. Jetzt dachte ich wieder an seine Lippen.

Fokus, Harlow!

»Zur Urmutter …«, murmelte ich vor mich hin. Es war Zeit, meine ungezügelte Lust in den Griff zu bekommen. Mehr würde es sowieso nie werden.

Ein Lachen hinter mir ließ mich herumfahren. Im Türrahmen zu unserem Wintergarten stand Teagan, meine Sicherheitschefin und Oberste Leibwächterin. Selbst der schlichte schwarze Anzug, die zurückgegelten Haare und die riesige Sonnenbrille, die ihr halbes Gesicht bedeckte, waren nicht in der Lage, ihre atemberaubende Schönheit zu schmälern. Egal wie sehr Teagan sich bemühte, ihr Aussehen hinter nüchterner Kleidung und der großen dunklen Brille zu verstecken, nichts vermochte ihre strahlende Aura zu dämpfen. Wieso sie in den Sicherheitsdienst der Präsidentin gegangen war, statt ein millionenschweres Supermodel zu werden, blieb mir schleierhaft.

Der Geruch von Äpfeln, nassem Tierfell und verrottendem Holz, durchzogen mit einem Hauch verbrannter Asche, wehte zu mir herüber. Als ich ihn das erste Mal gerochen hatte, war mir übel geworden, doch ich hatte mich mittlerweile dran gewöhnt. Interessant hingegen war, dass Menschen diesen Geruch wie eine Droge wahrnahmen. Sich danach verzehrten. Öfter hatte ich schon Leute begierig in die Luft schnüffeln sehen, wenn Teagan an ihnen vorbeistolziert war.

»Wieso lachst du?«, fragte ich mit einem halben Lächeln auf den Lippen.

»Weil es niedlich ist, wie du dich gegen die Liebe sträubst.« Lässig lehnte sich Teagan an den Türrahmen.

»Liebe? Warst du zu viel in der Sonne?«

»Ach Kleiner, ich rieche Liebe zehn Kilometer gegen den Wind, glaub mir. Erinnere dich an meine Worte.«

»Ja klar. Nicht nötig, denn von Liebe steht nichts im Fünfjahresplan, den Angelina für mich aufgestellt hat.«

»Wie du meinst.« Mit einem süffisanten Grinsen auf den Lippen schlenderte Teagan an meine Seite und schnupperte an mir. Dann lachte sie erneut. »Oh, là, là, die Straßenhexe. Gute Wahl. Unerwartet, ja. Aber nicht sonderlich überraschend.«

Reflexartig sprang ich ein Stück in die Luft, was Teagans Lachen nur verschärfte. »Ich habe keine Ahnung, wovon du redest!«

»Einundzwanzig müsste man noch mal sein«, antwortete sie mit einem theatralischen Seufzen.

Schreie aus dem Stockwerk unter uns durchbrachen das Geplänkel zwischen Teagan und mir. Waren das meine Mutter und Mr King?

»Harlow.« Jegliche Leichtigkeit hatte Teagans Stimme verlassen. Ihre Stirn lag in Falten, die Augen waren zu Schlitzen verengt.

»Wie können die Namen meiner Kinder in dem Buch auftauchen?«, brüllte Bruce, seine Stimme überschlug sich. Das Blut, das in meinen Ohren rauschte, war einen Moment lang das Einzige, was ich vernahm. Und es war lauter als die Wasserfälle in den Regenwäldern im Norden Australiens.

»Nicht so laut!«, keifte meine Mutter, und plötzlich verstummte das Geschrei. Sie hatte mit Sicherheit einen Canto gesungen, der ihr Gespräch verschleierte.

»Nein«, flüsterte ich, während mein Körper unkontrolliert zitterte. Instinktiv wusste ich, um welches Buch es ging. Immerhin lebte ich schon lange in diesem Haus und war mit den politischen Gepflogenheiten mehr als nur vertraut. »Bitte nicht.«

»Harlow, du kannst nichts –«, setzte Teagan an, aber ich sprintete in unsere Wohnung. Genervtes Grummeln erklang hinter mir, doch ich rannte den Flur entlang zu Angelinas Arbeitszimmer. In diesem Moment scherte ich mich nicht darum, dass mir der Zutritt verboten war.

Schwer atmend kam ich vor dem robusten Mahagonitisch zum Stehen. Neben einem Haufen Papieren und Akten lag dort ein in schwarzes Leder gebundenes Buch. Goldene Verzierungen rankten sich unablässig über die Oberfläche. Der Einband strahlte eine Kälte aus, die mich frösteln ließ. Spielte um mich, legte sich auf meine Haut und durchdrang meine Knochen. Von dem Buch der Finsternis ging eine Macht aus, die nicht von dieser Welt zu sein schien.

Mit zitternden Fingern schlug ich es auf und blätterte frenetisch durch die Seiten. Zahllose Namen flogen vor meinem Auge dahin. Jeder einzelne war mir völlig egal. Mich interessierten ausschließlich die letzten Einträge.

»Harlow, nicht«, sagte Teagan in der Tür des Arbeitszimmers. Ihre Stimme klang weich, leiser als sonst – besorgt.

Zu spät. Mein Blick verschwamm, während ich zwei Namen las.

Oliver King.

Ruby King.

Heiße Tränen rollten meine Wangen hinab. Das durfte nicht wahr sein. Ein Irrtum. Unmöglich konnten diese beiden Namen dort stehen.

Ich hob langsam den Kopf. Tränen rannen weiterhin meine Wangen hinab, während mein Atem stockend ging, denn meine Kehle war wie zugeschnürt.

»Teagan, sag mir, dass es ein Fehler ist.«

Sie schloss die Augen. Atmete tief ein und aus. Dann öffnete sie die Lider und Trauer huschte über ihr Gesicht.

»Es tut mir leid.«

»Nein!« Ich schlug das verdammte Buch zu und stürzte zur Tür. Bevor ich hindurchrennen konnte, hielt mich Teagan am Arm fest. So sehr, dass Schmerz durch meine Muskeln fuhr. Dennoch kochte die Wut in mir über und ich funkelte sie finster an.

»Lass mich sofort los. Das ist ein Befehl!«

Ohne ihren Griff zu lösen, lächelte sie traurig und entließ ein leises Schnauben.

»Mein Befehl ist es, den Sohn der Präsidentin zu beschützen. Sobald ich eine Gefahr sehe, haben weder du noch deine Mutter das Kommando – sondern ich.«

Erneut schossen mir Tränen in die Augen. Der Raum verschwamm und drehte sich rasend schnell. Kraftlos boxte ich gegen Teagans Schulter, versuchte mich zu befreien. Nur war es vergebens, ihre Kraft überstieg meine bei Weitem.

Sie zog mich in eine feste Umarmung. Ihr Eigengeruch war so prägnant wie nie zuvor. Er durchspülte den gesamten Raum und das Schwindelgefühl nahm mehr und mehr zu.

»Hör mir jetzt genau zu.« Langsam drückte sich mich von sich. Das Weiß ihrer Augen verfinsterte sich zu purer Schwärze. Für einen Augenblick erblickte ich ledrige Flügel an ihrem Rücken, doch als ich blinzelte, waren sie verschwunden.

»Du … Was … Was bist du?«, stotterte ich.

»Ein Sukkubus, aber das spielt jetzt keine Rolle. Willst du mein wahres Wesen diskutieren oder deine Freunde retten?«

»Ich …« Keine Ahnung, was die Antwort darauf war. Beides? Mit offenem Mund starrte ich meine Leibwächterin an.

»Wo sind Oli und Ruby?«, fragte sie mit fester Stimme.

»Beim Feuer. Sie eröffnen es. Ich wollte gleich dorthin.«

»Okay. Hör mir nun wirklich ganz genau zu, Harlow.«

Ich nickte benommen. Spürte, wie ein Tropfen Schweiß meine Stirn hinablief.

»Kein Wort zu deiner Mutter. Du hast die Namen nie im Buch gesehen, verstanden? Wisch dir die Tränen aus dem Gesicht und streif die fröhliche Maske über.«

»Was? Ich –«

»Zuhören, habe ich gesagt!«, fuhr Teagan mich an. »Wenn Madam President erfährt, dass du es weißt, lässt sie dich nicht zum Feuer. Und das bedeutet, dass wir keine Chance haben, deine Freunde zu erreichen, bevor … sie verschwinden. Wenn sie es nicht ohnehin schon sind.«

Ich wusste nur vage etwas über das Buch – das einzig Sichere war, dass jede Person, deren Name darin erschien, spurlos verschwand. Aus Reflex griff ich nach meinem Handy und Teagan nickte mir zu. Per Kurzwahl rief ich Oli an. Mailbox. Seine Stimme sagte den üblichen lustigen Spruch, doch bevor er zu Ende gesprochen hatte, legte ich auf.

Zittrig wählte ich Rubys Nummer. Ebenso Mailbox. Scheiße. Beide waren sonst immer erreichbar für mich.

»Wir müssen los«, durchbrach Teagan meinen Schreck. »Jetzt!«

* * *

Vermutlich hätte es mich mehr verstören müssen, wie einfach es mir gefallen war, die lächelnde Maske überzustreifen und zu tun, als wäre alles cool. Angelina hatte mir sogar viel Spaß beim Feuer gewünscht und sich ein unechtes Lächeln auf die Lippen gequält.

Was für ein Monster war ich geworden? Selbst die australische Präsidentin schaffte es nicht, eine glaubwürdige Maske anzulegen in der drohenden Gefahr.

Meine beiden einzigen, echten Freunde standen kurz davor zu verschwinden, oder waren es längst, und ich spielte den unbekümmerten Freund? Wann hatte ich es geschafft, meine Gefühle von meinem Körper zu trennen?

Eisprinz.

Jax’ Worte hallten mir durch den Kopf. War ich wirklich eiskalt und verdiente den Spitznamen: der Eisprinz?

»Harlow, Fokus«, sagte Teagan, während sie den Wagen am Strand von Manly Beach einparkte. »Wenn du dich nicht konzentrierst, dann brechen wir es sofort ab. Zur Urmutter, ich hätte dich gar nicht erst mitnehmen dürfen. Es ist zu gefährlich!«

»Danke, dass du es getan hast«, antwortete ich leise und legte meine Hand auf ihren Unterarm. Sie lächelte mir milde zu und nickte.

»Du machst, was ich sage. Verstanden?«

Ich atmete tief durch. »Das kann ich dir nicht versprechen.«

»War von auszugehen«, murmelte sie. »Glaub mir, du hast keine Ahnung, wie gefährlich es ist, und wie unsinnig meine Entscheidung ist, zusammen mit dir hierherzukommen. Wenn dir etwas passiert, erwürge ich dich zusätzlich. Sei bereit, dein ganzes Arsenal an Belcantos zu nutzen.«

Wir lächelten uns einige Augenblicke lang an, entschlossen und nicht fröhlich. Dann nickte Teagan und wir stiegen aus dem Auto.

Schweigend eilten wir die Promenade entlang, die den Hauptstrand von der geschützten Bucht Shelly Beach , in der das Feuer brannte, trennte. Fünf Minuten später stand ich mit flachem Atem, beinah paralysiert auf dem feinen gelben Sand. Funken stoben aus dem Feuer durch die anbrechende Nacht und verflogen in dem klaren Himmel. Gut dreihundert junge Hexen von St.Andrew tummelten sich hier. Mehrere Stände mit Essen und Getränken standen um das Feuer. Doch mein wilder Blick fand Ruby und Oli nicht unter ihnen. Laute Musik dröhnte über das Meer, während ein paar Leute tanzten. Auch hier sah ich meine Freunde nicht. Verdammt, wo waren sie?

Überall vernahm ich Gespräche, lachende Absolventen und sah feiernde Jugendliche. Einige spielten Beerpong, weitere badeten im seichten, klaren Wasser der Bucht. Unter anderen Umständen hätte ich die Party genossen. Immerhin war sie das Event des Jahres für Studierende an der St.Andrew . Doch mein Blick suchte weiterhin panisch nach Oliver und Ruby.

Eine Gruppe, unter der sich auch Freunde der Geschwister befanden, stach mir ins Auge. Ich rannte zu ihnen.

»Habt ihr Oli gesehen?«, fragte ich mit zittriger Stimme.

»Hey, McQueen, du bist da!«, brüllte ein betrunkener Freund von Oli aus dem Rugbyteam und versuchte mir ein High Five zu geben.

»Wo ist Oli?«, hakte ich nach, ignorierte die Geste.

»Keine Ahnung, Mate. Vermutlich irgendein Mädel abschleppen.«

Eine junge Hexe, die mit Ruby befreundet war, boxte dem Typen gegen den Oberarm.

»Was? Jeder weiß, dass Oli nur Spaß sucht und seine Freundinnen täglich wechselt!« Er lachte laut.

»Kein Grund, das so zu feiern, du Prolet«, murmelte sie und funkelte ihn genervt an.

»Weißt du, wo Ruby ist?«, fragte ich die junge Hexe. Aus dem betrunkenen Kerl würde ich keine Antworten herausbekommen.

Ihr Gesicht verfinsterte sich. »Ich … Nein … Harlow, ich …«

»Hey, sag es mir einfach!«, forderte ich ungewollt schroff. »Sie bekommt keine Probleme, versprochen«, setzte ich freundlicher nach.

»Ich dachte, sie hätte wie immer die Finger vom Alkohol gelassen. Aber sie benahm sich plötzlich so komisch. Ihre Augen waren glasig und ihre Stimme verwaschen.«

»Ruby trinkt keinen Alkohol«, stimmte ich ihr zu.

»Genau. Aber sie redete wirr. Von Bäumen und einem Wald. Ich habe Oli mit ihr in Richtung Buschland torkeln sehen. Vermutlich will er sich abseits um sie kümmern.« Das schlechte Gewissen schwang deutlich in der Stimme der jungen Hexe mit.

Jede von uns Hexen bekam von Kindesbeinen an eingebläut, dass wir große Ansammlungen von Bäumen und Büschen zu meiden hatten. Nur den Hyde-Park inmitten von Sydney durfte ich besuchen, wenn ich die Lust nach Natur verspürte, da der Baumbestand dort verteilter war als im Buschland.

Zur Urmutter, ich erinnerte mich noch genau, wie Angelina ausgerastet war, als ich fragte, ob wir die Blue Mountains besichtigen könnten. Kilometer von Eukalyptusbäumen bildeten dort eine riesige Waldlandschaft, die durch den Dunst der Bäume blau schimmerte. Nie zuvor hatte ich Angelina so wütend und verängstigt zugleich erlebt. Es erübrigte sich zu erwähnen, dass ich nach einundzwanzig Jahren nicht einmal in die Nähe der Blue Mountains gekommen war, oder?

Teagan musterte die junge Hexe, dann mich. Sie schüttelte kaum merklich den Kopf. Ihre Augen waren durchtränkt von Sorge, die vollen Lippen zu einer dünnen Linie zusammengepresst.

Ich hingegen hatte genug. Diese unnormale Angst vor Bäumen, die uns Hexen anerzogen wurde wegen eines unsinnigen Märchens, würde mich nicht davon abhalten, nach meinen Freunden zu sehen.

Was bitte sollten Bäume so Schreckliches ausrichten? Immerhin beherrschte ich mehrere Feuer-Cantos. Selbst wenn die Dinger zum Leben erwachten, was völlig abwegig war, würde ich sie locker niederbrennen.

Entschlossen stapfte ich Richtung Buschland, das die Bucht zur Nordseite vom Ozean trennte.

»Hey!«, sagte Teagan energisch und hielt mich an der Schulter fest.

»Lass los!« Wir starrten uns finster an. Einige Momente vergingen, dann seufzte sie und entließ mich.

»Ich bin die schlechteste Leibwächterin überhaupt«, murmelte sie, während sie mit schweren Schritten an mir vorbei zum Buschland ging.

Erstaunt starrte ich ihr hinterher, denn ich hatte mit deutlich mehr Diskussion gerechnet.

»Willst du ewig da stehen bleiben?«, rief sie mir mit einem Blick über die Schulter zu. »Halt deine Stimmbänder bereit. Das wird gefährlich. Verstanden?«

Ich nickte und eilte ihr hinterher.