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HARLOW

SECHZIG TAGE BIS ZUM BLUTMOND

M it großen Schritten eilten Teagan und ich die gut hundert Meter zum Buschland. Wir erreichten eine schmale Treppe aus eierschalenfarbenem Stein, die auf die Anhöhe, gefüllt mit Bäumen und Büschen, führte. Allesamt wirkten bräunlich statt grün. Die Sommerhitze Sydneys setzte ihnen zu, und wenn sich niemand täglich um sie kümmerte, wie es im Hyde-Park der Fall war, verloren sie schnell ihr grünes Farbkleid.

Im Licht der untergehenden Sonne und des nahen Lagerfeuers wirkte das trockene Buschland wie aus einem Horrormärchen. Die braunen, kargen Äste streckten sich, in diesem Licht unheimlich glühend, nach uns aus und mir lief ein Schaudern den Rücken hinab. Die antrainierte Angst vor Wäldern funktionierte offensichtlich blendend.

Ich schüttelte den Gedanken ab. Es waren nur Pflanzen, was sollten sie mir antun? Teagan hielt mich am Arm, bevor ich die Stufen hinaufrennen konnte.

»Ich gehe vor! Harlow, du hast keine Ahnung, mit wem wir uns anlegen.«

Trotz des Impulses zu diskutieren nickte ich ihr zu. Selten hatte ich ihre Stimme so angespannt und von Angst durchzogen erlebt. Teagan gehörte zu den furchtlosesten Personen, die ich kannte, und doch zitterten ihre Hände, wie ich bemerkte. Auch aus dem Grund ließ ich ihr den Vortritt und folgte schweigend. Leise summend bereitete ich meine Stimmbänder darauf vor, sie im Notfall einzusetzen. Einmal eingestimmt, gestaltete es sich deutlich einfacher, Cantos zu singen.

Am Treppenabsatz angekommen, betraten wir den ausgetretenen Sandpfad, der zwischen den Bäumen hindurchführte. Gesäumt von Büschen und vereinzeltem Abfall, vermutlich mal wieder von Touristen, lag er still im Zwielicht. Die Musik vom Lagerfeuer in der kleinen Bucht wurde durch den dichten Bewuchs der Natur geschluckt. Nur der Bass wummerte über den Boden, mischte sich mit dem Knirschen der Blätter unter meinen Schuhen und dem Zirpen der Heuschrecken.

Im Gebüsch um uns herum raschelte es immer mal wieder. Innerlich hoffte ich, dass es keine Schlangen waren, die wir bei der Nistzeit störten. Brownsnakes liebten Sydneys Buschland und reagierten äußerst aggressiv, wenn man sie aufscheuchte. Links von mir raschelte es laut. Ich erkannte Bewegung in einem Busch und ein Schatten löste sich. Ungewöhnlich spitz entfuhr mir ein Schrei, weshalb ich mir die Hand vor den Mund schlug.

Ein Truthahn trottete gackernd aus dem Laub und musterte mich eindringlich. Er legte sogar den Kopf schief, als wollte er mir signalisieren, ihn zu füttern. Nachdem ich hilflos mit den Schultern zuckte, drehte er mir den Hintern zu und watschelte davon. Diese Viecher wurden zu sehr von den Touristen verwöhnt.

»Wusste nicht, dass du so hoch in der Tonleiter kommst«, hörte ich eine tiefe, mir äußerst vertraute Stimme. Ich wirbelte herum. Gänsehaut breitete sich auf meinen Armen aus, wie jedes Mal, wenn Jax mit seinem eindringlichen Bass zu mir sprach. Nur erschauderte ich diesmal nicht, sondern errötete zudem, da ich mich vor einem lächerlichen Vogel erschrocken hatte.

»Was machst du hier?«, fragte ich bemüht gelassen.

»Wusste nicht, dass dieses Buschland euch McQueens gehört.« Wie üblich wechselte Jax sofort in die Verteidigungshaltung. »Was treibst du dich denn hier rum? Ist deine Kleidung nicht zu teuer für einen Wanderausflug?«

»Könnt ihr euren albernen Streit lassen?«, zischte Teagan. »Das ist kein guter Zeitpunkt.«

»Ehrlich, schlaft endlich miteinander«, sagte die junge Frau mit den blauen Haaren neben Jax.

»Klappe, Eliss!«, fauchte er.

»Die sexuelle Spannung ist ja kaum auszuhalten«, ergänzte seine Freundin unbeirrt.

»Das ist nicht, was ich damit meinte.« Teagan stöhnte auf und verengte die Augen.

»Schon gut, schon gut!« Eliss hob die Arme. »Wir sind aus demselben Grund hier wie ihr.«

»Ihr kennt euch?«, fragten Jax und ich gleichzeitig.

»Lange Geschichte.« Teagan sah Eliss an. »Du hast den Wald auch gehört?«

»Er verlangt nach den King-Geschwistern, aber etwas war komisch«, sagte Eliss.

»Wir sollten sie schnell finden«, sagte Teagan und setzte sich wieder in Bewegung.

Nach weniger als einer halben Minute gabelte sich der Weg in zwei Pfade. Einer, der bis zu einer Aussichtsplattform auf der steinernen Klippe führte, der andere tiefer in das Buschland und die zunehmende Dunkelheit.

Während Teagan in Richtung des Meeres starrte, sah ich den anderen Weg entlang. An dessen Ende erkannte ich zwei Schemen zwischen den Bäumen. Ruby und Oli. Ich tippe meiner Wächterin auf die Schulter und nickte zu den beiden Schatten. Auch Jax und Eliss sahen in die Richtung. Teagan hielt ihren rechten Arm vor uns, bevor Jax und ich losstürmen konnten, während Eliss ihren Zeigefinger an die Lippen legte.

»Sie ruft nach mir«, erklang Rubys Stimme leise durch den Wald.

»Ich höre die Stimme auch«, antwortete Oli, der am Boden hockte und etwas in den Dreck malte.

Was taten die beiden da?

Teagan und Eliss schlichen näher, so grazil wie Raubkatzen. Jax und ich folgten deutlich unbeholfener. Der Boden war uneben und überall streckten sich uns Äste entgegen. Ich versuchte sie mit den Händen von meinem Gesicht fernzuhalten, und doch zerkratzten sie meine Haut an den Armen und den Wangen. Ich spürte die feuchte Wärme von Blut hinunterlaufen und wischte es mit dem Ärmel meines Sakkos weg. Neben mir grummelte Jax, dem es offensichtlich nicht anders erging.

»Scheiß Äste«, flüsterte er. Genervt brach er ein paar Zweige ab und pfefferte sie in die Dunkelheit des Buschlands.

»Stopp! Und seid leise.« Teagan streckte ihre Hand mahnend aus und hockte sich mit Eliss zusammen hinter einen Busch. Offensichtlich war ich in meiner Genervtheit zu laut, aber zum Glück hatten Ruby und Olli nichts bemerkt.

»Woher kennt Oliver King die Runen des Waldes?«, flüsterte Jax’ Freundin mit zitternder Stimme.

»Gute Frage. Entweder er hatte Kontakt zu einem Útlagi oder jemand spielt ihm verbotenes Wissen zu.«

»Aber wie? Das hätte sein Vater bemerkt«, fügte Eliss hinzu.

»Wovon redet ihr da?«, fragte Jax und hockte sich zu den beiden Frauen. »Hast du Útlagi gesagt?«

»Nicht jetzt, Jax.« Eliss schüttelte den Kopf.

Was zur Urmutter war ein Útlagi?

»Wieso hocken wir hier, anstatt ihnen zu helfen?«, zischte ich in dem Versuch, zu flüstern. Doch meine Nerven waren zu angespannt, um meine Stimme leise zu halten.

Träge hob Oli den Kopf von den Zeichen, die er mit seinen Händen in den Waldboden malte, und drehte sich zu uns. Ich zog scharf die Luft ein. Seine Augen leuchteten wie grüne Scheinwerfer. Ruby wandte sich ebenfalls zu uns um. In ihrem Blick lag das gleiche Lichtspiel. Vor Schreck wich ich etwas tiefer in den Schatten des Waldes und hielt mir eine Hand vor den Mund. Adrenalin beschleunigte meinen Puls.

Nach einem ewigen Moment drehten sich Oli und Ruby wieder zu den Zeichen am Boden. Dennoch sah ich weiterhin ihre leeren Augen und das grünliche Licht vor mir.

»Sie sind verflucht, oder?«, flüsterte ich.

»Nicht direkt«, antwortete Teagan. »Sie stehen eher unter einem äußerst machtvollen Bann, stärker als die dir bekannten Flüche.«

Diese Aussage beschleunigte meinen Puls zusätzlich. Fluch-Belcantos waren in Australien und den demokratischen Ländern der Hexenwelt illegal und wurden streng geahndet. Ebenso alle Artefakte und Talismane, die einen enthielten.

»Wieso helfen wir ihnen nicht?« Jax’ Stirn lag in Falten und er hatte die Hände zu Fäusten geballt.

»Weil sie mit großer Wahrscheinlichkeit sterben, wenn wir sie davon abhalten, das zu erledigen, was der Bann von ihnen verlangt.« Mit gesenktem Blick und hängenden Schultern sah Teagan zu uns. »Wir haben keine Wahl, und warten, bis sie den Durchgang geöffnet haben.«

»Und dann müssen wir uns beeilen«, fügte Eliss hinzu.

»Durchgang? Wohin? Und wieso beeilen?«, fragte ich und kam mir langsam dämlich vor.

»In den Wald von –«, setzte Teagan an, wurde aber durch ein lautes Knistern unterbrochen. Alarmiert schnellte ihr Kopf zu Ruby und Oliver.

Ein Lichtfunken stob in die Dunkelheit, und unmittelbar danach füllte er das gesamte Muster aus, das Oli auf den Boden gemalt hatte. Die Luft vibrierte, Wind zog auf und die Bäume flüsterten leise vor sich hin. Nur einen Moment später zerschnitt die Realität vor meinen beiden Freunden und ein Riss, so groß wie ein Kirchentor, erschien. Durch ihn erkannte ich einen anderen Wald, der in Grün- und Blautönen erstrahlte. Sein Licht tanzte durch das Tor und badete den kleinen Bereich um Ruby und Oli in einen unheimlichen Glanz. Ein intensiver Geruch nach verfaulten Äpfeln, morschem Holz und nassem Tier wehte zu uns herüber, raubte mir kurz den Atem. Direkt darauf erkannte ich ihn wieder. Meine dämonische Leibwächterin roch genauso, wenn auch weniger konzentriert.

»Jetzt«, gab Teagan knurrend von sich.

Bevor ich mich’s versah, schossen Eliss und sie aus dem Versteck. Beide hatten ihre menschliche Form abgelegt und die dämonische angenommen. Ledrige Flügel prangten an Teagans Rücken, ihr pechschwarzes Haar wehte offen um ihren Kopf. Halb vergammelte kleine Blätter und vereinzelte Blüten durchbrachen ihre schneeweiße Haut, während schwarze Wurzeln sich wie lebendige Adern unablässig unter dieser hindurchzogen.

Eliss hingegen umspielten Schatten, die aus ihren tiefschwarzen Augen entwichen. Ihre aschgraue Haut war durchzogen mit toten Blumen sowie Moos, und es sah aus, als legten sie sich unmittelbar danach über ihre Knochen, so ausgemergelt erschien sie in ihrer Dämonengestalt. Wirkte sie in Menschenform sportlich, so erschien sie als Dämonin hager und eingefallen, beinah wie eine mumifizierte Leiche.

Beide erreichten zeitgleich meine Freunde. Jax und ich hockten weiterhin hinter dem Busch. Alles passierte so schnell, dass es mir unmöglich war, nur einen klaren Gedanken zu fassen. Teagan schnappte Oliver und zog ihn von dem Riss in der Luft dichter zu uns herüber. Als Ruby von Eliss gepackt wurde, schossen grün strahlende Ranken aus dem Durchgang und legten sich um den Körper meiner Freundin. Sie zerrten sie näher zum Riss, während Eliss sich mit aller Kraft dagegenstemmte.

Teagan setzte Oli bei uns ab und warf mir einen eindringlichen Blick zu. »Bringt ihn hier weg!«

»Nein, wir lassen euch nicht zurück!«

»Harlow, lauft! Ihr seid dem nicht gewachsen!« Mit diesen Worten drehte sie sich um und eilte Eliss zu Hilfe. Eine der grünen unterarmdicken Ranken peitschte ihr ins Gesicht und warf sie zurück.

»Drecksteil!«, fluchte Eliss und rappelte sich auf. Mit der linken Hand fuhr sie sich über die Wange und leckte sich das schwarze Blut vom Finger. »Du willst spielen? Na dann!«

Sie stemmte ihre Füße einen Meter ausgebreitet in Kampfstellung, beugte sich vor und holte tief Luft. Ihr Nacken spannte sich an, während sie die Arme ausbreitete. Dann hallte ein klagender Schrei voller Leid durch den Wald. Er nahm eine leuchtende Form an, einem Energieball gleich, schoss auf eine der vier monströsen Ranken zu und explodierte auf ihr. Die Ranke schreckte wie ein scheues Tier zurück und verschwand mit einem Kreischen durch den Riss in den anderen Wald.

»Was zur Urmutter ist sie?«, flüsterte ich zu mir selbst.

»Laut ihrer Aussage eine Banshee«, antwortete Jax atemlos, er kauerte neben mir und ich hatte ihn völlig vergessen.

»Du wusstest über Dämonen Bescheid? Wieso wissen es alle außer mir?«

»Beruhig dich, Goldjunge. Ich habe es vorhin erst erfahren.«

»Ich ebenfalls. Und nenn mich nicht so!«

»Wie auch immer, Harlow Jammison Cassidy McQueen. Dein Arschlochkumpel sieht gar nicht gesund aus.«

Ich zeigte Jax den Mittelfinger. Danach wandte ich meinen Blick Oli zu und erstarrte.

Seine ansonsten gebräunte Haut wirkte ungesund gräulich. Feine schwarze Linien durchzogen sie und pochten unheimlich vor sich hin. Ähnlich wie ich sie unter Teagans Haut sah, nur waren sie bei Oli blasser und wanderten seinen linken Arm hinauf. Seine Hand war von einem daumengroßen Holzstück durchbohrt worden. Es pulsierte in einem hellen Grün und ich glaubte, es flüstern zu hören.

»Hörst du das?« Ich sah zu Jax.

»Ja, klingt wie eine Sprache, die Eliss vorhin gesprochen hat, als sie besessenes Zombiemädchen gespielt hat.«

»Was machen wir?« Mein Blick eilte zu den drei Frauen. Teagan und Eliss bekämpften die Ranken, von denen immer wieder neue erschienen und Ruby umschlangen. Ich erkannte meine Freundin kaum, so viele von den Biestern hatten sie umwickelt. Nur ihr Kopf schaute heraus, sie hatte die Augen aufgerissen und ein stiller Schrei lag auf ihren Lippen.

»Die Linien, sie wandern«, sagte Jax. »Ich wette, wenn sie sein Herz erreichen, ist das alles andere als gut.«

»Die kommen aus dem Holz.«

»Ist nicht wahr, Sherlock.« Jax verdrehte die Augen.

Vorsichtig legte ich meine Finger um den Pflock, der Olis Hand durchbohrte. Aus dem Nichts schoss eisige Kälte durch meinen Körper. Sie breitete sich um meine Knochen und mein Herz aus, wo sie erbarmungslos zudrückte und jegliche Wärme verscheuchte. Ich hörte unendliche Wut, Wehklagen und Schmerzensschreie in meinem Kopf. Sah Frauen unterschiedlichen Alters, wie sie verbrannt oder ertränkt wurden. Spürte ihre Angst, den Schmerz und den Durst nach Rache. Ein roter Nebel des Zorns verschleierte meine Gedanken.

Urplötzlich endeten diese schrecklichen Gefühle. Ich keuchte und rang nach Luft. Sog gierig ein, was meine Lunge bereit war aufzunehmen. Die Emotionsgewalt hatte mir Tränen in die Augen getrieben, sie liefen meine Wangen hinab. Ich sah zu meiner Hand. Jax hatte seine Finger um sie gelegt und mich von dem Splitter losgerissen.

»Danke«, presste ich hervor, ließ seine Hand aber nicht los.

»Gern. War nur Selbstschutz. Du hast plötzlich in dieser seltsamen Sprache gemurmelt.«

Jax machte ebenso keine Anstalten, seine Finger von meinen zu lösen. Das Kribbeln in meinem Magen hatte sich das weltschlechteste Timing ausgesucht, um volle Fahrt aufzunehmen. Ruckartig zog ich meine Hand zurück. Jax starrte erstaunt auf seine Finger, als hätte er gar nicht bemerkt, dass wir vor wenigen Sekunden Händchen gehalten hatten. Er schüttelte flüchtig den Kopf und widmete sich erneut Oli.

Richtig! Oli, der in diesem Moment von einem Holzstück durchlöchert vor uns lag und den schwarze Wurzeln töten wollten.

Memo an mich: Sterbender Freund: unsere aktuelle Sorge. Händchen halten mit Jax: Problem für einen anderen Tag.

Nach dieser Sache hieß es, schleunigst meine Prioritäten klar zu bekommen.

»Das Stück Holz muss aus seiner Hand«, sagte Jax, der deutlich konzentrierter schien.

»Sobald du es berührst, flüstert es dir abscheuliche Sachen ein. Bilder, die sich kaum in Worte fassen lassen. Es will nicht entfernt werden.«

»Tja, dann lernt heute jemand, dass er nicht immer alles bekommt, was er begehrt.«

»Er?« Meinte er mich?

»Der Wald«, sagte Jax deutlich. »Falls ich genauso apathisch werde, lös nicht meine Hand, sondern schubs mich oder zieh an mir. Vielleicht entferne ich es dann beim Sturz.«

Ich setzte an zu fragen, ob das eine gute Idee sei, da griff er schon nach dem Holzstück. Unmittelbar danach färbten sich seine Augen grünlich und er murmelte Worte in der fremden Sprache. Hatte ich gedacht, er bräuchte meine Hilfe, so irrte ich mich.

Mit einem schmerzverzerrten Stöhnen schnellte seine Hand mit dem Holzstück nach oben und Oli schrie aus voller Kehle auf. Die Augen geweitet, warf Jax das Stück Holz in den Wald und schüttelte den Kopf, während ich meine Hände beruhigend auf Olis Brust legte. Seine Atmung ging flach, sein Herz raste. Weiterhin schrie er mit geschlossenen Augen. Alle Muskeln seines Körpers verkrampften und entspannten sich im Sekundentakt – ehe er plötzlich ohnmächtig wurde. Die schwarzen Linien auf seiner Haut wanderten nicht weiter, verblassten jedoch nicht. Oli stöhnte und keuchte, als hätte er einen Albtraum, doch egal wie ich ihn schüttelte, er wachte nicht auf.

»Scheiß drauf, ich lasse mich doch nicht von einem Wald verarschen«, murmelte Jax und sprang auf. Mit wenigen Schritten rannte er geduckt durch die Gegend und sammelte Gegenstände vom Boden und den Bäumen ein.

Unweit von uns versuchten die beiden Dämoninnen weiterhin die monströsen Ranken von Ruby zu lösen und weitere Angreifer zurückzuschlagen. Ich hingegen saß nutzlos hier herum und hielt Olis Kopf in meinem Schoß. Überfordert und erstarrt.

»Wir erwarten Großes von Ihnen, Sir« , hörte ich unsere Angestellten in meinen Gedanken sagen. Fast entglitt mir ein Lachen, denn ich bewies äußerst eindrucksvoll, dass ich diese Erwartungen nicht erfüllte.

»Hey, Fokus!«, brummte Jax, der wieder neben mir hockte. Mit flinken Fingern kombinierte er kleine Steine, Zweige und Pflanzen zu einem runden Amulett am Boden. Dann zog er einen Edelstein aus seiner Tasche und legte ihn in die Mitte des Gemischs. Nur einen Augenblick später summte er eine Melodie, und Feuer verließ seinen Mund, um die Zutaten zu einem echten Talisman zu verschmelzen.

Ehrfürchtig weitete ich die Augen. Natürlich hatte Angelina mich in die Geheimnisse der Blutgaben eingeweiht. Somit wusste ich, dass es Erschaffer gab, hatte aber bisher keinen in Aktion gesehen. Viel mehr verwunderte mich, dass Jax sie beherrschte, denn diese Gabe besaß die Blutlinie der echten und gebürtigen Ingrams.

Hatte er uns allen etwas vorgespielt und gehörte in Wirklichkeit den vier Gründerfamilien an? Unmöglich, er war eine Straßenhexe – und eine stolze dazu. Darüber hinaus hasste er das System der adligen Blutlinie und wurde nicht müde, es lautstark zu betonen. Wieso beherrschte er die Gabe des Erschaffens, und dazu so mühelos?

»Ich habe es heute erst erfahren«, murmelte er, ohne mich anzusehen. Langsam wurde es unheimlich, wie gut er erriet, was ich dachte. »Glaub mir, ich bin nicht heiß drauf, ein gebürtiger Ingram zu sein. Können wir das ein anderes Mal klären? Falls es dir entgangen ist, dein bester Freund stirbt hier gerade, Ruby wird von Monsterranken erdrückt und offensichtlich waren alle bescheuerten Legenden über die Gefahren der Wälder wahr.«

»Stimmt.« Ich räusperte mich. Es war gar nicht meine Art, den Fokus derart oft zu verlieren. Drei Jahre hatte ich an der St.Andrew ein Ziel vor Augen gehabt: der Beste zu sein, für alles in der Hexenwelt gewappnet zu sein, und nun verlor ich bei der ersten echten Gefahr meine Nerven.

Mein Blick wanderte von Jax zu dem Talisman. Er summte leise, und ich hatte das Gefühl, dass er nach mir rief.

»Was ist das?«, fragte ich, während sich meine Hand behutsam dem Amulett näherte, ohne dass ich sie zu stoppen vermochte.

»Es wird seine Schmerzen lindern und ihn schlafen lassen, bis wir ihn zu meiner Ma in den Laden geschafft haben. Sie wird einen Trank brauen, der ihm hilft. Jedenfalls hoffe ich das.«

Grelles Licht flammte hinter meinen Augen auf, als meine Hand den Talisman berührte. Die Melodie, die er summte, schallte so laut durch meinen Kopf, dass ich Jax nur dumpf hörte.

»Was zur Urmutter machst du da?«

Ich sah unzählige Bilder von Angelina vor meinem geistigen Auge. Wie in einer Diashow, die im Sekundentakt wechselte. Angelina erweckte Konstrukte mit unserer Gabe zum Leben. Steinerne Wesen, Artefakte und Maschinen.

Unbewusst summte ich die Melodie, die meine Mutter zum Erwecken nutzte, und meine Hände erstrahlten in gelbem Sonnenlicht.

Etwas weiter entfernt hörte ich die Ranken kreischen. Mein Blick flog zu ihnen. Sie schlangen sich weiterhin um Ruby, aber zwei neue Viecher schreckten vor dem Licht aus meinen Händen zurück. Teagan schlug eines der Biester in mehrere Teile, während Eliss von einem anderen gegen einen Baum geschleudert wurde.

Das Licht aus meinen Händen schwebte einen weiteren Moment über dem Talisman, dann senkte es sich und verschmolz mit ihm. Zu meinem Erstaunen erwachte das Konstrukt zum Leben. Acht dünne Beinchen, geformt aus den Ästen, die Jax benutzt hatte, erschienen an den Seiten des Amuletts. Wie eine Spinne krabbelte es auf Olis Brust und nahm darauf Platz. Zischend verschmolz es mit ihm, und eine helle Schutzhülle legte sich um meinen Freund.

»Zur Urmutter, was war das?« Jax’ Stimme klang atemlos und rau.

»Die Gabe des Erweckens, glaube ich. Habe sie nie zuvor benutzt. Wusste ja nicht einmal, wie es geht – bis ich die Bilder von Angelina vor meinem geistigen Auge tanzen sah.«

»Das Ganze ist völlig surreal. Dieser Tag ist ein Albtraum«, grummelte Jax. Seine Nasenflügel bebten, während er seine Zähne so fest zusammenbiss, dass seine Kiefer sich anspannten.

Er hatte recht, das alles war völlig abgefahren. Ein einziger Tag stellte unsere alte Realität auf den Kopf. Unmögliche Dinge geschahen im Minutentakt – und das bedeutete einiges, wenn man bedachte, dass wir Hexen waren.

»Unser altes Leben ist vorbei, oder?«, flüsterte ich.