6

JAX

SECHZIG TAGE BIS ZUM BLUTMOND

U nser altes Leben ist vorbei, oder?«

In diesem Moment sah Harlow dermaßen verletzlich aus, wie ich ihn nie zuvor gesehen hatte. In St. Andrew galt er als Leuchtfeuer der Zukunft, immer selbstbewusst, stets handelnd, und niemals lag auch nur ein eine Spur von Zweifel auf seinen Gesichtszügen. Der Vorzeigeschüler Australiens, wenn nicht sogar der ganzen Hexenwelt. Der Popstar unter uns Hexen – und dennoch wirkte er in diesem Moment verloren und einsam.

»Scheint so«, erwiderte ich, verwirrt von dem Gefühl des Mitgefühls. Ich sah zum Talisman. Das Schmuckstück, das Harlow zum Leben erweckt hatte und das wie eine Wächterspinne auf Olivers Brust saß und ihn mit einem Schutzschild umhüllte.

»Jetzt verstehe ich, wieso Angelina immer darauf besteht, dass wir uns von Bäumen fernhalten.« Harlow gab ein freudloses Schnauben von sich, während seine Blicke voller Schreck auf dem Kampf der beiden Dämoninnen mit diesen Horrorranken lagen.

In Filmen und Büchern sprinteten die jungen, unerfahrenen Charaktere immer in den Kampf und vollbrachten Großes. Die Wirklichkeit sah anders aus. Harlow und ich hatten nicht die Fähigkeiten, in einem solchen Gefecht hilfreich zu sein, und hockten wie verschreckte Hasen hinter einem Busch.

»Wieso nennst du deine Mutter immer beim Vornamen?« Warum ich genau das anstatt etwas Relevantes fragte, verwirrte mich selbst.

»Tue ich erst, seit sie Präsidentin ist«, antwortete Harlow und seufzte. »Als sie nur Senatorin war, nannte ich sie Mom.« Er versuchte zu lächeln, doch es gelang ihm nicht. »Ich liebe sie, falls du dich das fragst. Aber wir haben uns durch ihren Job immer weiter voneinander entfernt.«

Ein spitzer Schrei lenkte unsere Aufmerksamkeit zurück auf dem Kampf. Eliss taumelte und hielt sich kaum auf den Beinen, während Teagan mit den Dornenauswüchsen ihrer Flügel auf das Holz einhämmerte. Für jede Ranke, die sie zurückschlugen, erschien eine neue. In diesem Moment donnerte eine weitere gegen Teagans Brust, und sie flog im hohen Bogen ein paar Meter zurück. Direkt darauf breitete sie ihre Flügel aus und stoppte in der Luft. Wut tanzte über ihre dämonischen Gesichtszüge, die im Kontrast zu ihrer ansonsten blendenden Schönheit standen.

»Verdammte Scheiße, ich sagte: lauft!«, brüllte sie uns zu und ihre Augen pulsierten vor Schwärze. »Wir können im Moment nichts mehr ausrichten. Wenn wir weiterkämpfen, werden die Ranken Ruby erwürgen.«

Bevor Teagans Worte in meinem Hirn ankamen, zogen sich die beiden Dämoninnen zurück. Für einen Moment, der sich ewig anfühlte, geschah nichts. Dann flüchteten die Ranken in den Durchgang und nahmen Ruby mit sich. Mit einem lauten Zischen schloss sich das Portal und die Runen am Boden erloschen.

»Nein!«, hörte ich jemanden verzweifelt schreien, realisierte dann, dass es Harlow und ich es gemeinsam gebrüllt hatten. Alles um mich herum drehte sich, und die Dunkelheit kroch auf mich zu. Streckte ihre eisigen Finger nach mir, nur um mein Herz zu umschließen und erzittern zu lassen. Wir hatten Ruby verloren.

»Wir müssen los«, beharrte Teagan. »Jetzt! In wenigen Minuten wimmelt es hier nur so vor Ordenshexen, die alles absperren und es zum Tatort erklären werden.«

»Und wenn ihr Ruby retten wollt, dürfen wir nicht hier aufgefunden werden«, fügte Eliss hinzu. Sie legte ihre Hände an meine Wangen. »Vertrau mir, Stinker, und komm mit. Es ist ihre einzige Chance!«

Welche Wahl hatte ich schon? Ich verstand rein gar nichts, also folgte ich ihnen schweigend und mit Tränen in den Augen.

* * *

Zwanzig Minuten später, die ebenfalls hätten eine Stunde sein können, standen wir vor unserem Laden. Ich erinnerte mich nicht einmal mehr an den Rückweg. Meine Hände zitterten. Was zur Urmutter hatte ich da im Buschland von Shelly Beach bezeugt? Waren das lebendige Bäume gewesen? Kreaturen, die sich im Schatten der Blätter versteckten? Und wohin hatte das Portal geführt?

Mein Kopf brummte und verweigerte mir Antworten. Eliss, Teagan und Harlow waren mir keine große Hilfe gewesen beim Sortieren meiner Gedanken. Die beiden Dämoninnen hatten darauf beharrt, dass wir es an einem anderen Ort klären würden.

»Hey, es tut mir leid, Stinker.« Eliss stupste mich behutsam mit ihrer Schulter an. Ich löste meinen Blick von dem kleinen Laden meiner Mutter. Im oberen Geschoss brannte Licht. Vermutlich war Ma mal wieder vor dem Fernseher eingeschlafen, weil sie auf mich wartete.

»Wir müssen hinter den Viechern her und Ruby befreien!« Flehend sah ich Eliss an.

»Das werden wir … Jedenfalls Teagan und ich.«

»Auf keinen Fall, nicht ohne mich«, widersprach ich ihr.

»Ich komme auch mit.« Harlow stand plötzlich an meiner Seite und verschränkte die Arme vor der Brust.

»Das diskutieren wir im Laden«, befahl Teagan. »Nicht hier draußen.« Sie sah vielsagend zum bewusstlosen Oliver, der weiterhin in den Schutzschild aus Licht eingehüllt war. Er schwebte knapp einen Meter über dem Boden und wurde, dank eines Cantos von Harlow, vor den Augen der Menschen verborgen.

Knapp nickte ich meine Zustimmung, kramte nach dem Schlüsselbund in meiner Tasche und schritt zur Ladentür. Zwar brauchten wir einen Ort, um in Ruhe zu reden, dennoch gab es keinen Grund, meine Mutter zu wecken. Deswegen beschloss ich, dass wir uns an einen der Tische im Laden setzen konnten, an dem wir allerhand Tees servierten und sogar Tastings veranstalteten.

Ich legte meine Hand auf den goldenen Knauf der verzierten Eingangstür aus Holz mit ihren Buntglasfenstern und steckte den Schlüssel in das Schloss, da öffnete sich die Tür nach innen.

Meine Mutter stand mit Sorgenfalten auf der Stirn in ihren Morgenmantel gehüllt im Holzrahmen und musterte uns nacheinander. Ihr Blick blieb an Eliss und Teagan hängen, sie seufzte und sah flüchtig gen Himmel. Nur ganz vage vernahm ich eine leise Melodie, doch verebbte sie sofort. Die Bedeutung der stillen Kommunikation, die offensichtlich zwischen ihnen herrschte, erschloss sich mir nicht. Vermutlich ein Canto, der sie telepathisch miteinander reden ließ. Oder kannten Ma Harlows Leibwache ebenfalls besser, als ich gedacht hatte – wie schon bei Eliss? War das ein weiteres Geheimnis vor mir?

Nach einem langen Augenblick nickte meine Mutter, und die beiden Dämoninnen traten wortlos ein, gefolgt von Harlow und Oliver. Zögerlich setzte auch ich mich in Bewegung, weiterhin verwirrt, was ich von all den neuen Erkenntnissen halten sollte. Offensichtlich hatte meine Mutter mehr Geheimnisse vor mir verborgen, als ich vermutet hatte.

Als ich an ihr vorbeiging, legte sie ihre Hand an meine Wange und stoppte mitten im Schritt.

»Es tut mir leid, mein Junge.«

»Was von alldem?« Sofort ärgerte ich mich, wie anklagend mein Ton klang, dennoch vermochte ich es nicht, den Schmerz aus meiner Stimme zu verscheuchen. Bisher hatte ich geglaubt, dass meine Mutter und ich uns alles sagten. Dass wir ein Team seien. Wir zwei gegen den Rest der Hexenwelt – doch das schien nur Wunschdenken gewesen zu sein. Eine Lüge, die ich naiv geschluckt hatte.

»Alles, was bisher passiert ist. Und ebenso, was jetzt erst auf dich zukommt.« Sie zog meinen Kopf dichter an sich und küsste meine Stirn. »Setz dich zu den anderen, ich habe Tee gekocht.«

Ohne zu antworten, ging ich zu dem Tisch im hinteren Teil des vollgestellten Ladens. Überall hingen Kräuterbündel und Pflanzen von der Decke. Alte Holzregale, voll mit Tränken, Tees und Salben. Die Luft roch frisch, würzig und blumig wie immer. Ein Geruch, der ansonsten die Gemütlichkeit des Ladens unterstrich, in diesem Moment aber das eisige Gefühl des Verlusts von Ruby nicht vertrieb.

Die anderen drei saßen schweigend da, während Oliver auf einer Holzbank lag, die kleine Amulettspinne weiterhin auf seiner Brust. Ich setzte mich neben Harlow. Träge hob er seinen Kopf, den er in den Händen vergraben hatte, und mühte sich ein unehrliches Lächeln auf die Lippen, das seine geröteten Augen nicht erstrahlen ließ – nicht einmal vor Kälte, wie so oft. Dieses gequälte Lächeln wirkte leer und hoffnungslos. Ein Gefühl, das ich seit dem Angriff ebenso empfand.

Nach fünf Minuten des Schweigens, nur von dem Pendel der altmodischen Uhr unterbrochen, trat meine Mutter zu uns an den Tisch. Routiniert stellte sie Untersetzer, Tassen und eine Kanne Tee vor uns ab.

»Das Gemisch beruhigt eure Nerven und klärt den Verstand.«

»Ist Magie beigemischt?«, fragte Teagan mit erhobener Braue.

»Nein.« Meine Mutter schüttelte den Kopf. »Nur Kräuter, Blüten und Gewürze, aber ich habe etwas Oblivio-Pulver mitgebracht.«

Ich sah mit geweiteten Augen zu ihr. Vergessenspulver?

»Ihr wollt uns den Vorfall vergessen lassen? Auf gar keinen Fall!« Ich stand abrupt auf, mein Stuhl kippte laut polternd zu Boden. Es klang wie ein Donnerschlag in der angespannten Stille des Ladens.

Harlow hob alarmiert den Kopf. Seine Augen verengten sich und sein Blick eilte zwischen Teagan, meiner Mutter und mir hin und her. Dann stand er ebenso energisch auf, bevor er einen Schritt von dem Tisch zurücktrat.

»Wir sind uns heute erstaunlich oft einig«, sagte er. Die Muskulatur in seinem Nacken spannte sich an, und er drehte sich zu seiner Leibwächterin, die ihn aufmerksam im Auge behielt. »Vergiss es, Teagan. Ihr nehmt uns nicht die Erinnerungen!«

»Hat keiner vor.« Ihr Ton war ein Mix aus Anspannung und Genervtsein, mit einem Hauch Verständnis.

»Beruhig dich, Süßer.« Meine Mutter fasste mich am Arm und ich widerstand dem Drang, sie abzuschütteln. »Erinnere dich, was du über meine Produkte weißt. Damit ihr alles vergesst, bräuchtet ihr eine deutlich größere Menge an Oblivio-Pulver. Außerdem müsstet ihr es mehrere Tage einnehmen.«

»Aber was willst du dann damit?« Ich blieb weiterhin in meiner Abwehrhaltung.

Ein Schatten der Enttäuschung huschte über das Gesicht meiner Mutter. Für einen Moment zog sich mein Magen zusammen bei der Vorstellung, ihr Kummer zu bereiten, doch ich erinnerte mich daran, dass sie es war, die alles vor mir geheim gehalten hatte. Und ich war nicht bereit, wieder blauäugig Lügen zu glauben.

»Eure Erinnerungen und Emotionen dämpfen.« Meine Mutter gab mir mit einem Blick zu verstehen, dass ich nicht widersprechen sollte. »Jetzt seid ihr überfordert, verwirrt und verängstigt, aber spätestens in einer Stunde werdet ihr trotzig und diskutiert wild mit uns, dass wir sofort Ruby retten müssen. Vermutlich werdet ihr sogar leichtsinnige Entscheidungen fällen, die nicht nur euch, sondern die ganze Hexengemeinschaft gefährden.«

»Weil wir sie retten müssen! Was gibt es da zu diskutieren?«, entfuhr es Harlow wütend, und er schlug die Hände auf den Tisch. Das Geräusch des Aufpralls und des klirrenden Geschirrs dröhnte durch den Laden.

Ich zeigte auf ihn und hoffte, durch meinen Blick »Ganz seiner Meinung!« zu vermitteln. Meine Mutter hingegen hob eine Augenbraue so hoch, dass sie aus ihrem Gesicht zu springen drohte, und gab mir damit glasklar zu verstehen: »Genau das meinte ich mit trotzig.«

Resigniert und unheimlich genervt stöhnte ich auf, strich mir zur Ablenkung mit der Hand eine Strähne aus dem Gesicht. Dann nickte ich ihr zu und pustete die widerwillige Strähne, die erneut vor meine Augen fiel, nach oben. Aber Mutter hatte recht, denn tief im Inneren wusste ich, dass sie nur mein Bestes im Sinn hatte und ein klarer Kopf wichtig war.

Wäre ich der Typ, der To-do-Listen schrieb, hätte meine heutige folgende Punkte enthalten:

Und dennoch stand ich hier, meine Kiefer schmerzhaft aufeinandergepresst, und wartete darauf, dass meine Mutter das Oblivio-Pulver bereit machte. Irgendwann am heutigen Tag hatte das Schicksal beschlossen, die völlig falsche Ausfahrt in Richtung Shit-Town zu nehmen, und ich saß gefesselt auf dem Beifahrersitz.

»Harlow, bitte hör mir zu«, riss Teagan mich zurück aus meinem Selbstmitleid. Ihr Ton war sanft, beinah fürsorglich. Im ersten Moment war ich erstaunt, da sie bisher bloß resolut und befehlerisch daherkam. Zugegeben, wir hatten in einer lebensbedrohlichen Situation gesteckt, in der ihr kühler Kopf uns den Hintern gerettet hatte. Doch es ergab ebenso Sinn, dass sie einfühlsam mit ihrem Schützling sprach – vermutlich waren die beiden sogar auf eine gewisse Art befreundet und sie sorgte sich um ihn.

»Komm mir nicht mit: Du bist der Sohn der Präsidentin. Ich muss dich beschützen. Deswegen darfst du deine beste Freundin nicht retten. Du bleibst zu Hause und schaukelst dir die Eier.« Die Sätze unterstrich Harlow mit einer Stimme, die vermutlich seine Leibwächterin imitieren sollte, jedoch keinerlei Ähnlichkeit mit ihr hatte und eher an eine Maus aus einem Comic erinnerte.

Eliss schien es ebenfalls zu bemerken, denn sie biss sich auf die Unterlippe. Eine Marotte, wenn sie sich dazu zwang, weder zu lachen noch einen sarkastischen Spruch von sich zu geben.

»Erstens hatte ich das nicht vor!« Teagan hielt eine Hand hoch, um Harlow zu stoppen. »Zweitens klinge ich nicht wie Micky Maus mit einem Dildo im Hintern. Und drittens rede ich mit dir nicht über meine, wie sagtest du so schön, Eier, herzlichen Dank.«

Das war zu viel für Eliss und sie lachte, trotz der angespannten Situation, laut los. Harlow warf ihr einen finsteren Blick zu, der dafür sorgte, dass ich mein aufkeimendes Lachen in einem vorgetäuschten Husten versteckte. Sein Blick aus verengten Augen wanderte zu mir und ich hob entschuldigend die Hände vor die Brust.

»Ich komme mit, da hilft kein doofes Pulver. Das meine ich ernst«, sagte er an Teagan gewandt.

»Ist mir bewusst.« Sie seufzte. »Ich kenn dich fast zwanzig Jahre und weiß, wie stur du bist. Trotzdem wirst du das Pulver benutzen, ansonsten kommst du nicht mit. Wenn du es nicht nimmst, dann fessele ich dich eigenhändig und übergebe dich Madam President.«

»Erpresst du mich?« Harlow stemmte die Hände in die Hüften und seine Wangen färbten sich rot. Was seine leichten Sommersprossen intensiver wirken ließ.

»Gut erkannt, Spürnase. Du bist halt doch ein schlaues Kerlchen. Deswegen bist du Jahrgangsbester.«

Der Eisprinz schnappte nach Luft, und zwar deutlich hörbar und theatralisch. Nie zuvor hatte ich jemanden so zu ihm sprechen gehört und verkniff mir ein erneutes Lachen. Am liebsten hätte ich seiner Leibwächterin ein High Five gegeben, hielt mich aus Angst vor ihr jedoch zurück.

Nach einem weiteren Moment der Schnappatmung glättete Harlow sein Hemd, straffte die Schultern und nickte ihr zu. »Fein, dann nehme ich das komische Zeug halt, wenn du mir versprichst, dass ich mitkomme.«

»Möchte der Harlow-Parlow einen Pinkieschwur machen wie damals als Kind?«, flötete Teagan zuckersüß und hielt ihm den kleinen Finger hin.

»Ich hasse dich. Und du bist gefeuert.« Harlow bemühte sich, ernst zu bleiben, aber seine Mundwinkel wanderten verräterisch in die Höhe.

»Kannst du nicht«, antwortete seine Leibwächterin schulterzuckend. »Das kann nur die Präsidentin. Und ehrlich? Das wird sie machen, nachdem sie erfährt, was heute passiert ist.«

»Na ja, das ist so nicht ganz korrekt«, warf Eliss leise ein und kassierte dafür einen ernsten Blick von meiner Mutter.

»Erst das Pulver, dann der Rest«, stellte Ma resolut fest.

»Ja, entschuldige.« Eliss senkte den Kopf.

Meine Mutter trat zu Harlow und mir, ihren Blick liebevoll auf mich gerichtet. Kaum merklich nickte ich ihr zu, bevor sie dem Eisprinzen ein warmes Lächeln schenkte. Auch er stimmte ihr zu – sogar mit etwas in den Augen, was ich ehrliche Freundlichkeit genannt hätte.

Obwohl ich nicht wollte, spürte ich Dankbarkeit in mir aufkeimen, dass Harlow meine Mutter nett behandelte – mit Respekt sogar. Etwas, was ich ihm in seiner elitären Position nicht zugetraut hatte. Was wiederum meinen Vorurteilen geschuldet war. Denn fairerweise musste ich mir eingestehen, dass Harlow stets den höflichen Gentleman mimte, obwohl ich das nur für eine Fassade hielt.

Ohne länger zu zögern, nahm meine Mutter etwas Pulver in die Hand und pustete es uns in die Gesichter. Erst passierte gar nichts. Dann spürte ich die feinen Körnchen in der Nase, in meinem Hals, meiner Lunge und zu guter Letzt im ganzen Körper. Wärme spülte durch meine Adern, verteilte sich durch mein Blut und setzte sich in meinem Hirn fest. Ich spürte, wie sich der Zauber des Pulvers mit den Sorgen um Ruby vermischte, langsam, aber sicher den Schreck der Entführung löste und dann mit einem kurzen Stich alles besser werden ließ.

Jegliche Angst, Sorge und die dunkle Panik verzogen sich zunehmend. Waren kurz darauf nur noch ein Hintergrundrauschen. Fast so wie die Sonne, die von einer Wolkendecke verdeckt wurde.

»Besser?«, fragte Teagan an Harlow gewandt.

Er biss auf seiner Unterlippe herum, die Arme trotzig vor der Brust verschränkt. In diesem Moment erkannte ich mich selbst in ihm wieder. Er wusste, dass seine Leibwache sowie meine Mutter mit dem Pulver recht hatten, und es wurmte ihn, es zuzugeben. Verstohlen grinste ich vor mich hin und genoss sein trotziges Gesicht. Auf seinen Wangen breiteten sich diese hinterhältigen Grübchen aus, von denen ich seit drei Jahren unanständige Träume hegte.

»Okay, ja. Du hast gewonnen. Zufrieden?« Er seufzte. »Ich erinnere mich zwar an alles, aber es wurmt mich nicht mehr – obwohl ich weiß, dass es das müsste. Das ist leicht verstörend«, murmelte er.

Mir erging es wie ihm. Meine Ma hatte das Oblivio-Pulver perfekt dosiert. Schwach genug, dass wir nicht alles vergessen hatten, aber doch stark genug, dass sich die Sorge nicht in den Vordergrund schob.

»Kannst du das noch mal lauter sagen? Ich. Habe. Gewonnen?« Teagan grinste ihren Schützling an, während er es mit einem eisigen Blick konterte.

»So gern ich sehen würde, wie der große Harlow zu Kreuze kriecht, können wir jetzt über den Berg von Geheimnissen reden?«, warf ich ein, denn diese ganze Situation wurde mir langsam zu vertraut und häuslich. Harlow wurde mir sogar sympathisch, und das … war absolut keine Option!

»Ich verstehe sein Problem mit mir nicht«, murmelte Harlow, wedelte mit den Armen in meine Richtung und weitete genervt die Augen. »Ist ja fast so, als hätte ich ihm den Lolli im Kindergarten geklaut.«

Dazu hätte ich am liebsten eine ganze Liste an Gründen aufgeführt, wieso ich ihn nicht leiden konnte, und doch schluckte ich die Worte hinunter. Gab ein Grunzen von mir und ignorierte seinen Kommentar. Während er seine Kindertage vermutlich in Prunk und Überfluss verbracht und Fotoshootings für Magazine absolviert hatte, hatte ich Ma im Laden geholfen und jede Nacht ihr leises Weinen gehört.

Erst Jahre später hatte ich verstanden, dass uns alles genommen worden war – durch Hexen wie Harlow und seine elitäre Familie. Dass Leute wie er schuld daran waren, dass Ma und ich Geächtete in einer Welt voller Magie waren. Weder von den Menschen verstanden noch von unseresgleichen.

Allein.

Ich räusperte mich. Wieso konnte das Oblivio-Pulver nicht diesen Mist dämpfen – oder am besten vollständig aus meinem Gedächtnis löschen?

Mit einem liebevollen Lächeln legte meine Ma ihre Hand auf meinen Arm und gab mir zu verstehen, dass ich nicht Gedanken nachhängen sollte, die ohnehin nicht zu ändern waren. Ich brummte leise und setzte mich an den Tisch. Alle anderen nahmen ebenso Platz.

»Also? Wie war das mit Geheimnissen?«, fragte ich.

Ein Moment der Stille legte sich über den Laden.

»Kurzform?«, fragte Teagan.

Harlow und ich nickten. Erstaunlicherweise waren wir uns mal wieder einig – heute sogar mehr als je zuvor.

»Okay.« Teagan knackte mit ihren Fingerknöcheln. Wie morsche Äste, die zerbrachen, hallte das Geräusch durch den Verkaufsraum. »Es gibt die Lichtwelt. Das Hier und Jetzt. Und es gibt die Schattenseite.«

»Das Gefängnis für Straftäter?«, fragte Harlow, worauf ich abfällig grunzte.

War ja klar, dass der Schnösel genau das dachte – wobei ich auch nur das Gerücht kannte.

»Nein«, antwortete Teagan. »Das ist ein Mythos. Die Schattenseite ist kein klassisches Gefängnis, selbst wenn es das ebenso ist. Aber nicht, wie du denkst.« Sie seufzte und fuhr sich mit einer Hand durch ihr seidiges Haar. »Wie soll ich mich bloß kurz und knapp halten?«, murmelte sie vor sich hin. »Die Schattenseite ist eine parallel verlaufende Realität. Vor Jahren haben die alten Familien dieses Fragment erschaffen – in zwei Zeitlinien, zwei gleichzeitig verlaufenden Realitäten, zerrissen. Auf der Schattenseite existieren ein paar Städte mit Bewohnern, Gebäuden und einem normalen Alltag – wie hier im Sydney der Lichtwelt.«

Ich drückte meinen Rücken durch. Diese Information war für mich neu. Mein Blick wanderte zu Ma, die schuldbewusst den Kopf senkte.

»Und Dämonen«, fügte Eliss hinzu. »Wir«, sie deutete auf Teagan und sich, »kommen von der Schattenseite. Sind dort geboren … Na ja, oder erschaffen worden.« Sie sah Hilfe suchend zu meiner Leibwächterin.

»Von dem Wald von Salem«, flüsterte Teagan.

»Ihr … Was?« Harlow musterte die beiden Frauen. Ich hingegen starrte mit offenem Mund in die Runde.

»Der Wald«, setzte Ma an und seufzte. »Es gibt ihn wirklich. Alle Märchen sind wahr. Er ist das pure Böse, die reine Rachsucht. Der Schmerz von Tausenden unschuldigen Hexen, die verbrannt und getötet wurden. Über Jahrhunderte hat er sich an ihrer Wut genährt und ihre Seelen aufgesaugt. Der Wald hat nur ein Ziel: Rache.«

»An uns? Was haben wir ihm getan?«, fragte ich.

»Nicht direkt an uns Hexen«, antwortete Ma. »Primär an den Menschen. An allen von ihnen. Er unterscheidet nicht zwischen schuldig und unschuldig.«

»Und er will sich an den alten Blutlinien rächen«, fügte Eliss hinzu.

»Wieso?« Harlow sah sie fragend an.

»Das ist kompliziert. Er fühlt sich von euch verraten. Hatte erwartet, dass ihr gemeinsam die Menschheit auslöscht, und stattdessen habt ihre Friedensabkommen mit ihnen geschlossen. Für ihn seid ihr ebenso der Feind, wie es die Menschen sind.«

»Der Wald von Salem ist kein klassisches Wesen«, fügte Teagan hinzu. »Er ist mehr ein kollektives Bewusstsein, eine dunkle Entität. Wie ein bösartiger Geist, der sich als Wald zeigt. Und er sinnt nach Rache.«

»Weswegen wir vor vielen Jahren unsere Realität zerrissen haben«, sagte Ma energisch. »Um ihn aufzuhalten. Also haben wir ihn in die Schattenseite verbannt, und mit ihm einen freiwilligen Teil der Hexengemeinschaft, um ihn davon abzuhalten, in die Lichtwelt zu den Menschen zurückzukehren.«

»Und da kommen wir zu dem großen Problem.« Teagan schloss die Augen und atmete tief durch. Als sie die Lider öffnete, huschte ein trauriger Schatten über ihr Gesicht. »Wenn ihr die Schattenseite betretet, seid ihr für immer dort gefangen. Für Hexen gibt es seit etwa zwanzig Jahren kein Zurück mehr in die Lichtwelt. Nur wir Dämonen haben eine Art Schlupfloch, das weder der Wald noch ihr Hexen nutzen könnt. Und selbst für uns ist es nicht problemlos machbar.«

»Das heißt, Ruby ist dort gefangen?«, fragte Harlow.

»So ist es. Der Wald hat sie entführt«, antwortete Teagan.

»Oder besser gesagt: die Hexenkönigin«, flüsterte Eliss.

Ich sah sie fragend an, aber sie schüttelte nur leicht den Kopf.

»Nicht jetzt. Euch alles zu erklären, würde Tage dauern – die wir nicht haben.« Teagan erhob sich langsam. »Um es wirklich kurz machen: Wenn ihr Ruby retten wollt, müsst ihr mit uns auf die Schattenseite kommen, und das bedeutet, sie wird euer neues Zuhause. Kein Zurück mehr in diese Realität.«

Meine Ma griff nach meiner Hand und drückte sie sanft. »Geh, ich komme hinterher, nachdem hier alles geklärt ist. Das wird einige Wochen dauern, dennoch ist es an der Zeit, dass du die Wahrheit erfährst und dein Erbrecht antrittst.«

»Erbrecht? Ich verstehe nicht«, antwortete ich heiser.

»Das wirst du bald.« Vorsichtig nahm sie meinen Kopf zwischen ihre Hände, zog mich dichter zu sich und küsste meine Stirn. »Geh auf die Schattenseite – es ist die richtige Entscheidung. Ich hätte dir die Wahl schon früher geben sollen. Dir alles zu verschweigen war egoistisch, aber ich habe es aus Liebe und Sorge getan. Doch es ist an der Zeit, dass du deine Macht hineinlässt und die Wahrheit erfährst.« Eine Träne lief ihre Wange hinab.

»Dann ist es abgemacht! Wir gehen!«, sagte Harlow voller Überzeugung.

»Harlow, das ist …«, setzte Teagan an, doch er schüttelte trotzig den Kopf.

»Die einzig richtige Lösung. Ich gehe – und du kannst mich nicht abhalten, Teagan! Einmal im Leben will ich selbst entscheiden, was ich mache!«