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HARLOW

NEUNUNDFÜNFZIG TAGE BIS ZUM BLUTMOND

N ach vier Stunden Schlaf verließen Teagan, Jax, Eliss und ich das Haus der Ingrams in den frühen Morgenstunden. Meine ganzen Fragen waren vorerst vergessen, da wir eine erneute Runde Oblivio-Pulver genommen hatten, um zu schlafen. Spätestens auf der Schattenseite würden sie mich aber wieder beschäftigen, bis dahin lag mein Fokus darauf, überhaupt erst einmal dorthin zu gelangen.

Auch wenn die Sonne sich noch nicht am Horizont zeigte, war es bereits warm mit einer Temperatur von 29 Grad. Im Sommer sank die Temperatur in Sydney selbst nachts kaum. So schlenderten wir die Fußgängerzone von Manly entlang, während sich Schweiß an meinem Nacken bildete, langsam den Rücken hinablief und sich an meinem Steißbein sammelte. Sofort vermisste ich meine Sportshorts und das Tanktop, die ich für gewöhnlich beim Morgenlauf anzog. Leider lagen diese im Penthouse, in dem Angelina mich, nachdem ich abgehauen war, für immer einsperren würde, sollte ich dort aufkreuzen.

Ein leichter Wind wehte vom offenen Meer zwischen den Geschäften zu Jax, Teagan, Eliss und mir herüber, und ich begrüßte ihn dankbar. Er trug den leichten Geruch von Kiefern, salziger Meeresluft sowie frisch gebackener Pasteten mit sich. Die ersten Papageien erwachten und stimmten ihr lautes Schnatterkonzert an, mit dem sie die Grillen der Nacht vertrieben, als wir den Fähranleger Manly Beach erreichten.

Ein Schwall Menschen wartete auf die Fähre, vielleicht auf dem Weg zu ihrer Frühschicht. In einer Stunde standen sie schon mit so vielen Leuten hier, dass sie Glück bräuchten, um auf die gelb-grüne Fähre zu passen und nicht auf die nächste warten zu müssen. Die Stoßzeiten im öffentlichen Verkehr Sydneys waren furchtbar. Oft wartete man über eine Stunde in einer langen Schlange auf einen Bus, eine U-Bahn oder eine Fähre.

Ein Glück blieb uns dies heute erspart, da Teagan darauf bestanden hatte, dass vier Uhr morgens eine »vollkommen normale Zeit zum Aufbrechen ist, Harlow«. Wieso ich nicht früher realisiert hatte, dass diese Frau eine Dämonin war, erschien mir nun schleierhaft.

Kurze Zeit später fuhr unsere Fähre ein, wir stiegen schweigend auf und setzten uns oben an die frische Luft anstatt in den stickigen Innenraum. Eine paar Minuten vergingen, und schon legten wir in Richtung unseres Ziels ab: den Hauptanleger Circular Quay im Central Business District von Sydney. Von Manly aus schipperte die sogenannte Fast Ferry zwischen den beiden Stationen, benötigte aber dennoch dreißig Minuten.

Zum ersten Mal an diesem Morgen freute ich mich über meine etwas wärmere Kleidung. Der frische Meereswind kühlte meinen Körper ab, und eine Gänsehaut breitete sich darauf aus. Mein Blick wanderte über die Lichter der Hochhäuser, die sich wie kleine Glühwürmchen von dem Nachthimmel absetzten, und landete auf Jax.

Er trug eine verboten kurze Shorts aus dünnem blauem Leinenstoff, die seine trainierten Beine mit den braunen Härchen betonte. Dazu ein Tanktop, das er ebenso hätte weglassen können, da es mehr zeigte als verbarg. Fasziniert musterte ich das Schlangentattoo an seinem rechten Arm, danach das Rosentattoo am linken. Beide waren mir während seiner Zeit an der St.Andrew unter der Schuluniform verborgen geblieben.

»Ist dir nicht kalt?«, fragte ich. Vor meinem ersten Kaffee empfand ich lautes Reden als unangebracht und unmoralisch. Bevor ich das flüssige schwarze Gold intus hatte, glich eigentlich jegliche Kommunikation mit mir einem Minenfeld, weswegen Teagan aus Erfahrung eisern schwieg. Eliss schien es zu ergehen wie mir, wenn ich ihr mürrisches Gesicht und ihre Augenringe so betrachtete. Dafür erntete sie Sympathiepunkte bei mir.

»Quatsch, ich friere nicht so schnell«, antwortete Jax und schenkte mir sogar ein Lächeln.

Er ist ein Morgenmensch , dachte ich. Definitiv suspekt.

Als ich nicht zurücklächelte, verzog er das Gesicht, bevor er den Kopf von mir Richtung Meer abwandte.

»Muss an den ganzen Muskeln liegen. Deine Nippel sind ja nicht einmal hart«, antwortete ich unüberlegt und verschluckte mich direkt, als die Worte mein müdes Hirn erreichten. Verdammt! Genau wegen solch einer geistigen Inkontinenz sprach ich ansonsten nicht vor der ersten Infusion Koffein.

»Meine was?« Er drehte sich zu mir, wobei er erfolglos versuchte, das Lächeln zu bekämpfen, das seine Mundwinkel umspielte.

»Lippen«, murmelte ich.

»Wirklich? Das klingt nicht mal wie Nip-pel, und wieso sollten meine Lip-pen hart sein?«

Oh, er genießt das Ganze viel zu sehr.

»Brauche Kaffee! Kommunikation«, ich schüttelte theatralisch den Kopf, »nein!«

Als Antwort bekam ich ein amüsiertes Lachen, ehe Jax wieder aufs Meer sah. Vor mir stöhnte Teagan laut auf und raunte etwas, was verdächtig nach »Die Urmutter steh uns bei« klang, während mir Eliss zu meiner großen Verwunderung ein High Five gab und ein knappes »Kaffee, gut« murmelte.

* * *

Am Fähranleger Circular Quay angekommen und mit einem Kaffee in der Hand, den Teagan mir direkt besorgt hatte, um mein Gebrummel nicht weiter ertragen zu müssen, schlürfte ich das göttliche Getränk. Unmittelbar darauf spürte ich, wie sich meine Laune hob. Eliss stand neben mir und grunzte zufrieden. Auch sie hielt ihren Kaffee fest umklammert, als hätte sie soeben den Heiligen Gral gefunden. Selbst Teagan nippte am schwarzen Gold. Nur Jax Mein Körper ist ein Tempel Ingram trank natürlich Wasser und musterte uns mit einem Augenrollen. Für einen Moment dachte ich darüber nach, dass ich mich gern vor diesem Tempel hinknien und Stoßgebete von mir geben würde. Schob den Gedanken dann auf den weiterhin zu niedrigen Koffeinpegel in meinem Blut und meine damit einhergehende Unzurechnungsfähigkeit.

Obwohl, ich hatte schon dümmere Sachen auf Kaffeeentzug getan. Wie das eine Mal im Kurs Alte Belcantos und ihre Nutzung , als ich tagelang zum Gespräch von ganz St. Andrew mutiert war.

»Können wir endlich los?«, fragte der Ketzer mit seinem Quellwasser in der Hand und störte die selige Zweisamkeit zwischen meinem Kaffee und mir.

»Ist nicht weit. Mir nach!«, antwortete Teagan und verbündete sich mit dem Feind.

Wir trotteten den Circular Quay in Richtung des ersten Stadtteils Sydneys, The Rocks, entlang. Dieser schloss unmittelbar nach dem kleinen First Fleet Park vor dem Museum of Contemporary Art an den Hauptanleger des Naturhafens an. Während die Mehrzahl der Gebäude links von uns im Central Business District aus Wolkenkratzern bestand, sah ich vor uns die alten Häuser von The Rocks.

In anderen Städten nannte sich so was vermutlich historische Altstadt, denn hier befand sich auch das erste Gebäude, das in Sydney erbaut worden war. Im Laufe der Jahrhunderte hatten Bars, Manufakturen, Museen, Restaurants und der Tourismus den kleinen Stadtteil in Beschlag genommen. Dennoch versprühte er weiterhin den Flair der Gründerzeit. Verschiedene Architekturstile und Bauepochen prallten aufeinander und bildeten ein gemütliches Viertel. Von frühen Sandsteingebäuden der Kolonialzeit über die riesigen Lagerhäuser aus Backstein und den frühviktorianischen Reihenhäusern bis hin zu den großen Villen, die man am Millers Point fand.

Nachdem wir den First Fleet Park hinter uns gelassen hatten, überquerten wir die breite Hauptstraße, die zu der berühmten Harbour Bridge führte, die Südsydney mit dem Nordteil verband. Der Verkehr nahm langsam zu, und die Stille, die ich in Manly genossen hatte, wurde durch den Lärm der erwachenden Großstadt verdrängt. Auf der gegenüberliegenden Seite der Hauptstraße passierten wir eines der ältesten Gebäude Sydneys – von der Hexenwelt nur Spiegelhaus genannte.

Erbaut von den vier Gründerfamilien, um so Kontakt zu den anderen Hexenblutlinien in aller Welt zu halten. Im Inneren stand eine Vielzahl großer antiker Spiegel, allesamt in Gold gerahmt und von Magie durchtränkt. Sie dienten zur Reise in andere Hexenhauptstädte. Was definitiv Zeit sparte, wenn man bedachte, dass ein Flug von Down Under nach Europa locker vierundzwanzig Stunden dauerte. Ganz zu schweigen von Wochen oder sogar Monaten der Schiffsreise zur Zeit der Gründung Sydneys. Kein Wunder, dass die Familien damals eine alternative Methode zum Reisen erschaffen hatten.

»Wir sind gleich da«, sagte Teagan und bog in eine kleine, verwinkelte Gasse ein. Wir anderen trotteten ihr schweigend hinterher.

Mein Kaffee beflügelte langsam meinen Körper, was proportional meine Laune hob. Nach einer kurzen Kurve steuerten wir auf eine Sackgasse zu. Container, Mülltonnen und ein paar große Kübelpflanzen kämpften hier um den spärlichen Platz. Ein Neonschild hing völlig deplatziert an der Hauswand, und der Schein mischte sich mit den Lichtern der Hochhäuser und ihren Werbereklamen.

Wir hielten vor einer Eisentür, an der Rost langsam hinaufwanderte. Teagan setzte zum Klopfen an, doch die Tür öffnete sich unmittelbar sanach. Ein Paar graue Augen blinzelte gefährlich hervor. Der Blick des Kerls huschte über uns, blieb einen langen Moment auf mir hängen und schnellte dann zu Teagan.

»Du wagst es, einen McQueen hierherzubringen?«, knurrte er. Seine Augen funkelten gefährlich in dem schummrigen Licht der Neonreklame, während er mich hasserfüllt anstarrte.

»Beruhig dich, Declan« antwortete Teagan und baute sich vor mir auf, während ich nicht einmal im Ansatz verstand, was hier passierte.

Wieso hasste dieser Kerl die McQueens? Woher kannte Teagan ihn? War er auch ein Dämon?

Ich beugte mich ein wenig an meiner Leibwächterin vorbei und zog vorsichtig Luft durch meine Nase ein, um etwas Dämonisches zu erschnuppern.

Sehr großer Fehler.

»Hast du … Hat er?« Declan blinzelte mehrfach. Sein Blick eilte zwischen Teagan und mir hin und her, blieb dann aber an meiner Leibwächterin hängen. »Hat dein Schützling gerade ernsthaft an mir geschnüffelt?«

Seine scharfen Gesichtszüge entspannten sich etwas. Um die grauen Augen herum bildeten sich kleine Lachfältchen, und die vollen Lippen wanderten kaum merklich in die Höhe, während er seine Stirn kräuselte.

»Nein!«, presste ich hervor.

»Hat er«, sagte Teagan und fiel mir damit in den Rücken.

»Wieso riechst du an Leuten? Ist das irgendein Ding von euch Hexen?« Er fuhr sich mit einer Hand über die kurzen weißblonden Haare, unter denen ich einige geometrische Tätowierungen erkannte, die sich an seinen Armen wiederholten.

»Was? Nein?!« Meine Wangen glühten, während ich bloß im Boden versinken wollte. Neben mir grunzte Jax abfällig. »Ich wollte nur wissen, ob du ein Dämon bist«, fügte ich kleinlaut hinzu.

Declan wandte sich an Teagan und zog eine Braue in die Höhe. »Möchtest du mir erklären, wieso ein McQueen so dümmlich daherkommt?«

»Hey!«, presste ich hervor, verstummte dann aber direkt. Er hatte ja recht.

»Er hat gestern erst erfahren, dass es nicht nur Hexen gibt«, sagte Teagan.

»Ist das so?« Interessiert musterte mich Declan. »Du bist nicht mit all den Belehrungen aufgewachsen, dass Hexen mehr wert sind als Dämonen, oder in meinem Fall Gargoyles?«

»Nur in dem Glauben, dass er mehr wert ist als Straßenhexen …«, sagte Jax.

»Gargoyle?«, fragte ich und ignorierte Jax’ Seitenhieb.

»Wesen aus Stein?« Declan blickte mir ungläubig entgegen. »Oft mit Flügeln? Stehen in vielen alten Städten in Form von Statuen herum? Sag mal, bist du als Kind zu oft von der Schaukel gefallen?«

Das entlockte Jax ein tiefes Lachen und mir ein genervtes Stöhnen.

»Können wir zum eigentlichen Thema zurückkommen?«, mischte sich Teagan ein. »Harlow ist der Sohn der Präsidentin, wie du vielleicht weißt. Sie ist nicht wie die McQueen in deiner Welt.«

»Du hast recht. War ein Reflex, als ich sein Blut roch.« Declan sah flüchtig zu mir und murmelte: »Sorry.«

Teagan winkte ab, dann drehte sie sich zu Jax und mir. »Ich weiß, ihr habt Fragen, und das ist verständlich, aber jetzt ist nicht die Zeit dafür und schon gar nicht der Ort.«

»Damit hat unser liebreizender Sukkubus recht. In der Lichtwelt sollte darüber definitiv nicht geredet werden.«

Genervt stöhnte ich, nickte aber. Welche Wahl blieb mir auch? Wir hatten andere Sorgen als mein verkapptes Leben voller Lügen.

»Kommt rein!« Declan öffnete die Ladentür und verschwand ins Innere des Gebäudes. Schweigend folgten wir. Ich hatte eine schummrige Bar oder einen Club voller Rocker erwartet, wurde aber eines Besseren belehrt. Vor mir bauten sich Regale mit Kaffee auf. Bohnen und Sorten aus aller Welt, sortiert nach Herkunft, Röstung und Sonderangeboten. Weiter hinten im Laden befand sich eine Theke, große Kaffeevollautomaten sowie drei Tische mit Stühlen. Wieso hatte ich das Geschenk, diesen göttlichen Ort des Glücks nicht früher gefunden? Ein Schlaraffenland des Kaffees, direkt vor meinen Augen.

»Nicht das, was ich erwartet hatte«, murmelte Jax neben mir.

»Was denn?«, gab Declan schnippisch zurück. »Kaffee ist ein gutes Fake Business. Gerade in einer so schnelllebigen Stadt wie Sydney. Und wir bieten die besten Kaffeesorten im Großraum an.«

Ich fand keine Worte, sondern staunte bloß. Unauffällig fuhr ihr mir über das Kinn, in der Befürchtung, ich würde sabbern.

»Wollt ihr einen Kaffee?« Der Gargoyle hatte das letzte Wort kaum ausgesprochen, da brüllten Eliss und ich im Duett unsere lautstarke Zustimmung. »Sehe schon, zwei Koffeinjunkies, was?«

Bevor ich antworten konnte, öffnete sich die Tür auf der gegenüberliegenden Seite des Ladens und ein Glockenspiel verkündete Kundschaft.

Zu meiner Verwunderung veränderte sich Declans graue, steinartige Haut zu der eines weißen Menschen, ebenso wurden seine scharfkantigen Gesichtszüge deutlich weicher. Ein geschäftsmäßiges Lächeln lag auf seinen Lippen, ehe er sich schließlich zu den drei Jungs herumdrehte, die den Laden betreten hatten.

»Wir haben geschlossen. Die Tür hätte abgesperrt sein sollen«, rief er freundlich, aber bestimmt, bevor er sich zur Kundschaft bewegte. Auf halber Strecke stoppte er abrupt. Ich erkannte, wie sich seine Muskeln anspannten und er seine rechte Hand zur Faust ballte.

Einer der Kunden lachte tief und donnernd. Es klang nicht menschlich, nicht einmal körperlich. Mehr als würde eine alte Blechdose an eine Wand in einem leeren Raum getreten und das Aufprallgeräusch hallte umher.

Moment. Einen der Kunden kannte ich.

»Calvin?«, fragte ich erstaunt.

Der blonde Junge, mit dem ich im ersten Jahr ein paar Kurse an der St. Andrew belegt hatte, zeigte mir ein Grinsen. Keines der freundlichen Art. Calvin wirkte eher wie ein Raubtier, das bereit war, sich auf seine Beute zu stürzen. Seine Augen flackerten bläulich auf und verfinsterten sich danach. Reflexartig stolperte ich einen Schritt zurück.

»Der feine Sohn der Präsidentin«, antwortete Calvin abfällig. An jedem Wort klebte Hohn und Abscheu. »Leuchtfeuer einer verdorbenen Gesellschaft.«

»Seid ihr lebensmüde oder nur dämlich?«, knurrte Declan. Seine Hand fuhr an seinen Gürtel. Dort griff er etwas Metallenes, löste es und schnitt damit einmal durch die Luft. Magie zischte und brutzelte um ihn herum, während sich das Metallstück zu einer etwa zwei Meter langen Sense formte.

Die Haut der drei Jungs dehnte sich so sehr, dass sie zu zerreißen drohte, Knochen brachen und Licht pulsierte über ihre Körper. Innerhalb eines Wimpernschlags wuchsen sie auf zwei Meter heran, und verkohlte, mit Asche bedeckte Haut ersetzte ihre menschliche.

»Zurück!«, brüllte Teagan. »Lauf in den Flur da vorn und sing den Schutzzauber! Los!« In ihren Augen war der Ernst der Lage abzulesen, und das zweite Mal in unter vierundzwanzig Stunden wurde ich auf die Ersatzbank geschoben, während sie kämpfte. Dass ich allen Ernstes am Morgen der Zeugnisvergabe gedacht hatte, dass ich bereit für das Leben sei, mutete jetzt wie ein schlechter Scherz an.

Ohne weiter zu überlegen, drehte ich mich um und steuerte den Flur an. Doch auf dem Weg bemerkte ich, dass Jax mir nicht folgte. Schnell fuhr ich herum, packte ihn am Arm und zerrte ihn mit mir. Seine schwache Gegenwehr änderte nichts daran, dass ich Teagans Befehl umsetzen würde. Weder Jax noch ich waren bereit, irgendeinen Kampf zu bestreiten. Vor allem nicht in einer Welt, die sich völlig anders offenbarte, als uns seit der Kindheit vorgelogen worden war.

Nach ein paar Schritten erreichten wir den Durchgang, und ich löste meine Hand von Jax. Eilig drehte ich mich um und sah, wie Declan, Teagan und Eliss ihre wahre Form angenommen hatten. Ebenso hatten die Monster um Calvin ihren menschlichen Körper abgelegt und große Flügel prangten an ihren verkohlten Rücken. Der Raum roch nach verbranntem Fleisch und Asche. Dazu mischte sich der mir bekannte dämonische Geruch von verfaulten Äpfeln, morschem Holz und Tierkadavern.

Flammende Schwerter durchschnitten die Luft, Schreie hallten durch den Raum und Magie flammte auf. Declan schlug mit seiner Sense nach einem der Angreifer, doch der wich aus, während er dem Gargoyle einen Schlag mit seinen schwarzen Flügeln verpasste und ihn gegen ein Regal schleuderte. Die Dämoninnen kämpften mit einer der anderen Kreaturen. Beide umrundeten das Wesen blitzschnell, verteilten Schläge und Eliss formte Energiewellen mit ihren Klageschreien. Das Monster wehrte einen Großteil ab, lächelte dabei sogar gefährlich. Kleinere Wunden verschlossen sich, unmittelbar nachdem Teagan oder Eliss sie ihm zugefügt hatten.

Die dritte Kreatur stand reglos da. Sein Blick fand meinen. Ein bösartiges Funkeln in den Augen, die mal Calvin gehört hatten, und ein selbstgefälliges Grinsen erschien auf seinen Lippen. Beides sagte mir ein grausames Ende meines Daseins voraus. Langsam bewegte er sich auf mich zu, und ich löste meinen Körper aus der Starre. Falls er uns erreichte, wären Jax und ich Hackfleisch.

Fast schon automatisch stimmte ich eine Melodie an, die mir seit dem Kindesalter eingebläut worden war: Custos unitatis , der Schutz des Bundes. Er stellte einen Canto dar, auf dessen Erlernen Angelina für mich penibel bedacht gewesen war. Zuerst als Kinderspiel, dann eine lästige Pflicht und zuletzt als elementaren Teil meines öffentlichen Lebens. Etwas, was mir in Fleisch und Blut übergangen war und dessen Wichtigkeit mit dem Präsidentinnenamt meiner Mutter zugenommen hatte. Ein Schutzschild, der mich von Gefahren wie Zaubern oder Kugeln abschirmte.

Die Melodie verließ meine Lippen und ich hielt den letzten Ton. Solange ich ihn sang, würde sich der Schild, der sich in diesem Moment strahlend im Flur aufbaute, zwischen uns und diese Monster stellen. Neben mir hörte ich Jax einatmen und dann … sang er ebenso das Custos unitatis .

Wie war das möglich?

Angelina hatte gesagt, dass der Zauber ein Erbe unserer Gründerblutlinie darstellte, dennoch sang Jax jeden einzelnen Ton absolut präzise, und einen Moment später spürte ich, wie sich seine Magie mit meiner verwob. Während sich meine warm und sanft wie ein Sommertag anfühlte, erschien seine kühlend und rau wie die Abenddämmerung nach einem heißen Tag.

Ich starrte auf den Schutzschild vor mir. Meine goldenen Partikel umspielten die schwarzblauen von Jax’ Magie, tanzten einen gemeinsamen Reigen. Es fühlte sich uralt und dennoch vertraut an. Seine Magie erkannte und begrüßte mich, so als wären wir alte Freunde, dann erstrahlte der Zauber plötzlich blendend hell. Verfestigte den Schild und vibrierte in unserer fusionierten Tonlage.

Zwei Gegensätze, vereint in einer zweistimmigen Symphonie.

Eine solche Stärke hatte keiner meiner Zauber je erreicht, und ich wagte, zu bezweifeln, dass eine einzelne Hexe solch eine Macht allein innehalten würde.

Was ging hier vor?

Ich schielte zu Jax, hielt aber weiterhin den Ton. Goldene Partikel strömten aus meinem Mund und vereinten sich mit dem Schild. Zwischen Jax’ Lippen hingegen flogen dunkelblaue, beinah schwarze Partikel zu dem Schutz. Auch Jax musterte mich verwirrt.

Spürte er diese Verbindung ebenso?

»Tue ich!« , antwortete seine Stimme in meinem Kopf. Ich erschrak, sprang einen Meter zurück und versang mich. Unser Schutzschild zerbarst in einem hellen Licht, während ich Jax aus geweiteten Augen anstarrte. Sein Ausdruck spiegelte meinen wider – er verstand nicht, was hier gerade vor sich ging.

Etwas polterte vor uns. Erschrocken sah ich zu der Ursache und erblickte Calvin – oder das, was ich einst für ihn gehalten hatte. Seine verbrannte Haut strahlte in einem bläulichen Ton und schwarze Flügel prangten an seinem Rücken. Mit breitem Grinsen näherte er sich uns.

»Endlich muss ich euch beiden nicht mehr vorspielen, dass ich euch leiden kann!« In seiner Hand erschien ein brennendes Schwert und seine Augen färbten sich schwarz. »Eure Seelen werden mich stärken!«

Ich setzte an, einen Canto zu singen, obwohl mir klar war, dass er niemals rechtzeitig beendet sein würde.

»Ja, sing nur, kleine Hexe, ich werde –« Weiter kam Calvin nicht, denn sein Körper wurde von einer Sense durchschnitten. Für einen Moment stand Calvin mit aufgerissenen Augen vor mir, doch ich nahm nur die Waffe in Declans Hand wahr. In verschiedenen Rottönen pulsierte und vibrierte die Sense, während Calvin in Feuer und hellen Funken verging.

»Was zur Urmutter war das?«, flüsterte ich atemlos, wusste nicht einmal selbst, ob ich das Geschöpf oder den Canto von Jax und mir meinte. Vermutlich beides.

»Ein Útlagi«, antwortete Declan.

»Ein was?«, fragte Jax.

»Teil Walküre, Teil Dämon, Teil Hexe – mit einem ziemlichen Hunger nach Menschenseelen.«

»Muss ich das verstehen? Walküren und Dämonen?«, fragte Jax verwirrt.

»Das ist kompliziert.«

»Lass mich raten: Nicht jetzt? Erfahren wir ein andermal?«, brummte ich.

»So ist es. Einigen wir uns darauf, dass Útlagi mal Hexen waren, die eine unschuldige Person getötet haben und dann zu diesen Wesen wurden, okay?« Declan grinste mich mitleidig an, als wäre ich ein unwissendes Kind. Na danke. »Also merken: Nie jemand Unschuldiges töten, sonst werdet ihr zu solchen Drecksäcken.«

»Aha, Walküren. Nicht nur Dämonen, Gargoyles, Banshees und Sukkubi. Wunderbar. Noch was? Werwölfe? Vampire? Elfen?« Ich schüttelte träge den Kopf, denn mein Hirn verarbeitete all die Neuigkeiten nur schwer.

»Ist Sukkubi die richtige Mehrzahl von Sukkubus?«, fragte Jax.

»Was weiß ich denn?« Ich sah ihn genervt an, für mich war das immerhin ebenso alles neu.

»Keine Vampire. Keine Elfen. Nein«, lenkte Declan das Gespräch zurück auf das Wichtige.

»Aber Werwölfe?« Ich verengte die Augen.

»Nicht direkt.« Er schüttelte den Kopf.

»Verstehe. Ist vermutlich kompliziert , nicht wahr?«, fragte ich sarkastisch.

»Schlaues Kerlchen!«, flötete Declan, und ich wollte ihm ein weiteres Arschloch in seinen Hintern meißeln – oder eins an die Stirn, damit es für jedermann sichtbar war.

»Hast du … ähm …« Jax räusperte sich, sah zu Declan. »Hast du gesehen, was Harlow und ich gemacht haben?«, fragte er schließlich, der gefasster wirkte als ich. Offenbar begnügte er sich mit der Erklärung zu den nicht ganz direkt so echten, aber vielleicht ja doch echten Werwölfen. Ehrlich gesagt, kannte ich ihn nicht genug, um einzuschätzen, wie er unter Gefahr reagierte – abgesehen von gerade eben, als er dezent überfahren gewesen war. Ansonsten hatte ich ihn höchstens wie ein Teenager aus der Entfernung angehimmelt und gewusst, dass wir nie zusammenkommen würden – es eine Duschfantasie blieb, denn unsere Welten waren zu unterschiedlich.

Und doch standen wir jetzt hier, und der gemeinsame Zauber hatte sich überaus intim angefühlt.

Declan nickte uns zu, schwieg aber. Sein Blick wanderte zu Teagan, die sich mit Eliss zu uns gesellte.

»Das, was ihr da gespürt habt, war Foedus Fidei, das Band der Loyalität« , antwortete sie Jax. Ich verstand einmal mehr rein gar nichts.

Declan weitete die Augen. »Wirklich? Ich hatte es vermutet, aber das … ist unmöglich, oder? Ich bin zu jung, um es je gesehen zu haben. Doch das letzte Mal gab es ein Band vor …«

»Genau einhunderteinundfünfzig Jahren. Angelina und Gunnar. Die beiden waren verbunden, bis sich die Ingrams und McQueens zerstritten und die Fehde ausbrach. Zwar herrscht wieder Frieden, aber die beiden leben mittlerweile auf verschiedenen Seiten.«

»Mein Onkel hatte etwas mit seiner Mutter?« Fassungslos zeigte Jax auf mich und wedelte mit der Hand.

»Nein.« Teagan schnaubte belustigt. »Zur Urmutter, niemals. Die beiden waren beste Freunde. Unzertrennlich. Aber ein Paar waren sie nie.«

»Aber was ist es? Sag mir nicht, dass es so ein bescheuertes Unsere-Seelen-sind-verwandt-Ding ist. Teagan, ernsthaft, dann schreie ich.« Trotzig verschränkte ich die Arme vor der Brust.

»Ja, darauf kann ich ebenfalls gut verzichten«, stimmte mir Jax zu.

»Seelenpartner?« Teagan und Declan beugten sich vornüber vor Lachen. »Ihr schaut zu viel übersinnliche Romance-Serien. So was gibt es nicht.« Meine Leibwächterin richtete sich auf und lächelte mich an. »Jede Magiesignatur ist einmalig, und manchmal finden Hexen ihr Gegenstück. In diesem Fall bildet die Magie unaufgefordert Das Band der Loyalität zwischen diesen beiden. Eure Signaturen sind komplett gegensätzlich, was die oberste Grundlage darstellt, und ergänzen sich perfekt zu einem Ganzen. Zusammengewirkt sind all eure Zauber stärker.«

»Klingt für mich verdächtig nach unnötigen Seelenpartnern«, murmelte ich.

»Es gibt aber einen Unterschied. Ihr verliebt euch nicht automatisch. Ihr spürt nicht, wo der andere ist. Ihr mögt euch vielleicht nicht einmal. Wobei ihr schon miteinander kommunizieren könnt, ohne zu reden.«

Das erklärte jedenfalls, wieso ich Jax in meinem Kopf gehört hatte.

»Eure Magie hat das Band erschaffen, aber wie ihr über die andere Person denkt und fühlt, ist davon unangetastet. Selbst wenn die meisten verbundenen Hexen beste Freunde oder Paare wurden. Oft waren es Ingrams und McQueens.«

»Wieso?« Jax lehnte sich an die Wand neben mich.

»Weil die Magie der beiden Blutlinien so unterschiedlich ist – fast wie Gegensätze«, erklärte Eliss. »Die McQueens beherrschen das Licht und die Sonne. Ihr Ingrams die Dunkelheit und den Mond. Kaum eine Kombination der Blutlinien ist so gegensätzlich wie eure, weswegen die meisten Bänder zwischen euren Familien auftraten.«

»Na klasse, hätte es nicht jemand anderes als der Eisprinz sein können?«, fragte Jax genervt.

»Vielen Dank, ich kann mir auch einen besseren Seelengedöns-Partner vorstellen«, antwortete ich patzig.

»Band der Loyalität «, merkte Declan an.

»Was auch immer«, brummte ich.

»Besseren? War ja klar, dass du direkt wieder denkst, dass ich schlechter oder weniger wert bin.« Jax’ Augen glühten vor Zorn.

»Nein! Das meinte ich nicht.« Grummelnd fuhr ich mir durchs Haar. »Ob du es glaubst oder nicht, ich meinte damit einfach eine andere Person. Besser war eine unüberlegte Wortwahl, entschuldige.«

»Auch Worte können verletzen«, flötete Declan belustigt.

»Schnauze!«, antworteten Jax und ich gleichzeitig.

»Wie süß! Das Band lässt sie das Gleiche sagen.«

»Declan, es reicht«, mischte sich Teagan ein. »Wieso haben die Útlagi angegriffen?«

»Das ist nun einmal, was sie tun«, antwortete er schulterzuckend.

»Auf der Schattenseite, ja, aber nicht in der Lichtwelt. Hier sind sie darauf bedacht, nicht aufzufallen.«

»Da hast du recht. Manchmal vergesse ich, in welchem der beiden Sydneys ich bin.« Declan ging zu einem Regal und hob ein paar Kaffeedosen vom Boden auf. Nachdem er sie ins Regal zurückgestellt hatte, fuhr er fort: »Eine gute Frage allerdings. Ich habe jedoch keine Ahnung. Vielleicht wollten sie verhindern, dass ich euch auf die Schattenseite bringe?« Declan zuckte erneut mit den Schultern. »Der blonde Útlagi kannte euch, korrekt?«

»Er hat gestern mit uns den Abschluss gemacht«, antwortete ich. »Ich hatte aber nicht viel mit ihm zu tun, da er einem kleinen Coven angehörte, der nicht mit uns McQueens in Verbindung steht.«

»Ich hatte einige Kurse mit ihm, mehr als Bekannte waren wir dennoch nicht«, ergänzte Jax. »Hatte ohnehin nicht viele Freunde an der St.Andrew , war ihnen allen nicht gut genug. Aber wenigstens gehörte Calvin nicht zu denen, die mich wie einen wertlosen Covlo behandelt haben. War immer freundlich zu mir.« Jax’ Blick suchte meinen. Dann verzog er sein Gesicht und sah wieder weg.

Botschaft angekommen. Zwar hatte ich ihn nie Covlo genannt, aber Oli dafür andauernd – egal wie oft Ruby oder ich ihn dafür gerügt hatten. Offensichtlich dachte Jax, ich würde so über ihn denken. Zugegeben, ich hatte ihm keinen Grund gegeben, etwas anderes zu vermuten. Verdammt.

»Wir sollten uns setzen und besprechen, was als Nächstes passiert«, sagte Teagan, wie so oft die Stimme der Vernunft.

Zustimmendes Gebrumme erklang, und wir suchten uns einen Tisch im Laden.