A uf der anderen Seite der Brücke angekommen, wusste ich nicht, was mir mehr den Atem raubte – die vergangene Hetzjagd durch den Wald oder die Aussicht, die sich mir in diesem Augenblick bot. Vor uns lag Sydney, und doch erkannte ich es kaum. Ein Schleier aus purpurrotem Nebel hing über den Hochhäusern, der Harbour Bridge sowie dem Sydney Opera House und färbte die Szenerie in ein Gemälde aus Rottönen. Das Wasser des Naturhafens bewegte sich träge wie ein Schaumbad aus Blut, während die Fähren gemächlich dahinschwammen. Sonnenstrahlen brachen zäh durch die Wolkendecke aus purpurroten Wolken und vermochten es nicht, die Stadt gänzlich zu erhellen. Während mich die Sonne im Sydney in der Lichtwelt blendete und ich das Haus kaum ohne Sonnenbrille verlassen konnte, wirkte hier auf der Schattenseite alles gedämpfter. Mysteriöser. Bedrohlicher.
»Wow«, stieß Jax neben mir atemlos aus.
Ich wandte meinen Blick von der Stadt zu ihm. Seine Augen waren geweitet und sein Blick lag auf der Skyline vor uns. Der Mund geöffnet zu einem stillen O. Sein Brustkorb hob und senkte sich schnell und spannte dabei das eng anliegende Shirt gefährlich straff. Alle Muskeln sprangen mich förmlich an, so als würde Jax es nur darauf anlegen, sie zu präsentieren. Was er vermutlich tat.
Fantastisch, jetzt gab es eine dritte Sache, die mir den Atem raubte.
»Okay, genug gestarrt«, sagte Teagan und stupste mich an. Sie zwinkerte mir zu und wandte sich dann an Jax. »Ihr könnt den Himmel und die Stadt noch lang genug bewundern, immerhin …« Sie setzte ab und sah uns voller Verständnis an. »Ist es euer neues Zuhause«, fügte sie sanft hinzu.
Richtig. Unser neues Zuhause. Erst jetzt sickerte die Erkenntnis vollends zu mir durch. Ich würde nie wieder die Lichtwelt, mein Sydney sehen. Und somit auch nicht meine Mutter.
Ein Kloß bildete sich in meinem Hals und meine Augen brannten verräterisch. Denn erst jetzt begriff ich, dass ich impulsiv gehandelt hatte. Nicht einmal verabschiedet hatte ich mich von Angelina. Kein letzter Blick, keine Umarmung, kein Bild zur Erinnerung – einfach nichts. Nur Entschlossenheit, Ruby zu retten. Jedenfalls dachte ich das bisher. Jetzt fühlte es sich eher wie Starrsinn und Unüberlegtheit an. Bei Weitem nicht mehr so heldenhaft wie zuvor.
Wie würde es Angelina ergehen, wenn sie erfuhr, dass ich mich auf der Schattenseite befand? Immerhin war sie meine Mutter. Allein das Wort Mutter ließ einen Gedanken aufwallen, den ich bei der Flucht vor den Kindern des Waldes beiseitegeschoben hatte.
Meine Mutter. Die Stimme im Wald.
Hatte sie nicht verdächtig nach meiner Mutter geklungen? Aber hatte sie nicht geschrien, dass ich getötet werden sollte? Wie war das alles möglich?
»Teagan?«
Meine Leibwächterin drehte sich zu mir herum. Ihre Mundwinkel wanderten in die Tiefe, als sie mich ansah. Vermutlich standen mir die Reue und das Bedauern ins Gesicht geschrieben. Zugegebenermaßen kämpfte ich gerade damit, die Tränen zurückzuhalten. Mit nur wenigen Schritten eilte sie zu mir und nahm mich in den Arm.
»Ich weiß«, sagte sie leise in mein Haar. »Aber trotz allem glaube ich, dass deine Entscheidung richtig war.«
»Wirklich?«, fragte ich an ihre Brust gepresst. »Aber wieso will meine Mutter mich dann töten? Es war doch ihre Stimme im Wald, oder?«
Behutsam drückte mich Teagan etwas von sich. Ihr Blick ruhte auf mir, während sie tief ein- und ausatmete.
»Das ist kompliziert, und ich bin mir nicht sicher, ob wir das hier besprechen sollten. Aber deine Mutter will dich töten, ja.«
Ich schreckte zusammen und wich einen Schritt von Teagan weg.
»Harlow, hör mir zu. Das ist nur ein kleiner Teil einer großen Lüge.« Meine Leibwächterin seufzte. »Die Stimme im Wald … Das war nicht Angelina, sondern ihre Schwester Casiopaia. Deine Mutter.«
»Meine … Wer?« Ich blinzelte, verstand nicht, was diese Worte bedeuteten. »Angelina ist meine Mutter. Was redest du da?«
»Es tut mir so leid, Harlow. Aber Angelina ist deine Tante. Sie hat dich nach der Geburt … entführt und in Sicherheit gebracht. Unmittelbar bevor das Reisen von der Schattenseite in die Lichtwelt für immer versiegelt wurde. Um genauer zu sein, zu deinem Schutz versiegelt wurde – nach der Entführung.«
»Das ist doch Unsinn!« Ich sah Hilfe suchend zu Jax. Während er mich nur mit geweiteten Augen anstarrte, schüttelte Teagan betreten den Kopf.
»Ich sage die Wahrheit«, flüsterte sie. »Casiopaia, die Hexenkönigin, ist deine Mutter. Angelina hat dich mit sich in die Lichtwelt genommen, um deren Mordplan an dir zu verhindern.«
»Wieso?« Mehr brachte ich nicht hervor. Meine Kehle schnürte sich zu, und ich spürte heiße Tränen meine Wangen hinablaufen. Schwindel ereilte mich, und mir war, als würde meine Seele aus dem Körper entschwinden, und mit ihr all meine Kraft. Ich konnte mich kaum auf meinen Beinen halten. Das alles ergab keinen Sinn.
Wie durch einen Schleier, kurz vor einer Ohnmacht, spürte ich Jax’ Hände. Er griff mir um die Hüfte, zog mich an sich und stützte mich. Direkt roch ich seine Magie, fühlte ihre kühle Erhabenheit und sah, wie sich einzelne Partikel von ihm lösten und sich auf meine Haut legten. Dort verbanden sie sich mit meiner goldenen Magie, und der Foedus Fidei schenkte mir Geborgenheit und etwas Ruhe. Langsam kehrte meine Kraft zurück, trieb das Schwindelgefühl davon.
»Danke«, murmelte ich.
Jax räusperte sich und nickte mir zu, sagte aber nichts. Vermutlich verstand er ebenso wenig wie ich, was hier passierte, und noch weniger, wieso unsere Körper förmlich nach einander verlangt hatten. Oder er zudem darauf eingegangen war, statt sich zu wehren. Die letzten Jahre hatte er mich gemieden wie die Pest, und doch spendete er mir jetzt Trost, ohne mit der Wimper zu zucken.
»Können wir den Rest im Anwesen der Ingrams klären? Es ist zu gefährlich, hier darüber zu reden.« Teagan kam zu uns herüber und strich mir über die Wange. »Bisher weiß Casiopaia nur, dass du zurück bist. Nicht aber, wie du aussiehst und wohin du gehst. Bald wird sie allerdings ihre Hexenbiester und vermutlich auch die Útlagi entsenden, um genau das herauszufinden. Zu dem Zeitpunkt sollten wir in Sicherheit sein. In die Stadt trauen sie sich nur getarnt – dort sind zu viele Hexen.«
»Okay.« Ich nickte. Fand immer noch keine Worte. Mein Gehirn versuchte alles zu verarbeiten, schaffte es aber nicht. Ich war in einem absurden Traum gefangen. »Hat Angelina …« Erneut fehlten mir die Worte, um die schmerzhafte Frage zu beenden.
»Dich geliebt?«, fragte Teagan.
Ich nickte.
»Aus ganzem Herzen! Mehr als jede andere Person. Sie hat alles aufgegeben, um dich zu retten und mit dir zu flüchten.«
Erneut bahnten sich Tränen einen Weg meine Wange hinab. »Okay.«
Ich wollte mehr dazu sagen, doch nichts kam über meine Lippen. Kein Gedanke formte sich in meinem Kopf. Alles wirbelte durcheinander.
Teagan nickte Jax zu, bevor sie sich in Bewegung setzte. Wir folgten ihr, Jax mich weiterhin stützend. Mein Stolz meldete sich. Sagte mir, ich solle seine Hilfe ablehnen und gefälligst allein laufen, doch mein Magen und meine Beine erreichte der Befehl nicht. Mir fehlte die Kraft, mich zu wehren, also ließ ich seine Hilfe einfach zu.
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* * *
Nach einem Marsch von etwa fünfzehn Minuten, einer Fahrt mit dem Bus, gefolgt von einer mit der Fähre und erneut gut fünfzehn Minuten Fußweg, erreichten wir unser Ziel: Manly Beach. Ganz offensichtlich befand sich das Anwesen der Ingrams auch auf der Schattenseite in Manly. Zwar nicht in der Einkaufsstraße wie der kleine Laden von Jax’ Mutter, aber nicht allzu weit davon entfernt.
Ich erinnerte mich an kaum etwas, was ich auf dem Weg hierher gesehen hatte. Der Himmel hing weiterhin rötlich über uns, doch die erste Faszination konnte nun nicht mehr Wurzeln in mir schlagen. Mein Kopf schwirrte auch jetzt noch, kein klarer Gedanke war greifbar.
Weiterhin an Jax’ Seite gepresst, unsere Magie dank des Foedus Fidei vereint, hob ich behäbig meinen Blick. Das Anwesen vor mir erstrahlte in dem roten Glanz der Sonne, die langsam im Meer unterging. Ich sah ein paar Segelboote in Richtung des Naturhafens schwimmen und Einwohner schlenderten vom Shelly Beach zum Stadtkern von Manly. Bis auf die rötlichen Farben um uns herum unterschied sich die Schattenseite auf den ersten Blick kaum von seinem Gegenstück in der Lichtwelt. Jedenfalls wenn man davon absah, dass ein großer Teil dieses Sydneys von dem dichten, ewig sterbenden Wald von Salem bedeckt war. Das blau-grünliche Licht, das im Inneren dominierte, sah man von außerhalb nicht. Von hier wirkte der Wald wie ein schwarzer Moloch des Todes, der dunkle Dämpfe der Verderbnis in die Luft um sich abgab. Die Schatten verließen ihn wie geisterhafte Arme und verflüchtigten sich im Nichts. Gut fünfhundert Meter entfernt um den Wald erstreckte sich die Schneise, die silbern pulsierte.
Dennoch sahen die Einwohner hier in Manly nicht besorgt aus und gingen ihrem täglichen Leben nach. An uns spazierten in diesem Moment zwei Mütter mit ihren Kindern vorbei. Ich spürte ihre neugierigen Blicke auf uns, gefolgt von leisem Getuschel. Es wirkte alles so normal.
Mein Kopf brachte es nicht fertig, diese Alltäglichkeit um mich herum mit dem Schrecken des Waldes und der Information über Angelina und Casiopaia in Einklang zu bringen. Um mich herum wirkte alles friedlich, vertraut und ruhig. Ganz wie im Sydney der Lichtwelt – und doch war gar nichts mehr normal. Mein altes Leben zersplittert wie ein Spiegel, der scheppernd zu Boden gefallen war. Jede Scherbe zeigte ein verzerrtes Bild all der Lügen, die einst mein Alltag gewesen waren.
»Komm, wir sollten reingehen«, sagte Teagan und drückte mich behutsam in Richtung des riesigen Anwesens. Eine lange Zufahrt aus hellem Kies lag vor uns, gesäumt mit hohen Bäumen und gestutzten Hecken. Ein imposanter Springbrunnen plätscherte auf dem runden Platz vor dem Haupteingang, links und rechts daneben gingen zwei Seitenflügel vom Gebäude ab.
Ein älterer Mann mit ernster Miene eilte uns entgegen. Er stoppte unmittelbar vor Jax. Nur einen flüchtigen Blick verschwendete er an Teagan und mich, bevor er sich Jax zuwandte.
»Sir, es ist mir eine Ehre, Sie als jungen Mann erneut kennenzulernen«, sagte er ehrfürchtig.
Jax sah sich verwirrt um. Dann kniff er die Augen zusammen. »Du meinst mich?«
»Natürlich, Sir Ingram. Ich bin hocherfreut über Ihre Rückkehr. Das letzte Mal habe ich Sie gesehen, als ich Ihre Windeln gewechselt habe. Ich bin seit Dekaden der Butler dieses Hauses.«
»Meine Windeln?« Jax sah den grauhaarigen Mann verdutzt an und kratzte sich am Hinterkopf. »Verwechselst du mich? Ich war noch nie hier.«
»O nein, nein. Keine Verwechslung. Sie erinnern sich nur nicht. Immerhin waren Sie noch ein Säugling, als Sie in die Lichtwelt gewechselt sind.« Der Mann lächelte Jax an, bevor er mir einen flüchtigen, eisigen Blick zuwarf. Nach nur einem Moment lag erneut eine lächelnde Maske der Professionalität über seinen Zügen. »Unmittelbar bevor die Schattenseite vollständig abgeschirmt wurde, um Mister McQueen zu schützen .« Zwar lächelte der Bedienstete weiterhin, doch die letzten Worte trugen eine gehörige Portion Gift in sich.
Erneut drehte sich alles um mich. Meine Sicht verschwamm, und der Kloß in meinem Hals wuchs gefühlt auf die Größe eines Golfballs. Wir folgten dem Butler in das Anwesen, doch ich nahm kaum etwas wahr. Einrichtung, Bewohner, das ganze Treiben erschien mir so bedeutungslos. Meine Gedanken kreisten immer wieder um meine Mütter. Eine davon war meine leibliche, die mich töten wollte. Die andere hingegen war jene Frau, die den Titel verdiente, weil sie mich großgezogen hatte.
Nur vage sah ich, dass Jax von einem großen Mann mit breiten Schultern in eine feste Umarmung gezogen wurde und er danach angeregt mit Teagan diskutierte. Ich stand verloren an eine Wand gelehnt, mein Blick schweifte in die Leere, während meine Gedanken mich zu ertränken versuchten.
Nach einer Ewigkeit der Apathie erschien eine Hand in meinem Sichtfeld. Ich folgte ihr den Arm hinauf zu Jax’ Gesicht. Mit einem gequälten Lächeln musterte er mich.
»Darf ich?« Zaghaft deutete er mit dem Kinn auf das feine Oblivio-Pulver in seiner Hand.
»Wie viel?«, fragte ich kraftlos.
»Genug, dass du dir anhören kannst, was ich gerade erfahren habe. Nicht genug, um dich alles vergessen zu lassen.«
»Okay.« Wenigstens etwas Vergessen reichte mir vorerst. Vielleicht könnte ich mich dann konzentrieren.
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* * *
»Was?« Ich sah den Mann mit den breiten Schultern, der sich als Gunnar Ingram herausgestellt hatte, erschrocken an.
»Ich sagte, dass ich schwer hoffe, dass du weißt, was du angerichtet hast, indem du auf die Schattenseite gekommen bist.« Sein Ton war sachlich und emotionslos.
»Gunnar, lass gut sein«, mischte sich Teagan an.
»Nein, schon in Ordnung.« Ich legte ihr meine Hand auf die Schulter. »Was genau meinst du, Gunnar? Warst du es nicht, der mit Angelina über das Band verbunden war? So wie ich jetzt mit Jax. Wart ihr es nicht, die Jax und mich im Unklaren ließen? Die uns belogen haben? Woher sollten wir wissen, was uns hier erwartet, wenn ihr falsch gehandelt habt?« Meine Worte hingen wie ein Fehdehandschuh in der Luft – forderten Gunnar drohend heraus, mir zu widersprechen.
»Ihr seid über das Band verbunden?« Mit geweiteten Augen sah sein Onkel zu Jax.
»Sind wir«, antwortete dieser mit vor der Brust verschränkten Armen. »Aber Harlow hat recht. Es ist nicht unsere Schuld, sondern eure. Eure Lügen beißen euch jetzt in den Arsch, und wir sind nur der Kollateralschaden!«
»Das ist unfair.« Das erste Mal klang Gunnar eingeschüchtert.
»Du sprichst von unfair?«, spuckte Jax aus.
»Ihr hättet die Hexenkönigin doch aufhalten können, bevor ihr einfach alles abgeschirmt habt?«, gab ich zornig von mir. »Die Licht- und die Schattenseite hätten zusammen den Wald bekämpfen können! Wieso überhaupt eine Spaltung der Realitäten, statt gemeinsam gegen den Wald anzutreten? Mir fallen spontan zig Szenarien ein, die keine Abschirmung, keine unzähligen Lügen, nichts davon benötigt hätten.«
»Deine Mutter war damals noch nicht unsere größte Sorge. Ihr Aufstieg zur Hexenkönigin folgte deutlich später. Wir wollten den Wald eindämmen und ahnten nicht, dass sich Casiopaia McQueen mit ihm verbünden würde. Eine Spaltung schien damals der beste Weg. Und ohne den Verrat deiner Mutter wäre das auch so geblieben!«
Das Wort Mutter stach wie ein scharfer Dolch durch meine Brust. Mein Leben lang hatte ich geglaubt, dass Angelina meine Mutter sei, und doch war sie meine Tante, die mich entführt und gerettet hatte – vor dem Tod durch die Hand der Hexenkönigin. Wieder einmal pochten diese Worte laut durch meinen Kopf.
»Okay, schön und gut«, sagte Jax. »Aber wozu die Abschirmung? Das war doch nicht immer so?«
»Um Harlow zu schützen!« Gunnar sah zu mir. »Du solltest uns dankbar sein!«
»Dankbar? Für all die Lügen?« Zorn wallte in mir auf. »Und wovor überhaupt schützen?«
»Davor, dass sie dich tötet.«
»Bullshit!«, entfuhr es mir. »Ihr schirmt keine ganze Realität ab, um ein Kind zu retten! Ich glaube dir kein Wort. Was ist der wahre Grund?«
Für eine gefühlte Ewigkeit starrte mich Gunnar wütend an, dann schüttelte er den Kopf und seufzte.
»Sie will dein Herz.«
»Das soll uns als Erklärung reichen?«, fragte Jax sichtlich genervt.
»Casiopaia sammelt Herzen von männlichen Hexen, um den Fluch der Krone zu nähren. Es ist kompliziert. Die Baumwesen, die ihr gesehen habt. Das waren einmal männliche Hexen, bevor Casiopaia ihnen die Herzen herausriss und die Körper dem Wald überließ, deswegen nennen wir sie auch Kinder des Waldes .«
Mir stockte der Atem, Kälte kroch mir den Rücken hinab.
»Das … ist schrecklich … Aber wieso wollt ihr gerade mein Herz retten?«
»Weil deine Mutter deins für einen Fluch benötigt, der alle Menschen der Lichtwelt für hundert Jahre schlafen lassen würde. So könnte sie problemlos die Kontrolle über die Welt übernehmen. Solange sie die Krone trägt, kann sie mit deinem Herz die gesamte Menschheit aus dem Weg schaffen. Und genau das Herz servierst du ihr auf einem Silbertablett!«
Teagan knurrte böse. »Das wird sie nicht bekommen! Nur über meine Leiche!«
Dankbar lächelte ich meiner Leibwächterin zu, doch mich beschäftigte eine weitere Frage.
»Hättet ihr Casiopaia diese ominöse Krone nicht einfach abnehmen und vergraben, wahlweise zerstören können? Oder ihr einfach nicht verleihen? Anstatt alles abzuschirmen?«
Gunnar Ingram lachte finster, keinerlei Freude in seinem tiefen Bass. Für einen Augenblick verdunkelten sich seine Augen und schwarze Schatten wirbelten in ihnen umher. Dann seufzte er, als würde er sich daran erinnern, dass ich nicht der Feind war.
Es waren immer die Augen, die uns Hexen verrieten, wenn unsere Emotionen überhandnahmen. In solchen Momenten erstrahlten sie in der Farbe unserer Magie.
Ich spürte meine Reaktion auf seine Augen unmittelbar danach, sah das helle Licht, das aus meinen eigenen auf Gunnars Gesicht fiel. Während die Ingrams die Nacht kontrollierten, standen wir McQueens für den Tag, und in meinem Gesicht erstrahlten soeben zwei Sonnen statt Augen. Eine körperliche Reaktion, gegen die ich machtlos war. Ähnlich dem Kampf um ein Territorium bei Tieren. Gunnars Magie hatte meine herausgefordert, und diese antwortete ihm strahlend hell.
»Wenn es so leicht gewesen wäre, glaubst du ernsthaft, dass wir das hier alles auf uns nehmen würden?« Für einen Moment schloss Gunnar die Lider und atmete tief durch. Danach öffnete er sie erneut und fixierte mich, hielt die Illusion menschlicher Augen wieder aufrecht. »Die Krone ist das Geburtsrecht von euch McQueens. Niemand kann sie euch entreißen. « Er lächelte müde.
»Wieso?« Verwirrt starrte ich ihn an und drängte das Licht in meinen Augen zurück, bis meine menschlichen Pupillen erneut übernahmen.
»Weil sie euch wählt. Immer.«
»Das heißt aber nicht, dass –«
»Doch, Harlow!«, unterbrach Gunnar mich barsch, seufzte dann erneut und mühte sich ein entschuldigendes Lächeln auf die Lippen. »Du verstehst nicht. Die Krone ist kein Gegenstand. Sie ist ein Fluch, eine magische Tätowierung, die sich in eure Stirn einbrennt, sobald ihr zur neuen Königin werdet. Niemand kann sie euch nehmen. Und ob du willst oder nicht, irgendwann wirst du, Harlow Jammison Cassidy McQueen , die nächste Hexenkönigin.«
Ich schreckte zurück. »Was meinst du?«
»Es ist vielmehr ein Mal, eine magische Zeichnung auf der Stirn, die an eine Tätowierung erinnert. Eben kein Gegenstand, den man abnehmen kann. Sobald die aktuelle Hexenkönigin stirbt, wird sich die Krone auf deiner Stirn einbrennen und du zur neuen Hexenkönigin.«
»Ich … nein … das ist unmöglich.« Hilflos sah ich zu Jax, der selbst fassungslos vor sich hin starrte. Mein Blick wanderte zu Teagan, diese nickte mir mit traurig wirkenden Augen zu. »Nein!«
»Du hast keine Wahl, Harlow. Die Krone wählt seit Jahrhunderten immer eine Hexe der McQueens. Es ist euer Geschenk und eure Bürde zugleich. Ein Fluch, der seit dem Anbeginn der Hexen auf euch lastet.«
»Und wenn ich die Krone nicht will?«, fragte ich trotzig und bestätigte damit vermutlich alles, was die Ingrams über mich dachten. Was mir in diesem Moment aber völlig egal war.
Um nichts davon hatte ich gebeten – weder der privilegierte Sohn der Präsidentin in der Lichtwelt zu sein noch hier auf der Schattenseite als Sohn einer massenmordenden Königin wahrgenommen zu werden. Ich hatte die Schnauze voll davon, fremdbestimmt zu sein, und wollte endlich selbst bestimmen, wer ich war.
Endlich frei sein.
»Dann wird die Krone dich zwingen«, antwortete Gunnar. »Sie gibt der Königin nicht nur die Macht, andere Hexen zu kontrollieren, sondern kann selbst die Königin unterwerfen, falls sie sich weigert, ihre Berufung einzugehen.«
So viel zur Freiheit.
»Ist meine … Ist die Königin freiwillig so oder ist es die Krone?«
»Ich wünschte, ich könnte dir sagen, dass Casiopaia unschuldig ist. Doch das wäre gelogen. Deine Mutter weiß, was sie tut, und hegt dabei keinerlei Skrupel.«
»Bitte nenn sie nicht meine Mutter«, flüsterte ich. »Angelina ist meine Mutter, egal ob sie meine Tante ist oder nicht. Es ist mehr als ein Wort. Taten machen sie zu einem Elternteil, und Angelina, so streng sie ist, liebt mich wie ihren Sohn.«
»So ist es.« Jax legte seine Hand auf meine Schulter. Vorsichtig festigte er den Griff für einen Moment und nahm sie wieder weg. Unmittelbar darauf fehlte mir diese flüchtige Berührung. »Bruce hat mich gezeugt, dennoch ist er kein Vater, und so ist die Hexenkönigin auch nicht seine Mutter«, fügte Jax bestimmend hinzu.
Gunnars Mundwinkel zuckten kaum merklich, dann nickte er seinem Neffen anerkennend zu.
»Wieso habt ihr Casiopaia noch nicht getötet?«, fragte ich unsicher. »Ihr seid doch in der Überzahl!«
»Der Fluch der Krone macht die Hexenkönigin unsterblich … Mit einer Ausnahme.«
Ich sah die Antwort in Gunnars ernstem Blick, in den sich Bedauern mischte.
»Nur ich kann sie töten, richtig?«
»So ist es. Nur ein Kind der Hexenkönigin ist dazu in der Lage. Das ist das Perfide an dem Fluch. Sollte es eine gutmütige Hexenkönigin nach Jahrhunderten müde sein zu regieren, kann sie die Krone nur weitergeben, wenn ihr Kind sie umbringt.«
»Das ist grausam«, gab ich müde von mir. Wenn ich daran dachte, dass Angelina mich bitten würde, sie zu töten, könnte ich es? Wäre ich dazu in der Lage, ihr den Wunsch zu erfüllen und dann Jahrhunderte mit dem Mord zu leben?
»Ich weiß, ihr habt Fragen, und ihr müsst noch viel lernen, aber jetzt solltet ihre erst einmal etwas schlafen.«
»Aber –«, setzte Jax an.
»Wir haben Zeit, über alles zu reden«, unterbrach Gunnar ihn sanft.
»Haben wir nicht«, mischte ich mich ein.
»Doch. Vielleicht sollten wir aber zuvor noch den riesigen Elefanten im Raum klären.« Gunnar wirkte plötzlich unangenehm berührt.
»Ruby?«, hauchte ich.
»Ganz recht.« Gunnar nickte. »Ihr könnt nichts mehr für sie tun.«
»Das ist doch Unsinn«, knurrte Jax.
»Ist es nicht. Sie hat mittlerweile einen der Äpfel des Waldes gegessen und schläft für die nächsten neunundfünfzig Tage bis zum Blutmond. Auf ihr liegt ein gemeinsamer Fluch der Hexenkönigin und des Waldes. Die Königin wandelt weibliche Hexen mit reinen Herzen zu ihren Hexenbiestern um. Bei Tag Frauen, bei Nacht Wölfinnen. Ruby hat diesen Apfel gegessen und wird beim nächsten Blutmond zu einem Hexenbiest.«
»Wie … Werwölfe?«, stotterte Jax.
»Ja, aber in jeder Nacht, oder auch tagsüber, wenn sie sich verwandeln wollen. Nicht nur bei Vollmond. Sie dienen Casiopaia als Leibgarde und sind ihr hörig.«
»Dann müssen wir Ruby sofort wecken! Jetzt!« Meine Stimme überschlug sich.
»Dann stirbt sie! Sie muss bis zum Blutmond schlafen, und wenn ihr Herz rein genug war, wird sie ein Hexenbiest. Wird sie vorher geweckt oder ist das Herz nicht rein …«
»Stirbt sie«, flüsterte Teagan.
»Nein«, entwich es mir wimmernd. »Wie können wir sie retten?«
»Gar nicht. Wir können sie höchstens gefangen nehmen, nachdem sie sich verwandelt hat, und hoffen, dass die Reyes Hexen eine Lösung finden«, sagte Gunnar mit ernstem Gesicht und ich kniff die Augen zusammen.
»Reyes?«, fragte Jax, während mir die Worte fehlten. Ruby war verloren. »Wie im Sydney in der Lichtwelt?«
»Ja, sie sind, neben uns vier Gründerfamilien in Sydney, eine weitere alte Blutlinie mit der Gabe der Heilung und leiten ebenso auf der Schattenseite die Krankenhäuser und psychologischen Dienste.« Gunnar lächelte seinem Neffen müde zu. »Nur sind unsere Reyes Hexen deutlich mächtiger als in der Lichtwelt. Hier leben die direkten Nachfahren. Wenn sie keinen Weg finden, Ruby nach der Verwandlung zu retten, findet ihn niemand.«
»Und sonst gibt es keine Möglichkeit?«, brachte ich mit heiserer Stimme hervor.
»Doch, eine einzige. Du musst Casiopaia töten und somit den Fluch auf den Hexenbiestern brechen.«
»Das ist ohnehin der Plan«, hörte ich plötzlich Declan. Er betrat das Zimmer und musterte uns alle. »Das reicht für heute. Legt euch schlafen. Und die nächsten neunundfünfzig Tage nehmt ihr es ebenso.«
Ich setzte zum Protest an, doch Declan hob die Hand. »Willst du sie retten?« Er sah mir tief in die Augen.
Ich nickte, da plötzlich keine Worte den Weg über meine Lippen fanden.
»Um sie zu retten, musst du vergessen, dass du sie retten willst, oder wenigstens den Drang danach verstummen lassen. Denn ansonsten tust du etwas Voreiliges und stirbst bei dem Versuch. Ruby wird nur überleben, wenn die Hexenkönigin stirbt. Und dafür wirst du die neunundfünfzig Tage Training bitterlich brauchen. Genau deswegen werdet ihr eure Freundin vorerst vergessen, verstanden?«
Erneut nickte ich. Jax tat es mir gleich, allerdings mit geballten Fäusten und einem finsteren Blick zu seinem Onkel Gunnar.
»Aber wie soll ich es einfach vergessen?«, fragte ich.
»Vermutlich mehr Oblivio-Pulver«, antwortete Jax.
»Das wird nicht reichen.« Gunnar sah uns nur flüchtig an und musterte dann Teagan.
»Nein!«, antwortete meine Leibwächterin. »Auf keinen Fall!«
»Es gibt keinen anderen Weg«, stimmte Declan Gunnar zu.
»Schwächere Emotionen sind kein Problem für mich«, erwiderte Teagan zornig. »Selbst starke Emotionen für einen kurzen Zeitraum nicht. Aber wir reden hier von fast zwei Monaten und von schwerem Trauma und Tod. Wenn ich ihre Emotionen fresse, kann das nachhaltige Komplikationen mit sich bringen.«
»Unsere Emotionen fressen?«, entfuhr es mir.
»Du willst was?«, fragte Jax gleichzeitig.
Teagan seufzte genervt und sah mich danach liebevoll an. »Als Sukkubus kann ich die Empfindungen von anderen Wesen … nennen wir es … beeinflussen.« Sie warf Gunnar einen finsteren Blick zu, der klar sagte, dass sie dieses Gespräch nicht guthieß. »Erinnerst du dich, wie deine Gefühle nach dem ersten Anschlag auf Angelina und dich ungewöhnlich schnell abebbten? Das war ich.«
»Oh.« Mehr fiel mir dazu nicht ein. Ich war zu müde, um diese Information gänzlich zu verarbeiten.
Sie drehte sich zu Gunnar und Declan. »Aber das war nur ein kurzer Zeitraum. Hier reden wir von mächtigen Gefühlen wie Trauer, und das über eine zu lange Spanne. Das Risiko gehe ich nicht ein.«
»Mach es einfach, Sukkubus. Ich befehle es dir!«, platzte es aus Gunnar hervor.
Teagans menschliche Form wich der Dämonenform und sie baute sich gefährlich vor ihm auf. »Ich diene den McQueens, nicht aber dir, Gunnar Ingram.« Ihr Ton war so eisig, dass er förmlich den Raum abzukühlen schien. »Und wage es nie wieder, zu mir oder einer anderen Dämonin so zu sprechen, als wären wir eure Untergebenen. Diese Zeiten sind vorbei, mein Dienst an den McQueens ist freiwillig!«
»Teagan, bitte. Ich verstehe deine Wut, glaub mir, immerhin bin ich ein Gargoyle und bekomme selbst genug von der Diskriminierung ab.« Declan schenkte ihr ein verständnisvolles Lächeln. »Aber es ist der beste Weg, Harlows und Jax’ Emotionen so weit zu dämpfen, dass sie Ruby fast vollständig vergessen.«
»Nein!« Tegan verschränkte die Arme vor der Brust. »Sucht euch einen anderen Sukkubus!«
»Bitte«, flüsterte ich, und jeder im Raum sah mich plötzlich an. »Teagan, ich bitte dich. Nimm mir den Schmerz, die Wut und die Verwirrung. Das alles ist … zu viel.« Beschämt sah ich zu Boden und kämpfte gegen die Tränen, die sich zu bilden drohten.
»Harlow …«
»Bitte.«
»Du weißt nicht, was du von mir verlangst. Es könnte eure Psyche nachhaltig verändern, wenn ich so lange eure Gedanken manipuliere.«
»Das ist okay«, stimmte Jax ein. »Ich will es ebenso.«
Ich nickte nur traurig und sah meine Leibwächterin flehend an. Für einen langen Moment starrte sie mich an, dann kam sie auf Jax und mich zu.
»Das ist ein Fehler«, flüsterte sie. Unmittelbar danach roch ich den mittlerweile vertrauten Dämonengeruch, und eine Leichtigkeit durchspülte meinen Körper. Verwirrt fragte ich mich, wieso ich davor so aufgewühlt gewesen war, doch ich konnte es nicht mehr greifen. Ein Schleier aus Stille lag über diesen alten Gedanken, ganz so, wie eine dicke Schneedecke jegliche Geräusche im Winter dämpfte.
Declan räusperte sich. »Die nächsten Tage erkläre ich euch alles Weitere über das Training, den Orden, und deutlich später erläutere ich den Plan«, sagte er. »Ihr könnt so oder so nicht alles auf einmal verarbeiten. Richtig, Gunnar?«
Die beiden Männer sahen sich kurz eisern an, dann nickte der Anführer der Ingrams. Zwar widerwillig, dennoch stimmte er Declan zu. Der Machtkampf zwischen den beiden war deutlich, obwohl ich ihn nicht in Gänze verstand. Wer welche Position bekleidete und wem untergeordnet war, würde ich wohl noch erfahren.
Gunnar legte seine Hand auf Jax’ Schulter und sagte: »Ruht euch aus. Declan hat recht. Ihr müsst trainieren und euch auf die Mission vorbereiten. Aber schlaft erst einmal.«
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* * *
Interlude 1
Casiopaia Eudora Marjorie McQueen trug viele Namen: die dunkle Fee, die böse Königin, Malefiz, das Gesicht im Spiegel, die finstere Herrscherin. Kein Name war selbst gewählt – und dennoch waren sie in aller Munde. Sowohl in der Hexengemeinschaft als auch in der Welt dieser unsäglichen Pest namens Menschen.
Doch für Casiopaia waren Namen nur Schall und Rauch. Auch wenn sie zugeben musste, dass sie es genoss, wie selbst die Erwähnung einer ihrer Namen Angst und Schrecken verbreitete. Wie er Menschen und Hexen zu gleichen Teilen erzittern ließ. Nichts roch und schmeckte besser als pure, reine Angst.
Die Brüder Grimm hatten ihr einen Gefallen getan. Jedenfalls sah Casiopaia es mittlerweile so. Vor Jahrzehnten war sie hingegen erzürnt gewesen, dass diese Nichtsnutze alles falsch erzählt hatten in ihren sogenannten Märchen . Wenigstens einige Dinge hatten diese Stümper in ihren Werken richtig beschrieben.
Die Äpfel.
Die Spiegel.
Die reinen Herzen.
Den Kuss der wahren Liebe.
Den finsteren Wald.
Die Fehde mit Casiopaias Schwester – die gute Fee, die helle Königin oder die Präsidentin, wie sich das Miststück in der Lichtwelt nannte.
Bereits in Kinderjahren hatte Casiopaia gewusst, was ihr Schicksal für sie bereithalten würde. Ihre Gedanken waren schon immer düsterer gewesen als die ihrer Schwester. Während Angelina Vögelchen mit gebrochenen Flügeln pflegte und Lieder mit ihnen sang, brach Casiopaia ihnen das Genick.
Ein Wesen, das sich nicht allein retten konnte, war zu schwach für diese Welt. Jedenfalls entsprach das Casiopaias Auffassung. Machte dieser Gedanke sie wahrhaftig böse? Sie empfand das anders, sah sich lieber als Realistin.
Spätestens an dem Tag, an dem sie sich an einer Spindel aus dem Holz des Waldes von Salem stach, bestätigte sich ihr Schicksal. Von diesem Tag an hörte sie den Wald, verstand seine Sprache und ging Jahre später einen Pakt mit ihm ein.
Und nun war der gesamte Plan in Gefahr. Harlows Rückkehr gefährdete alles, wofür sie so lange gearbeitet hatte. Der Junge musste sterben. Sein Herz musste in einem erneuten finsteren Fluch geopfert werden, damit Casiopaia bald über alle herrschen würde.
Genervt warf sie einen Blick auf den deckenhohen Spiegel, dessen Rahmen kunstvoll aus dem Holz des Waldes von Salem gezimmert worden war. Die Oberfläche aus magischem Glas bewegte sich sanft dahin. Sie erinnerte sie an konzentrische Kreise, die ein Stein hinterließ, wenn man ihn in einen See warf.
Das Bild auf der kühlen Oberfläche stellte sich frustrierend eintönig dar: eine mit Stuck verzierte Zimmerdecke aus hellem Marmor hielt einen opulenten Kronleuchter. Es waren nicht die visuellen Reize, die sie in diesem Moment interessierten, sondern die Stimmen – und worüber diese sprachen.
Sie fühlten sich sicher. Dachten ernsthaft, dass sie alle spiegelnden Flächen im Anwesen der Ingrams mattiert oder abgedeckt hatten. Wie töricht sie doch waren. Es hatte nur einen kleinen Fluch gebraucht, einen Apfel aus dem Wald, und schon hatte sie einen Einwohner zu ihrem Diener gemacht. Der wiederum hatte eine winzige Scherbe im Anwesen platziert, und durch genau diese vernahm sie die Gespräche.
Zu gern hätte sie das Gesicht des Jungen gesehen, der sterben würde. Doch das würde sie früh genug. Sie würde herausfinden, wie er aussah, und dann ihrer Chance harren. Vorerst genügte das Abhören.
Ihr Kind war völlig ahnungslos. Überfordert mit all den neuen Informationen. Angelina bewies einmal mehr, wie einfältig sie war. Sie hätte den Jungen vorbereiten sollen, denn in seinem derzeitigen Zustand stellte er keine Herausforderung für Casiopaias Jägerinnen dar, und schon gar nicht für sie selbst. Doch sie war nicht naiv genug zu glauben, dass sich das nicht zu ändern vermochte. Zu viele Wesen, die nach Macht strebten, scheiterten, weil sie arrogant und rücksichtslos wurden. Ein Schicksal, das Casiopaia nicht zu teilen gedachte.
Je früher der Junge starb, desto besser. Während seiner Zeit auf der Schattenseite würde er dazulernen, vermutlich sogar bei der alten Schachtel der Oper in die Lehre gehen und dann, ja, dann würde er zur Gefahr werden.
»Die Sache mit den Herzen ist kompliziert«, hörte sie Gunnar sagen. Fast hätte sie gelacht. In der Tat, der Junge musste viel lernen, und wenn die Hexengemeinschaft ihre Hoffnungen auf ihn legte, würde es ein bitteres Erwachen für sie geben.
Grinsend wandte sie sich vom Spiegel ab und verließ ihr Gemach. Sie schritt den langen Korridor ihres Schlosses entlang, bis sie die Treppen des Turms erreichte. Bedächtig stieg sie diese empor. Vor der Tür aus schwarzem Holz mit goldenen Ornamenten hielt sie inne, atmete einmal tief durch und trat dann ein.
Das altbekannte Pochen hieß sie willkommen. Vor ihr ragte ein gläserner Baum empor. Er streckte seine Äste zu allen Seiten, und doch berührte er sie nicht. Wie Ketten aus Kristallen funkelten sie im Licht der anbrechenden Nacht. Der runde Raum des Turmzimmers war durch Magie so gebeugt, dass die Baumkrone nicht die Decke erreichte. An seinen unzähligen Ästen hingen weder Blätter noch Früchte, sondern Herzen. Hunderte davon. Ein jedes schlug weiterhin, und sie ergaben ein Konzert der Verlorenen. Eine Melodie der Verdammten. Ein Lied, das Casiopaia überaus vertraut war und das Zentrum ihrer Macht bildete.
Sie sah durch das Fenster hinaus in den Wald, der ihr Schloss umgab. Über den Baumwipfeln stieg der Mond langsam empor. Heute war es wieder so weit. Vollmond. Casiopaia würde erneut ein Herz aus ihrer Sammlung dem Fluch der Krone opfern müssen. Wie schon unzählige Male zuvor.
Im Gegensatz zu ihrer törichten Mutter und Angelina wusste Casiopaia, dass ein freiwillig gegebenes Herz nichts wert war. Es besänftigte den Fluch kaum und löschte seinen Durst nur minimal. Einem Tropfen Wasser in einer Wüste gleich. Doch ein unfreiwilliges Opfer, ein Herz, das mit Gewalt entrissen wurde, stellte eine Oase in der Dürre dar. Befriedigte die Gier des Fluches bis zum nächsten Vollmond.
Das war schon immer gewesen, was Casiopaia vom Rest der McQueens unterschied: Sie war bereit, alles zu tun, um dem Fluch eine Freundin zu sein. Sie sah ihn nicht als Feind, sondern als Verbündeten. Speiste ihn nicht mit mickrigen, freiwilligen Opfergaben, stattdessen nährte sie ihn mit dem, was er begehrte.
Deswegen war sie die Hexenkönigin, die dunkle Fee, Malefiz – die finstere Herrscherin der Schattenseite. Und niemand, schon gar nicht der Junge, der einst ihr Sohn gewesen war, würde etwas daran ändern.