12

JAX

ACHTUNDFÜNFZIG TAGE BIS ZUM BLUTMOND

U nd außerdem bin ich deine Großmutter.«

Dieser Satz schallte hundertfach in meinem Hirn umher, während ich im Schatten der oberen Ränge auf einem Sitz im Publikum saß. Etwa zehn Reihen vor mir saß eine Schar Auszubildender in grau-silberner Montur, allesamt vor Ehrfurcht wie erstarrt.

Declan hatte mir nach unserem Streit auf dem Weg hierher erklärt, dass die Herrin der Oper mit eiserner Hand unterrichtete. Was er mir jedoch verschwiegen hatte, war die familiäre Verbindung zu Harlow. Während ich verwirrt war, so war das nichts gegen die Emotionen, die sich auf dem Gesicht des Eisprinzen widerspiegelten: Erstaunen, Wut, Freude, Verzweiflung und eine Vielzahl anderer Gefühle tanzten ihren Reigen, während sein Körper zitterte.

»Müsstest du nicht tot sein, weil meine …« Harlow stöhnte genervt. »Wenn deine Tochter einen auf Horrorkönigin macht? Und wieso siehst du so jung aus?«

Die Herrin der Oper hob ihre linke Braue und den Mundwinkel. Für einen Moment musterte sie ihren Enkel amüsiert, während im Zuschauerraum die Studierenden tuschelten. Der Respekt und die Angst, die sie vor ihrer Direktorin hatten, hingen schwer in der Luft.

»Möchtest du diese Fragen vor«, sie wedelte flüchtig mit ihrer Hand zu den Sitzreihen, »all den anderen Anwesenden klären?«

Harlow drehte sich nicht um, hatte die Schultern gestrafft. »Klar, wieso nicht? Soweit ich das verstehe, hasst mich eh jede Hexe hier, weil ich von Casiopaia abstamme. Also?«

»Du irrst dich«, antwortete seine Großmutter sanft, was im Kontrast zu ihrer zuvor resoluten Art stand. Dann schwieg sie und sah Harlow liebevoll an. Ihr Blick verklärte sich für einen Moment.

»Ähm, kommt da noch eine Erklärung?«, fragte er nach einer Minute des Starrens.

Die Herrin der Oper räusperte sich und stimmte ein knappes, ehrliches Lachen an. Es klang voll und melodiös, und ich wusste, ohne sie je singen gehört zu haben, dass ihre Cantos atemberaubend sein mussten.

Drei Reihen vor mir hörte ich einen Studenten flüstern: »Die Schreckschraube kann lachen?«

Miss McQueen drehte in Zeitlupe ihren Kopf zu dem Kerl und fixierte ihn eindringlich. Selbst ich, der nicht Empfänger dieses Todesstarrens war, drückte mich tiefer in meinen Sitz. »Ich kann ebenso erstaunlich gut hören, Mister Peters-Dubois. Und lachen – zum Beispiel bei Ihren äußerst kläglichen Prüfungsergebnissen. Besonders wenn man bedenkt, dass Sie zur Hälfte Dubois sind.«

»Autsch! In. Dein. Gesicht!«, feixte seine Sitznachbarin.

»Miss Rinaldi, darf ich Sie daran erinnern, dass Sie eine direkte Nachfahrin einer der Gründerfamilien Sydneys sind und diesen Kurs –für Anfänger, wie ich betonen möchte – zum zweiten Mal belegen, nachdem Sie letztes Semester mit Glanz und Gloria durchgefallen sind? Trotz der lachhaften Drohungen Ihrer werten Mutter mir gegenüber.«

Nun weiß ich, was Declan mit eiserner Hand meinte! , dachte ich.

Zudem wusste ich direkt zu schätzen, dass meine Ausbildung nicht in der Oper stattfand. Vielleicht sollte ich dem Gargoyle danken, dass er mich lautstark dazu gezwungen hatte, ein Reaper zu werden.

»Hast du deine Studierenden genug daran erinnert, dass sie mehr lernen sollen?« Harlows Stimme schnitt eisig durch den Raum. Erneut zogen einige Studierende scharf die Luft ein. Offensichtlich war niemand daran gewöhnt, jemanden so zu der Herrin der Oper sprechen zu hören. Aber da würden sie mit dem Eisprinzen noch weitere Überraschungen erleben – selbst wenn ich ihn ein wenig für seinen Mut bewunderte.

Heimlich bewunderte.

Superheimlich.

Denn zugeben würde ich das nie.

»Los, sing. Ich bin gespannt.« Die Herrin der Oper bedeutete ihm mit einem Winken der Hand, zu beginnen.

Mit der üblichen Leichtigkeit stimmte er alle Töne an, ließ sie wie kleine Kunstwerke über seine Lippen tanzen und formte damit Gemälde aus Musik unter der Decke. Seine Stimme wechselte zwischen hohen und tiefen Noten, sang sie in dem einen Moment geschmeidig, nur um dann in eine komplizierte Abfolge von kurzen Noten mit Oktavsprüngen zu wechseln. Es war, als könnte ich einem Genie bei der Arbeit zusehen. Als wären diese Gesangskünste nicht schon beeindruckend genug, verwob er seine Magie mühelos mit den einzelnen Tönen. Goldene Partikel verließen seinen Mund, wirbelten umher und tauchten den Raum in ein Feuerwerk aus Licht.

»Verdammt, der Knirps kann ja wirklich singen«, hörte ich Declan neben mir knurren. Nicht abfällig wie in der Lichtwelt beim ersten Treffen, sondern voller Ehrfurcht und Respekt.

»Warte kurz«, antwortete ich, da mir bewusst war, was gleich kommen würde. Immerhin hatte ich den Eisprinzen die Familienhymne mehrfach an der St. Andrew singen gehört.

»Was meinst …« Weiter kam Declan nicht, bevor sich sein Mund weit öffnete. Genau in dem Moment, als Harlow eine zusätzliche Melodie anstimmte und zweistimmig sang.

Allein. Zweistimmig.

Gleichzeitig.

Sogar heute bestaunte ich dieses Talent. Nie zuvor hatte ich jemanden erlebt, der diese Gesangstechnik beherrschte, wie Harlow es tat. Ich verstand auch jetzt nicht, wie so etwas überhaupt möglich war – und doch gelang es ihm derart mühelos, dass ich mich fragte, ob der Gesang nicht doch vom Tonband kam.

Ohne Frage stand einer der begnadetsten Sänger vor uns, den die Hexenwelt besaß. Obwohl ich meine Probleme mit seiner Art hatte, erkannte ich das neidlos an.

Harlow McQueen war ein absoluter Virtuose, wenn es zum Singen von Belcantos kam, und jeglichen Respekt, der in diesem Moment über die Gesichter der Anwesenden, selbst der Herrin der Oper, spielte, hatte er verdient.

Als er endete, lag der Raum in absoluter Stille. Gefroren in der Zeit – nicht einmal zu atmen schien jemand zu wagen. Die Anwesenden sahen mit offenen Mündern und geweiteten Augen zwischen Harlow und seiner Großmutter hin und her.

»Hmm, ganz nett«, durchbrach Letztere die Stille, aber an ihren leicht erhobenen Mundwinkeln und dem Stolz in ihren Augen erkannte ich, dass sie ihn absichtlich reizte. Ihre Studierenden japsten erschrocken und sahen sich gegenseitig an.

Mit hochrotem Kopf und erhobenen Armen plusterte der Eisprinz seine Brust auf wie ein Gockel im Hahnenkampf.

»Ganz nett?«, fragte er gefährlich leise, während er sich wie in Zeitlupe zu ihr umdrehte. Mit Vorfreude im Bauch bereitete ich mich auf einen spektakulären Kampf um Leben und Tod zwischen den beiden McQueens vor. »Weißt du, was ganz nett ist?«

Ihre Blicke trafen sich wie Laserstrahlen, und ich rieb mir die Hände.

»Dein spießiges Oberteil ist ganz nett , wenn man bedenkt, dass du vermutlich seit der Erfindung des Feuers hier dein Unwesen treibst und mit Dinosauriern gespielt hast. Ein Stück warmer Apfelkuchen wäre jetzt ganz nett . Die Leistung deiner Lemminge dort unten ist mit viel Fantasie ganz nett . Aber das gerade? Unsere Familienhymne? Von mir gesungen? Das war nicht ganz nett . Das war brillant , du alte Schleiereule!«

Ich seufzte zufrieden, Declan verschluckte sich an seiner Spucke, und ja, ein paar der Studierenden wimmerten vor Schreck. Das gestaltete sich viel lustiger als erwartet. Bester Tag meines Lebens!

»Niemand hat je so mit ihr geredet«, wisperte Declan. »Ist der Goldjunge lebensmüde?«

»Und du hast vorhin mich bockig genannt«, antwortete ich selbstgefällig.

»Ganz ehrlich? Gerade bin ich äußerst dankbar, dass ich dich ausbilden muss und nicht ihn.« Der Gargoyle lächelte mir zu und spähte wieder zur Bühne. »Glaubst du, sie tötet ihn jetzt?«

»Keine falschen Hoffnungen, so viel Glück haben wir nicht. Harlow ist wie eine Kakerlake, der überlebt das.«

»Fünfzig Dollar auf die Herrin der Oper.« Declan entblößte seine perfekt gemeißelten Zähne und streckte mir die rechte Hand hin. Der plötzliche Schalk in seinen Augen sagte mir, dass ich diesen Kerl vielleicht doch mochte.

Siegessicher schlug ich ein und biss mir auf die Unterlippe. »Hundert auf Harlow, und einen freien Tag, wenn ich ihn möchte.«

»Deal!«, antwortete er lachend. »Du verlierst eh. Sie wird ihn jeden Augenblick mit einem Belcanto zerfetzen und seinen aufgerissenen Arsch zurück in die Lichtwelt feuern.«

Doch das tat sie nicht. Im Gegenteil. Sie lachte lauthals los, so sehr, dass Tränen ihre Wangen hinabliefen, und zog ihren Enkel in eine enge Umarmung. Mehrere Momente vergingen, in denen sie ihn auf die Stirn küsste und freudig anstrahlte, während Harlow so runde Augen bekam wie ein Goldfisch.

Verwirrt sah ich mich um – wo war die versteckte Kamera? Was geschah in diesem Moment?

»Ihr seid entlassen«, sagte Harlows Großmutter, nachdem sie von ihrem Enkel abließ. »Bereitet euch auf die nächste Stunde vor und versucht, wenigstens ansatzweise so brillant zu singen wie mein Enkel, ihr … Lemminge

»Habe ich gewonnen?«, flüsterte ich irritiert, ohne zu Declan zu sehen.

»Keine Ahnung, glaube ja.« Er räusperte sich. »Was passiert da gerade?«

»Ich habe nicht den blassesten Schimmer.«

* * *

Declan und ich saßen weitere zwanzig Minuten in den Zuschauerrängen des Opernsaals, nachdem alle Studierenden die Flucht angetreten hatten. Eine jede Person schneller als die nächste – hatte echt nur gefehlt, dass sie einander aus dem Weg schubsten.

Mein Blick schweifte zur Bühne, und ich versuchte, an etwas Normales zu denken. Weder an die Schattenseite, mein neues Leben oder was auf mich zukam noch an meine Ausbildung zum Reaper – einer verdammten Nahkampfhexe mit Sense – oder wie wir nicht nur Ruby befreien, sondern Harlow dafür zur Hexenkönigin werden müsste. Ach, und schon gar nicht wollte ich an Harlow denken, seinen Gesang oder die merkwürdigen Gefühle, die immer lauter um Gehör bettelten. Drei Jahre hatte ich sie erfolgreich ignoriert, da sollten ein paar weitere kein Problem sein.

Und doch schaffte ich es nicht, mich abzulenken, die neuen Eindrücke waren einfach zu präsent, zu real – zu sehr mein jetziges Leben, ob ich wollte oder nicht.

»Oh, sie kommen«, sagte Declan alarmiert.

Ich blinzelte und drehte den Kopf. Harlow trottete mit in Falten gelegter Stirn der Herrin der Oper und Teagan hinterher. Sie hielten neben uns an.

»Declan, schön, dich zu sehen!«, sagte Harlows Großmutter.

»Es ist mir ebenso eine Freude, Miss McQueen«, sagte er ehrfürchtig. Er sprang auf, verbeugte sich und lächelte sie höflich an.

Wo war der harte Kerl denn hin, der mich im Reapers Den wüst angeschrien hatte? Wann hatte dieser Gentleman ihn ersetzt?

»Wie oft habe ich dir gesagt, dass du mich beim Vornamen nennen sollst, junger Mann?«

Ein roter Glanz legte sich auf Declans Wangen und Nacken. »Ich habe aufgehört zu zählen. Dennoch werde ich es weiterhin dankbar ablehnen. Immerhin hatte ich die Ehre, von Ihnen und Ihrer Blutgabe zum Leben erweckt zu werden.«

Harlows Großmutter verzog das Gesicht. Nur einen winzigen Augenblick, dann legte sich die perfekte Maske aus Höflichkeit erneut über ihre Züge.

Ganz wie bei ihrem Enkel.

»Erweckt?«, fragte Harlow. »Warte, die Gargoyles leben dank der McQueens?«

»Und sie wurden von den Ingrams aus Stein, Knochen und Blut erschaffen «, bestätigte Declan mit einem flüchtigen Seitenblick zu mir.

Auch ich erhob mich, allerdings so schnell, dass mir schwindelig wurde. »Was?«

»Deine Mutter selbst hat meinen Körper erschaffen, und Miss McQueen hat mir danach das Leben eingehaucht.«

In Harlows Gesicht spiegelten sich meine Emotionen. Verwirrung, gefolgt von Erkenntnis bis zu Erstaunen.

»Ich wusste nicht, dass unsere Blutgaben so mächtig sind«, sagte Harlow.

»Wusste bis vorgestern nicht mal, dass ich sie besitze, das heißt, ich gewinne«, fügte ich trocken hinzu.

Harlow rollte mit den Augen. »Okay, du hast diesen nicht existenten Wettkampf offiziell gewonnen. Yay! Herzlichen Glückwunsch!«

»Es gibt vieles, was ihr nicht wisst, meine Lieben«, sagte die Herrin der Oper. Ihr Blick lag auf mir, ohne dass ich die Emotionen darin deuten konnte. »Schön, dich kennenzulernen, Jax Ingram. Harlow hat gerade viel von dir geredet.«

»Er hat was?«

»Ich habe was?« Er sah sie schockiert an. »Wir haben uns nicht mal fünfzehn Minuten unterhalten, und ich habe dich nur auf den neuesten Stand gebracht!«

»Na ja«, säuselte sie und legte den Kopf schräg. »Bei allen Geschehnissen, die du mir erzählt hast, war der junge Ingram doch anwesend, oder?«

»Ja, aber –«

»Keine weiteren Fragen«, unterbrach sie ihn fröhlich.

»Wer ist sie? Judge Judy?«, brummte Harlow kaum vernehmbar.

»Folgt mir bitte, ich möchte euch etwas zeigen. Es beantwortet ebenso die Fragen nach deiner Ausbildung, mein Liebling.« Ohne auf uns zu warten, lief sie erhabenen Schrittes los.

»Ich bin dann wieder im Den «, sagte Declan. »Benimm dich, Mini-Ingram, und mach den Reapern keine Schande.« Nach einem Zwinkern eilte er davon.

Harlow, Teagan und ich folgten der Herrin der Oper schweigend zu einem Fahrstuhl im hinteren Teil der Eingangshalle. Statt eines Knopfes zum Rufen des Lifts prangte ein Scanner an der Wand. Harlows Großmutter legte eine Hand darauf und ich roch ihre blumige Magie, durchzogen von Ozon und Sommer. Nur einen Wimpernschlag später ertönte eine weibliche, leicht blecherne Stimme: »Miss McQueen. Herrin der Oper. Sicherheitsfreigabe: Level 5. Zugang gewährt.«

Die Worte waren kaum verklungen, da glitten die goldenen Türen zum Fahrstuhl mit einem leisen Zischen auf. Das Innere der Kabine war, entgegen meiner Erwartung einer sterilen Metallkammer, in ein gemütliches, warmes Licht getaucht. Die Wände waren aus dunklem Holz getäfelt, ein feiner Marmorboden und goldene Verzierungen gaben dem Aufzug einen Hauch von einem elitären Clubzimmer und weniger die Optik eines Beförderungsmittels.

Weiterhin in Schweigen gehüllt traten wir ein. Der Fahrstuhl war groß genug für uns alle. Teagan lehnte an der mir gegenüberliegenden Wand und warf mir einen eindringlichen Blick zu.

Schnell drehte ich den Kopf.

War es Sorge in ihren Augen? Eine Warnung? Oder eine stille Bitte? Ich wusste es nicht, wurde aus Harlows Leibwächterin nicht schlau. In einem Moment offenbarte sie ihre resolute, dominante Seite und dann wieder ihre liebevolle, besorgte Art. Fest stand: Für sie war der Schutz des Eisprinzen mehr als nur ein Job. Sie liebte ihn wie ein Familienmitglied und würde ihr Leben für ihn geben.

Im Aufzug gab es keine klassische Schalttafel, sondern lediglich zwei Knöpfe aus Gold und mit Smaragden bestückt.

Bibliothek der Ahnen, stand rechts von einem der beiden Knöpfe. Neben dem anderen las ich etwas in einer mir unbekannten Sprache.

»Firbot Chamara «, flüsterte Harlow in der geheimnisvollen Sprache. »Verbotene Kammer «, wiederholte er in Englisch.

Seine Großmutter zog eine Braue in die Höhe und musterte ihn gefällig. »Angelina hat dir Althochdeutsch beigebracht?« Anerkennung und Erstaunen schwangen zu gleichen Teilen in ihrer Stimme mit.

»Seit ich fünf war, ja. Sowie Französisch, Deutsch, Latein und Spanisch.« Er nickte knapp und mied Augenkontakt mit ihr. Mich hingegen betrachtete er flüchtig.

Die aufkeimende Stille war für mich kaum zu ertragen, ebenso wenig wie die Gefühle, die in meinem Magen für einen Kerl tobten, den ich drei Jahre versucht hatte zu verabscheuen. Also tat ich, was ich immer tat, und stichelte.

»Sieh an, nicht auch noch Arabisch? Oder Japanisch? Wie ist es mit Portugiesisch? Reich müsste man sein und seinen Tag mit dem Lernen von Sprachen statt mit Arbeit zu verbringen.«

»Nur Grundzüge von Aramäisch, Russisch und Koreanisch, wenn du so fragst. Wollte aber nicht unnötig angeben«, antwortete Harlow, zog den linken Mundwinkel in die Höhe und sah mich herausfordernd an. »Die zuvor von mir erwähnten Sprachen spreche ich fließend, diese drei nur gebrochen.« Dann sah er mir direkt in die Augen, die Brauen gehoben und den Kopf schief gelegt. »Falls du es vergessen hast: Auf dieser Seite der Realität bist du der Reiche von uns beiden. Mich hingegen hassen alle.«

Ein Moment der Stille legte sich über uns. Granny McQueen biss sich auf die Unterlippe, als würde sie ein Lachen unterdrücken.

»Und Jax?«, fragte Harlow herausfordernd wie ein Staatsanwalt bei seinem Plädoyer. Was mich nicht wunderte. Er hatte das letzte Jahrzehnt in einem Haus mit der Präsidentin Australiens gelebt und war dadurch absolut firm in politischer Rhetorik. »Die Sprachen, die ich lernte, waren harte Arbeit. Zum einen war das Erlernen anstrengend und zum anderen wurde ich wie ein dressiertes Äffchen von einem Staatsempfang zum nächsten geschleppt, während ihr eine echte Jugend, Freunde und Freiheit hattet.«

Autsch! Verdammter Mist, wieso treffen mich seine Worte immer noch so?

»Soll ich euch allein lassen? Wollt ihr kurz rummachen und euch abreagieren?«

Während Harlow seine Großmutter nach Luft ringend anblinzelte, verschluckte ich mich an meiner Spucke bei ihren Worten.

»Rummachen? Wo kommt das denn jetzt auf einmal her? Mit deinen Studierenden hast du nicht so geredet.«

»Ach Harlow-Schatz, die meisten meiner Studierenden sind elitäre Arschkrampen.«

Harlow sah seine Großmutter fassungslos an.

»Was denn? Sagt ihr jungen Leute das nicht so? Eher Lauch? Wichser?« Sie legte die Stirn in Falten. »Motherfucker? Bei diesen modernen Schimpfwörtern komme ich manchmal nicht mehr mit.«

Ich unterdrückte ein Lachen und formte mit meinen Lippen still, an Harlow gewandt, die Frage: »Motherfucker, wirklich?«

Er schüttelte nur den Kopf.

»Könntest du bitte nicht weiterreden?«, presste er hervor.

»Mein Enkel ist prüde, verstehe.«

Ich konnte mir das Lachen nicht mehr verkneifen, was ein Todesstarren des Eisprinzen sowie ein Zwinkern von Granny McQueen zur Folge hatte und mich nur lauter johlen ließ.

* * *

Die Türen des Lifts öffnete sich mit einem Ping, und eine Frauenstimme verkündete: »Drittes Kellergeschoss. Ahnentafel und Artefaktkammer. Zutritt nur mit Erlaubnis der Familie McQueen.«

Schweigend, aber weiterhin grinsend verließ ich hinter den anderen den Aufzug. Nach ein paar Metern hielt die Herrin der Oper inne und drehte sich um. Ihr Blick verweilte auf mir. Nur kurz, aber für mich war es eine Ewigkeit. So als würde sie mich durchleuchten und all meine Geheimnisse mit nur diesem einen Blick offenbaren. Ihre Macht strömte aus jeder Pore. Vor mir stand die mit Abstand mächtigste Hexe, die ich bisher in meinem jungen Leben zu sehen bekommen hatte.

»Hinter diese Linie können nur McQueens treten«, sagte sie mit glasklarer Stimme und deutete auf ein goldenes Muster, das sich vom Boden über die Wände bis hin zur Decke rankte. Wie Äste verzweigte es sich und bewegte sich langsam in einem unsichtbaren Wind. »Und jene, die von uns gezeichnet werden.«

Ihr Blick wanderte zu Harlow. Unsicher sah er seine Großmutter an, verstand offenbar genauso wenig wie ich. Die Herrin der Oper seufzte und schloss die Augen. Sie atmete einmal scharf ein und aus, öffnete die Lider und legte ihre Hand an die Wangen ihres Enkels.

»Ihr seid ohnehin verbunden durch den Foedus Fidei . Das heißt, tief im Inneren vertraut ihr euch, selbst wenn ihr es nicht zugeben mögt. Und das, obwohl eure Gefühle füreinander so offensichtlich sind, dass es schon schmerzt zu sehen, wie ignorant ihr seid.« Ein vages Lächeln umspielte ihre Mundwinkel und erreichte sogar ihre Augen.

»Welche Gefühle?« Harlow wich einen Schritt zurück.

»Selbst eine dreihundert Jahre alte Hexe checkt es schneller als die beiden Pfosten. Unglaublich«, flüsterte Teagan neben mir.

»Nicht erschrecken«, sagte Miss McQueen. Sie legte ihre Hand an meine Stirn, und ihre Magie schwappte über mich wie ein warmer Sommertag. »Nun kannst du eintreten.«

Sie lief zu einer großen Tür aus dunklem Metall, besetzt mit goldenen Ornamenten, wir anderen folgten. Langsam öffnete sie die Tür. Ein schummriges Orange erhellte den Raum in einem Zwielicht und kroch behäbig zu uns. Der Geruch unterschiedlicher Blumen hing wie eine Wolkendecke in der Luft, gemischt mit dem von Bäumen und Ozon – schwer und satt. Pure Magie, die wie unsichtbare Wellen durch den Raum brandeten und meinen Körper umspülten. Als Harlow und ich nicht direkt folgten, drehte sie sich mit einem fragenden Blick zu uns. »Kommt ihr?«

»Na los, ich warte hier auf euch«, stimmte Teagan zu.

»Was ist das?«, fragte Harlow, den Blick auf eine riesige Steintafel gerichtet. Gut drei Meter hoch und fünf Meter breit, stand sie mitten im Raum. Ein Lichtspot fiel auf sie und beleuchtete die Oberfläche.

»Das ist die Ahnentafel der Hexen.« Miss McQueen trat näher an sie heran, summte eine kurze Melodie und unzählige Worte erstrahlten in goldenen Lettern. »Hier seht ihr die Stammbäume der dreizehn alten Blutlinien.«

An oberster Stelle erspähte ich nur ein verschwommenes Rauschen, die Buchstaben wechselten sich unablässig ab, sodass es unmöglich war, sie zu entziffern. Die Worte darunter konnte ich jedoch klar lesen.

Neben McQueen stand der Name Ingram , unterhalb dessen Gunnar , Angelina, und wie ein dunkles Omen Casiopaia . Etwas weiter unten erblickte ich Harlows und meinen Namen in der jeweiligen Ahnenreihe.

»Zwölf ehemalige Menschen, zwölf Unschuldige, zwölf Verurteilungen im Namen der Kirche. Wir waren die ersten Hexen, die diese Welt gesehen hat, meine Lieben«, sagte Granny McQueen und zeigte auf die obersten Namen jeder Blutlinie. »Deswegen nennt man unsere Blutlinien die Erben von Salem , da wir dort vor dreihundert Jahren erschaffen wurden.«

Tatsächlich stand ein Spruch in den Stein gemeißelt, der das bestätigte:

Geboren als Mensch, durch Menschenleib.

Gestorben als Mensch, durch Menschenhand.

Auferstanden als Hexe, durch Tränen des Lichts.

Die Erben von Salem.

»Das Hexenblut der dreizehn alten Blutlinien ist am stärksten, weil es pur ist«, sagte Granny McQueen. »Mittlerweile gibt es zwar unzählige Coven und Familien, doch deren Blut ist durch die Vereinigung mit Menschen sowie anderen Wesen schwächer geworden. Auch sie sind Hexen, jedoch keine Erben Salems mehr.« Sie sagte es nicht abfällig – nicht so, als würde nur reines Blut zählen. Nein, es schwang keinerlei Wertung in ihren Worten mit, nur Fakten. »Wir alten Linien sind das Fundament und die Säulen der Hexengemeinschaft. Mit uns steht oder fällt das Wohl aller.«

Harlow verengte die Augen und sah angestrengt auf die leuchtende Tafel. »Du sagtest dreizehn?«

Die Mundwinkel der Herrin der Oper wanderten in die Höhe. »So ist es.«

»Aber dort stehen nur zwölf Namen und darüber ein Gewirr aus Buchstaben.«

»In der Tat.« Sie legte ihrem Enkel eine Hand auf die Schulter. »Der letzte Name wird sich noch enthüllen.«

»O-kay«, entfuhr es mir. Ein weiteres Geheimnis, über das ich mir keine Gedanken machen wollte. Zum Glück entdeckte Harlow in diesem Moment eine andere Ungereimtheit.

»Neben deinem Namen …« Sein Atem stockte. Mein Blick wanderte zu besagter Stelle. Ein kleines Kreuz und ein Todesdatum war neben dem Namen Constance McQueen abgebildet. Neben dem Datum vibrierte die Luft in einem leichten Rotton, einem Hitzeflimmern ähnlich. Verwirrt legte ich die Stirn in Falten, während Harlow neben mir zitterte.

»Du bist tot«, hauchte er.

»Und doch stehe ich hier, kann dich berühren und mit dir reden«, antwortete sie ihm sanft. Beide sahen sich schweigend an. Trauer, Reue und Liebe tanzten über ihre Gesichter.

Obwohl ich mich wie ein Eindringling in diesem intimen Moment fühlte, siegte meine Neugier und ich fragte: »Wie ist das möglich?«

»Wir sind Hexen, junger Ingram.« Granny McQueen drehte sich zu mir, blasse Lachfalten legten sich um ihre Lippen, während sie mich mit smaragdgrünen Augen eindringlich betrachtete. »In unserer Welt ist sehr vieles möglich.«

»Das erklärt, wieso du nicht die Hexenkönigin bist«, fügte Harlow heiser hinzu. Er sah zu der flimmernden Stelle und dem Todesdatum.

»So ist es. Ich war es fast zweihundert Jahre, doch dann wurde Casiopaia zunehmend zur Gefahr.«

»Hat sie dich getötet?« Mit traurig blickenden Augen musterte Harlow seine Großmutter.

»Meinen einstigen Körper? Ja.« Granny McQueen legte eine Hand an seine Wange und seufzte leise. Harlows Blick lag weiterhin auf der Ahnenwand. Ich fragte mich, ob er das Flimmern ebenso wahrnahm, da hörte ich eine Stimme hinter uns.

»Die beiden sehen es, meine Liebste«, erklang es melodiös und tief vom Eingang der Kammer.

Wir drehten uns um. Eine elegante ältere Hexe kam auf uns zu. Ihre Macht erfasste den Raum und stand der von Granny McQueen in nichts nach. Der Geruch von aufgewühlter Erde mischte sich mit dem von Blauregenblüten und frischem Moos. Ein Geruch, den ich bis dato an keiner Familie vernommen hatte.

»Oh, und sie riechen es.« Anerkennend nickte sie mir zu. Ihr Blick aus braunen Augen lag kurz auf mir, dann schritt sie elegant zu Granny McQueen und nahm vorsichtig ihre Hand in die eigene. Während Harlows Großmutter blasse, weiße Haut besaß, strahlte die der mir unbekannten Hexe in einem tiefen Dunkelbraun. Ihre Finger, mit teuren Ringen bestückt, verwob sie mit denen von Miss McQueen.

Oh.

Oh!

»Was ist so besonders daran, dass ich die Magie rieche?«, entfuhr es mir leise.

»Diese Fähigkeit ist im Laufe der Generationen verloren gegangen. Es gibt nur noch wenige unter uns, die es beherrschen.«

Ich weitete die Augen. Auch Harlow sah verwirrt drein. Für ihn schien es ebenfalls normal zu sein, Magie zu riechen. Und dennoch stellte es erneut etwas dar, was uns verheimlicht worden war.

»Mit jeder Geburt wird das einstige Hexenblut selbst bei uns Erben von Salem dünner.« Die elegante Hexe legte den Kopf schief. »Je dichter eine von uns an der Erstgeborenen im Stammbaum steht, umso stärker ist die Magie in unserem Blut. Und so ist zum Beispiel das Riechen der Magie bei vielen verloren gegangen.« Sie hielt inne, ehe sie erneut sprach: »Ich bin übrigens Madame Fleur Albertine Suzette LeBlanc. Und wie ich euren Gesichtern ansehe, hat man euch einiges vorenthalten.«

Ich schnaubte abfällig. »Das kannst du laut sagen!« Als ich bemerkte, wie unhöflich ich die ältere Hexe angesprochen hatte, verzog ich das Gesicht.

»Schon gut«, entgegnete sie lachend. »Ich lege keinen Wert auf Floskeln. Das Du ist völlig ausreichend, gewünscht sogar.« Ihr warmer Blick lag freundlich auf mir. Das Braun der Augen erinnerte mich an einen Tanz aus Herbstblättern, die sanft im Wind dahinglitten.

»Beachtlich, dass ihr das Flimmern seht«, sagte Harlows Großmutter, und wir nickten beide brav. »Es sollte mich nicht erstaunen, dennoch ist es faszinierend.«

Madame LeBlanc summte eine kehlige Melodie und Granny McQueen stimmte ein. Einen Wimpernschlag später erschienen rote Runen um das Todesdatum.

»Ein Fluch!« Harlow schreckte zurück. Ich hingegen starrte nur entsetzt auf die Schriftzeichen, die langsam vor sich hin pulsierten.

»In der Tat«, antwortete Madame LeBlanc.

»Ein Fluch, den Albertine und ich zusammen gesungen haben, um mich für immer an die Oper zu binden, als ich starb.«

Voller Entsetzen flog Harlows Blick zwischen den beiden Frauen hin und her. »Diese Art der Magie ist verboten!«

»Nicht auf dieser Seite der Realität, mein Lieber«, sagte Granny McQueen. »Über Flüche wurdet ihr ebenso belogen.«

»Ohne diesen Fluch wäre Constance nicht mehr bei mir«, raunte Albertine. »Und ich war nicht bereit, sie sterben zu lassen. Ich hatte Jahrzehnte gewartet, dass wir zusammen sein konnten – und dann kam Casiopaia und versuchte mir alles zu nehmen.« Albertines zuvor warme Stimme klang nun finster und eisig.

»Was bist du?«, fragte Harlow an seine Großmutter gewandt. »Ein Geist?«

»Nein, kein Geist im klassischen Sinn. Ein Echo trifft es vermutlich am besten. Ich lebe weiterhin in der Oper, habe einen Körper und alle Vorteile dessen. Doch bin ich an diesen Ort und die unmittelbare Umgebung bis hin zum Reapers Den gebunden. Gehe ich über den Bereich hinaus … dann ereilt mich der endgültige Tod.«

»Dazu solltet ihr wissen, dass wir LeBlancs zu den Erben Salems gehören. Unsere Gabe ist die der Nekromantie und der Kommunikation mit Geistern. Nur das ermöglichte uns, diesen Fluch zu singen.«

Harlow schüttelte langsam den Kopf. »Angelina sagte, sie habe einen Vater. Hat sie gelogen?«

»Nein, das stimmt.« Seine Großmutter nahm sein Gesicht zwischen ihre Hände. »Ich habe deinen Großvater geliebt, doch er war krank. Wir lebten viele Jahre glücklich miteinander, bevor er starb. In der Zeit hatten Albertine und ich uns aus den Augen verloren – nachdem wir zu Hexen wurden.«

»Ihr wurdet zu Hexen?«, fragte Harlow.

»Das wirst du alles noch lernen. Hab Geduld.«

Er nickte zögerlich. »Das heißt, ihr kanntet euch beide schon früher?«

»Oh, wir sind quasi zusammen aufgewachsen«, antwortete Albertine.

»So würde ich das nicht nennen«, fügte Granny McQueen bitter hinzu, während ein Schatten über ihr Gesicht huschte. »Ich war die Tochter des Pfarrers von Salem. 1692. Und die Familie LeBlanc war unsere …« Harlows Großmutter sah aus, als müsste sie sich übergeben.

Und da begriff ich.

Oh! Oh, verdammt!

»Sklaven«, führte Albertine den Satz zu Ende, tätschelte dabei Granny McQueens Hand. »Es war nicht deine Entscheidung.«

»Dennoch«, gab Harlows Großmutter leise von sich. »Ein weiteres Kapitel der menschlichen Geschichte, das offenbart, wozu die normalen Menschen fähig sind. An manchen Tagen verstehe ich den Wald und seinen Hass auf sie nahezu.« Ihre Worte waren kaum verklungen, da weitete sie die Augen und schüttelte den Kopf. »So fing es ebenfalls bei Casiopaia an. So was sollte ich nicht einmal denken, schon gar nicht aussprechen. Entschuldigt.«

»Hass, Zorn und das Verlangen nach Rache vergifteten den Geist. Wir können die Geschichte nicht ändern, nur die Zukunft verbessern.« Albertine hob Miss McQueens Hand und küsste sie liebevoll.

»So ist es – und das versuchen wir hier seit Jahren.« Seine Großmutter wandte sich erneut an Harlow. »Deswegen wirst du in der Oper in die Lehre gehen. Während der junge Ingram ein Reaper wird, ist es deine Aufgabe, zum Fluchweber zu werden.«

»Zum was?« Er schreckte zurück, seine Augen weiteten sich beinahe komisch. »Ich soll Flüche lernen und sie benutzen? Gegen den Wald? Gegen Casiopaia?«

»So ist es«, antwortete sie ihm. »Und deine Freunde wirst du ebenfalls verfluchen.«

Ich blinzelte, wartete darauf, dass seine Großmutter lachte. Doch die Herrin der Oper stand zu ihren Worten – und sie hingen wie ein Unwetter in der Luft.

»Ist dir dein Tod zu Kopf gestiegen?«, fragte Harlow, während er einen Hilfe suchenden Blick zu Albertine warf. Diese lächelte ihm nur zu und blinzelte.