D ie rote Sonne schien heiß auf mich herab und die Strahlen tanzten auf meiner Haut. Zwar wirkte es selbst zur Mittagszeit, als würde es dämmern, doch ich wusste zum Glück, wie wichtig Sonnenschutz in Sydney war. Vor allem mittags. Ein Sonnenbrand war im Moment das Letzte, was ich brauchte. Ich war mir mehr als sicher, dass Phoebe und Declan mich gnadenlos damit aufziehen und beim Training der ein oder andere Schlag genau auf die geröteten Stellen treffen würde. Nein danke, die Genugtuung gönnte ich ihnen nicht direkt an meinem ersten offiziellen Tag der Ausbildung. Im Besonderen nicht, nachdem ich gestern einen Clown aus mir gemacht hatte. Zuerst die Niederlagen gegen Harlow und dann der lautstarke Streit mit Declan. Auf eine weitere peinliche Aktion verzichtete ich.
Das Wasser des Pools kräuselte sich leicht im Wind, der über die Terrasse des Anwesens dahinglitt. Ein feuriges Farbenspiel brach sich in der Oberfläche und färbte das kühle Nass in ein Becken roten Blutes. Jedenfalls wirkte es so, was auch der Grund war, weshalb ich mit Badehose bekleidet auf einer Liege lag, statt im Wasser zu entspannen. Natürlich wusste ich, dass es nur an den Lichtverhältnissen hier auf der Schattenseite lag, dennoch fiel es mir schwer, den Gedanken abzulegen, dass es wie ein Pool voller Blut aussah. Daran würde ich mich allerdings langsam gewöhnen müssen, denn Schatten-Sydney war meine neue Heimat.
Schritte erklangen auf dem hellen Marmorboden, und ich löste meinen Blick vom Wasser. Als ich sah, wer sich mir bedächtig näherte, zuckte ich zusammen. Meine Nackenhaare stellten sich auf und alle meine Reflexe wechselten in Abwehrhaltung. Oliver King, der hatte mir gerade noch gefehlt.
Mit gesenktem Kopf kam er vor mir zum Stehen. Langsam hob er den Blick und sah mich mit verzerrten Mundwinkeln an.
»Können wir kurz reden?« Die übliche Arroganz und die Härte fehlten in seiner Stimme, sie wirkte verletzlich. Ein Bild, das absolut nicht zu meinem Halbbruder passte.
»Wow. Es spricht«, antwortete ich desinteressiert.
»Jax, ich … Bitte?«, fragte er leise. »Es dauert nicht lange, und danach kannst du mich … zu Recht … weiter hassen.«
Ich deutete mit einem Grunzen auf die Liege neben mir. Oliver setzte sich und atmete tief durch. Eine Minute verging schweigend.
»Wenn du mit mir sprechen willst, solltest du Worte nutzen. Ein simples Prinzip – selbst für einen King. Oder gerade für einen King. Ihr hört euch doch so gern reden.«
»Fuck.« Oliver fuhr sich mit einer Hand übers Gesicht. »Das fällt mir schwer, Mann. Kann ich sprechen und du hörst erst einmal nur zu?«
Ich kniff die Augen zusammen. Der junge Mann vor mir hatte in diesem Moment nichts mehr mit dem Kerl gemein, mit dem ich mich drei Jahre nur gestritten und angefeindet hatte. Widerwillig nickte ich und er atmete erleichtert aus.
»Es … Tut mir leid. Mein Verhalten. Meine Sprüche. Alles davon«, setzte er mit geschlossenen Augen an. »Das Leben im Hause King war … bestenfalls schwierig.«
Auf meiner Zunge lagen Worte des Spottes, dass er ja keine Ahnung hatte, was schwierig überhaupt bedeutete. Dennoch schwieg ich. Zum einen hatte ich ihm das zugesichert und zum anderen wirkten seine Worte ehrlich. Ich war gespannt, wohin dieses Gespräch führte. Außerdem war ich die Anfeindungen satt. Meine Wut auf die Kings hatte die letzten Jahre zu viel Energie gekostet, und mein Tank der Wut leerte sich stetig.
»Mein Vater – unser Vater – Bruce ist nicht so, wie er vorgibt. Er ist ein Tyrann. Immer wenn Ma, Ruby oder ich nur die kleinsten Dinge nicht zu seiner Zufriedenheit erledigten, drohte er, uns zu verlassen. Zu euch zurückzugehen.«
»Was hat er getan?«, brach es aus mir hervor.
Oliver seufzte. »Er drohte, uns mittellos zurückzulassen. Vermutlich wären wir sogar aus dem Coven ausgeschlossen worden, da er dessen Oberste Hexe ist. Deswegen ertrugen wir alle Demütigungen und selbst körperliche Gewalt.«
»Shit, Oli.« Mitgefühl durchfuhr mich.
»Ich weiß, das ist eine lahme Entschuldigung, aber ich habe in der Vergangenheit all meine Wut auf dich projiziert. Den Sohn, zu dem unser Vater gehen wollte, wenn meine Ma, Ruby oder ich nicht gehorchten. Jeden verdammten Tag schrie er oder verspottete mich, dass du als covenlose Hexe der Zweitbeste an der St. Andrew warst. Was für ein Versager ich doch sei und dass er mich nach meiner Geburt wie eine lästig gewordene Katze hätte ertränken sollen.« Olivers Augen glänzten, seine Wangen waren rot und seine Stimme zitterte.
Mir fehlten die Worte. Damit hatte ich nicht gerechnet. In der Öffentlichkeit hatte Bruce King seinen Sohn immer wie eine Trophäe gezeigt und völlig überzeugend den stolzen Vater gemimt.
»Und ganz ehrlich? Ich war ein wenig neidisch«, sagte Oliver. »Ich weiß, Neid hat hässliche Gesichter und ist keine Entschuldigung. Aber der Neid nagte jeden Tag, jede Minute an mir, und Bruce fütterte ihn mit seiner Tyrannei.« Er lachte freudlos. »Du bist so begabt, was Cantos angeht, und ich habe nie verstanden, wieso du solch eine Macht ohne Coven beherrscht hast. Jetzt aber«, er wedelte mit den Armen und zeigte auf das Anwesen, »ist mir klar, woher die Stärke kommt. Du bist ein echter Ingram, ein direkter Nachfahre – natürlich besitzt du solche Macht.«
»Ich begreife das alles selbst nicht so recht.«
»Verständlich. Du bist von einem Extrem ins andere geschubst worden.« Oliver lächelte vage. »Was ich sagen will: Es tut mir ehrlich leid, dass ich so ein Arsch war. Vielleicht gibst du mir die Chance, dich als meinen Bruder kennenzulernen?«
Langsam holte ich Luft und ließ sie ohne Worte entweichen, zu überfordert war ich von der Situation.
»Alles gut, Jax. Ich verstehe, wenn du das nicht kannst, und bin dir dennoch unfassbar dankbar, dass du Ruby retten willst. Ich möchte nur, dass du weißt: Ich würde mich über einen Neuanfang freuen.« Langsam erhob sich Oliver. Seine ausgestreckte Hand ließ er unsicher in der Luft schweben. Dann klopfte er mir unbeholfen dreimal auf die Schulter und wandte sich zum Gehen.
Ich seufzte und fuhr mir durch das Haar. »Oli, warte. Ich würde meinen kleinen Bruder auch gern kennenlernen.« Die Worte meinte ich ehrlich, obwohl sie mir schwerfielen. Ich verstand, wieso er so gehandelt hatte, dennoch schmerzten seine Taten der Vergangenheit weiterhin. Es würde etwas Zeit brauchen, sich ihm zu nähern, aber die war ich mehr als bereit zu investieren.
»Klein? Ich bin größer als du«, sagte er und drehte sich schüchtern zu mir.
»Aber jünger, weshalb du der kleine Bruder bist«, antwortete ich grinsend.
»Zwei Monate und vier Tage.«
»Du weißt, wann ich Geburtstag habe?« Verwundert hob ich eine Augenbraue.
Oliver hustete und schüttelte den Kopf. »Hab vielleicht, man munkelt noch, Buch über dich geführt.«
Wir starrten uns einen Moment tief in die Augen. Das Zwitschern der Vögel im nahen Buschland hallte über das Anwesen, während wir beide nichts sagten. Dann lachten wir los. Laut und ehrlich. Es wirkte ungemein befreiend.
»Was zur Urmutter! Ihr lacht? Gemeinsam?« Harlow erschien im Durchgang zum Anwesen und musterte uns ernst. Er näherte sich rasch und summte eine Melodie. Goldene Funken verließen seinen Mund und tanzten um Oliver und mich. Ich spürte die Hitze von Harlows Magie auf meiner Haut, wärmer als die der Sonne. Vertraut, beruhigend und beinah wie eine Umarmung legte sie sich um mich. Meine Magie erwachte, forderte mich auf, sie zu nutzen, damit sie sich mit Harlows vereinte.
»Was machst du da?« Oli sah seinen besten Freund skeptisch an.
»Untersuchen, ob ein Fluch auf euch liegt. Ihr redet nicht miteinander, und gelacht habt ihr auch noch nie zusammen. Vielleicht hat die Hexenkönigin euch verzaubert.«
Kurz herrschte Stille, dann lachten Oliver und ich erneut los.
»Definitiv ein Fluch«, raunte Harlow, doch seine Magie zeigte nichts an und verpuffte.
»Wir haben geredet«, sagte Oliver.
»Geredet?«
»Ja geredet. Wie in: wir haben uns ausgesprochen.«
Harlow zeigte zwischen uns hin und her. »Ihr beide habt ein Gespräch geführt? Wie erwachsene Menschen, ohne Beleidigungen?«
»Sogar mit einer Entschuldigung von … von meinem kleinen Bruder«, presste ich hervor, und Oliver boxte mir gegen die Schulter.
Das Wort Bruder fühlte sich weiterhin falsch an. Ohne Frage waren wir nicht an dem Punkt angelangt, dass ich es unbeschwert sagen konnte, aber die Chance darauf wollte ich wenigstens nutzen.
»Deinem kleinen Bruder …«, wiederholte Harlow ungläubig. »Ich hole Gunnar. Ihr seid definitiv verflucht.« Er drehte sich um und eilte in das Anwesen.
»Das wird eine Weile dauern, bis wir es alle verstehen, oder?«, fragte ich Oliver.
»Ja, wird es«, antwortete er. »Aber danke dir für die Chance.«
* * *
Am Nachmittag stand ich erneut in dem Empfangsbereich des Reaper Den , nachdem mein gestriger erster Besuch relativ kurz und demütigend ausgefallen war.
»Pünktlich bist du ja«, begrüßte mich Phoebe, die am Empfangstresen lehnte. Sie spielte mit zwei kleinen, durch eine Metallkette verbundene Sicheln. Das dunkle Metall der Klingen stand im Kontrast zu Phoebes cremefarbenen Jumpsuit und ihren roten Stiefeln. Ihr silberner Schmuck an den Armen klimperte wie ein Windspiel. Aus dunkel geschminkten Augen musterte sie mich und zog dann die tiefroten Lippen zu einem Grinsen in die Höhe.
»Wollte meinen ersten Eindruck aufpolieren.« Ich zuckte mit den Schultern. Das wiederum entlockte meiner neuen Partnerin ein Lachen.
»Welchen? Den, dass dir der Goldjunge der Lichtwelt den Arsch verdroschen hat? Oder dass du gefühlt ewig mit Declan darüber gestritten hast, kein Reaper zu werden und nur klein beigegeben hast, als auch er dir den Arsch versohlt und mit deinem Onkel gedroht hat?«
»Ich klinge in beiden Versionen wie ein hilfloser Loser«, murmelte ich und kräuselte die Nase.
»Deswegen hast du ja mich und die Ausbildung. Im Nullkommanichts bist du so badass wie ich. Und wenn dich jemand Loser nennt, bekommen sie es mit mir zu tun.« Sie wackelte mit den Sicheln, wie um ihre Worte zu unterstreichen.
»Schließt das dein Ego mit ein? Bin mir nicht sicher, dass wir vier gemeinsam in einen Raum passen, wenn meins ebenfalls so einnehmend wird wie deins.«
Phoebe musterte mich mit zuckenden Mundwinkeln, dann nickte sie anerkennend. »Wir werden uns gut verstehen. Ich mag Sarkasmus und eine freche Art.«
»Davon habe ich in der Lichtwelt genug angehäuft.«
»Hörte ich.« Sie kam zu mir herüber und legte einen Arm um meine Schultern. Berührungsscheu war der weibliche Gargoyle jedenfalls nicht. Langsam zog sie mich mit sich zu den Aufzügen. Ein süßlicher Duft, durchzogen mit einer Note Minze stieg mir in die Nase. »Wie kommst du klar? Muss eine krasse Umstellung sein von einer Straßenhexe in der Lichtwelt zum Ingram-Erben auf der Schattenseite. Deine Familie gehört zu den einflussreichsten Hexenlinien weltweit. Und dann bist du auch noch Gunnars Neffe.«
»Na danke. Wird definitiv nicht besser, wenn mich alle ständig daran erinnern, wie wichtig meine Familie und ihre Ehre sind. Plus die Tatsache, dass jeder Fehler von mir unseren Ruf beschmutzen könnte. Easy peasy, kein Stress.«
Die Aufzugtür gab ein leises Ping von sich und fuhr auf. Zwei Reaper traten in ein Gespräch vertieft heraus. Phoebe grüßte beide und betrat daraufhin den leeren Aufzug. Ich folgte ihr, meinen Blick auf ihre Waffe gerichtet.
»Deine Sensen sind anders als die von Declan.«
Sie betätigte den Knopf für das zweite Kellergeschoss, neben dem Waffenkammer stand.
»Es gibt verschiedene Arten von Sensen. Es kommt auf den Kampfstil und dein Canto-Arsenal an. Da ich als Gargoyle keine Cantos beherrsche, wollte ich eine Möglichkeit für Nah- und Fernkampf haben. Deswegen meine beiden Schätze an der langen Kette. Funktionieren wie zwei Dolche oder wie eine Peitsche.«
»Ergibt Sinn. Dein Bruder kann ebenso keine Cantos nutzen, oder?«
»Stimmt, aber Declan ist einfach Declan. Unsere Gargoyleversion deines Goldjungen. Von Kindesbeinen an hat er schon mit der Großsense trainiert, um Reaper zu werden. Niemand sonst im Den ist so schnell, stark oder geschickt wie er. Glaub mir, das höre ich ständig, und zwar ungefragt und von allen.«
Der Aufzug stoppte auf der zweiten Kelleretage.
»Große Schuhe zu füllen, was?«
Langsam fuhr die Tür auf und vor mir erschien ein langer, von Neonröhren erhellter Gang.
»Du hast ja keine Ahnung.« Phoebe seufzte und setzte sich in Bewegung. Ich folgte ihr brav. »Wobei doch, dein Onkel ist der große Gunnar Ingram, Mitglied der Regierung der Schattenseite, der zudem mit der aktuellen Präsidentin der Lichtwelt verbunden war – oder vermutlich weiterhin ist. Auch nicht besser, was?«
Dieses Mal seufzte ich.
»Was genau ist diese Synode oder Hexenrat von Salem eigentlich?«, wollte ich wissen. »Hörte die Worte schon mehrfach im Anwesen und von Albertine.«
»Stell es dir wie eine weltweite Hexenregierung hier auf der Schattenseite vor. Ein bisschen wie die UNO der Lichtwelt.«
»Aber die UNO besteht aus Vertretern mehrerer Länder.«
»Der Hexenrat auch«, antwortete Phoebe mit schief gelegtem Kopf.
»Bis gestern dachte ich, es gebe auf dieser Seite nur Sydney.«
Meine neue Partnerin lachte, verstummte dann abrupt. »Oh, du meinst das ernst?«
Ich nickte unbeholfen.
»Es gibt neun Schattenseiten, wenn du so willst. Oder eine universelle in Teile gespalten. Die größten von ihnen sind Sydney, New Orleans, Seoul und Vera Cruz.«
»Du verarschst mich, oder?«
»Nein, tue ich nicht. Die Schattenseite funktioniert nach anderen Gesetzen. Der Wald grenzt an alle diese Städte und verbindet sie – physikalische Grundgesetze der Lichtwelt interessieren ihn nicht. Raum und Zeit sind in ihm gebeugt, so kann er die verschiedenen Städte verbinden, ohne sich über die ganze Welt zu erstrecken. Quasi wie Portale, du betrittst ihn in Sydney und verlässt ihn am anderen Ende in New Orleans.«
»Es gibt als neun Teile sowie eine internationale Regierung namens Hexenrat, die der UNO ähnelt? Und mein Onkel sitzt darin als Mitglied?«
»Korrekt«, antwortete sie schmunzelnd.
»Na dann, um deine Frage von vorhin zu beantworten: Ja, wir sind beide am Arsch bei den Erwartungen, die auf uns lasten.«
Wir passierten fünf Türen, die von dem Gang abgingen, und hielten vor einer eisenbeschlagenen Sicherheitstür.
»Hilft nur eins. Trainieren und alle Hoffnungen sogar übertreffen«, sagte sie entschlossen, während sie einen Zahlencode in ein Panel tippte. Seit diesem Gespräch spürte ich das erste Mal selbst den Willen, mich zu verbessern.
Vielleicht war es genau das, was ich gebraucht hatte?
Eine Aufgabe in meinem Leben und eine Person, der es ging wie mir. Unter Umständen hatte das Gespräch mit Oliver einen Teil dazu beigetragen, meine Altlasten und die Wut hinter mir zu lassen. Fakt war, die Schattenseite stellte mein neues Zuhause dar und offenbarte mir somit eine Chance auf einen Neuanfang.
Außerdem brauchte ich das Training, um Teil des Angriffs auf die Hexenkönigin zu sein. Harlow hatte im Gegensatz zu mir mal wieder das goldene Los gezogen und aufgrund der Tatsache, dass nur er sie zu töten vermochte, seinen Platz sicher. Ich hingegen musste mir den Platz erarbeiten – und je länger ich schmollte, desto geringer standen meine Chancen darauf.
»Glaubst du, ich schaffe es auf ein passables Trainingslevel, bevor die Mission startet? Declan hat mich gestern innerhalb weniger Sekunden auf die Matte geschickt, und selbst er scheint vor Königin McQueen Angst zu haben.«
Die Sicherheitstür öffnete sich mit einem Quietschen. Wir blieben jedoch vor dem Raum stehen.
»Gestern hätte ich verneint.« Bevor ich zum Protest ansetzte, hielt Phoebe ihre Hand hoch und gebot mir Einhalt. »Heute sehe ich das anders. Man sieht dir förmlich die Motivation an – und das ist die wichtigste Voraussetzung. Na ja, das und dieses kleine Ding hier.« Sie fischte ein Amulett aus ihrer Tasche und hielt es behutsam in ihrer Hand.
»Darf ich?«
Nach einem kurzen Zögern legte sie es in meine Handinnenfläche. »Aktiviere es nur nicht aus Versehen«, mahnte sie.
Das Gold pulsierte warm und beruhigend auf meiner Haut. Es erinnerte mich an Harlows Magie. Der schwarze Obsidian in der Mitte des Schmuckstücks strahlte hingegen Kälte aus. Unmittelbar danach spürte ich die Ingram-Magie; um genauer zu sein, die Signatur meines Onkels. Ich schloss die Augen und konzentrierte mich auf das Amulett, spürte die Fäden der Magie, hörte die leise Melodie, die sie summte, und wusste, als ich meine Augen öffnete, was für ein Canto eingewoben war. Und das, obwohl er mir zuvor unbekannt gewesen war.
»Du kannst es spüren?« Interessiert musterte mich Phoebe, während sie im Türrahmen zur Waffenkammer lehnte.
Ich nickte. »Es ist ein Zauber, der die Zeit beugt. Ingram- und McQueen-Magie vereint. Ein Teil kommt von Gunnar, der zweite … Ich hätte fast Harlow gesagt, aber die Signatur ist einen Hauch anders. Weniger rein. Ungeschliffener, rauer.«
»Denk mal nach. Es gibt nur eine logische Antwort.«
»Angelina Grace Loveage McQueen?«
»Bingo! Die beiden haben das Artefakt damals unmittelbar vor dem ersten großen Krieg gegen den Wald erschaffen, als Constance Königin war. Nach dem Konflikt ging es verloren und wurde letztens wieder geborgen und danach sicher verwahrt.«
»Was macht es in deinem Besitz, wenn es sicher verwahrt ist?«
In Phoebes Augen blitzte es auf und ihre Mundwinkel wanderten in die Höhe.
»Wieso mein Besitz? Du hältst es in diesem Moment. Keine Ahnung, wie du da herangekommen bist«, flötete sie unschuldig.
Ich setzte zur Antwort an, doch sie drehte sich um und betrat die Waffenkammer. »Kommst du?«
»Sagst du mir, wozu das Artefakt fähig ist?«, fragte ich, während ich ihr folgte.
»Hast du doch schon selbst herausgefunden. Es beugt die Zeit.« Phoebe sah mich an, als wäre ich eine gedimmte Elektrokerze an einem Weihnachtsbaum.
Genervt schnaubte ich und sah mir den Raum genauer an. An den Wänden der Kammer zogen sich Regale und Schränke aus dunklem Holz bis zur Decke hoch. Allesamt waren sie beschlagen mit Metall und verziert mit schimmernden bläulichen Runen. Einige davon kannte ich von der Herstellung meiner Talismane, doch die meisten hatte ich nie zuvor gesehen. Bisher bestand mein Handwerk primär daraus, Edelsteine und Pflanzen mit magischen Attributen herzustellen, die ich instinktiv miteinander verschmolzen hatte. Mein Bauchgefühl hatte mich stets geleitet, kein fundiertes Wissen über die Herstellung von Artefakten. Weswegen ich keine Ahnung hatte, was das Ding in meiner Hand vollbrachte.
»Das kann alles sein«, sagte ich. »Es könnte Bewegung verlangsamen oder beschleunigen, eine Zone erschaffen, in der die Zeit stillsteht. Was weiß ich, vielleicht sogar Zeitreise?«
»Zeitreise? Was bist du? RoboCop ?«, fragte sie lachend.
»Das war in Terminator , nicht RoboCop .« Ich rollte mit den Augen. »Wenn du Referenzen nutzt, dann richtig.«
»Ach, der Herr ist ein Filmliebhaber?«
»Schon, ja. Hatte nicht viele Freunde, habe stattdessen Sport getrieben und Filme geschaut. Die meisten Hexen an der St. Andrew haben mich gemieden.« Ich senkte den Blick. So ausgesprochen klang das ziemlich erbärmlich. Ich sah Phoebe erneut an und atmete tief durch. »Aber lenk nicht ab. Ich weiß zwar nichts über Freundschaften oder Partnerschaften, doch wenn dieses Kampfpartnerding zwischen uns funktionieren soll, dann ist Vertrauen wichtig.«
Nachdenklich nickte Phoebe und lehnte sich an einen von drei Tischen. Große, längliche Kisten aus dunklem Metall lagen auf ihnen und summten leise vor sich hin. Ich trat näher und legte meine Hand darauf. Kleine Lämpchen leuchteten neben einem Zahlenpad, und ich spürte die Vibration der Verschlussmechanik im Inneren.
»Stimmt.« Ihre Hand landete auf meiner Schulter. »Tut mir leid, dass die Zeit an der St. Andrew so mies war.«
»Nicht zu ändern. Ist ja nicht deine Schuld.«
»Dennoch. Hier wirst du Freunde finden. Die Reaper sind eine eingeschworene Gemeinschaft und wir halten zusammen. Außerdem ist da natürlich der Goldjunge. Eure Chemie ist -«
»Nicht relevant!«, beendete ich den Satz harsch. Ich wollte jetzt nicht über den Eisprinzen nachdenken, oder darüber, dass er nicht mal im Ansatz so schlimm war, wie ich mir ständig eingeredet hatte. Oder dass meine Hände in seiner Nähe schwitzig wurden.
»Verstehe, verstehe! Aber im Den findest du sicher Freunde. Eine Freundin hast du schon.«
Ich mühte mir ein Lächeln auf die Lippen. Gern wollte ich das glauben, aber blieb vorerst skeptisch. Dieses neue Leben bedurfte einiges an Umstellungen meiner eigenen Gedanken und Erwartungen. Vertrauen fiel mir schwer, dafür war ich Enttäuschungen zu sehr gewohnt.
Mit einem sanften Ruck schubste mich meine neue Partnerin zur Seite und tippte mit flinken Fingern einen Code auf dem Zahlenfeld einer Kiste ein. Zischend fuhr der Deckel auf und kaltes bläuliches Licht erstrahlte im Inneren.
»Das Artefakt beschleunigt die Zeit in einem Raum«, flüsterte Phoebe und wechselte damit so abrupt das Thema, dass ich einen Moment brauchte, um zu verstehen, was sie meinte. Dann deutete sie auf die Sense in der Kiste. »Durch den Zauber können wir dich schneller trainieren, während außerhalb des Raums die Zeit normal läuft. So schaffen wir drei Monate Training in gut vier Wochen. Ist zwar nicht erlaubt, aber hey, wir sparen Zeit.«
Mit geweiteten Augen sah ich zu ihr und versuchte ein Grinsen zu unterdrücken. Ihre Art gefiel mir immer mehr.
»Declan weiß nichts davon, oder?«
»Zur Urmutter, nein! Das Artefakt habe ich aus der Asservatenkammer geklaut, als der Aufseher meinen Arsch angestarrt hat. Männer sind ätzend, aber in dem Fall konnte ich was Gutes draus machen, bevor ich ihm eins auf die Nase gegeben habe.«
»Du hast was?«
»Declans Team hat letzten Monat ein Lager hochgenommen, das einem Útlagi und einer Hexe gehörte. Massen an verbotenem Shit war dort gelagert. Das Amulett ist das Harmloseste davon. Das brauchen sie eh nicht als Beweis gegen die Hexe.«
»Und der Útlagi?«
»Tot. Hexen bekommen Prozesse, ebenso alle Dämonen und Gargoyles, die ins Stadtregister eingetragen sind. Útlagi und die meisten nicht registrierten Einwohner der Schattenseite hingegen haben uns den Krieg erklärt, die werden umgelegt. Was uns zu deiner Sense bringt.«
»Geschmeidige Überleitung.«
»Bitte kein Neid, meine Wortgewandtheit ist eine Gabe, ähnlich wie mein Charme und mein Aussehen.« Phoebe zwinkerte mir zu.
»Verstehe.« Grinsend schüttelte ich den Kopf.
»Willst du mal anfassen?« Sie wackelte mit ihren Augenbrauen, als würden wir über etwas Versautes reden, und ich konnte mein Lachen nicht zurückhalten.
»Du bist echt … speziell.«
»Einzigartig oder auch umwerfend ist das Adjektiv, das du gesucht hast. Danke.« Sie deutete mit dem Kinn auf die Sense. »Na los!«
Zögerlich streckte ich meine Hand aus, stoppte aber unmittelbar vor der Waffe. »Die ist nicht verflucht oder so?«
»Würdest du mir das ernsthaft zutrauen?« Sie klimperte unschuldig mit den schwarz getuschten Wimpern. »Meinem allerliebsten Partner eine verfluchte Waffe unterzujubeln?«
»Du hast nur einen Partner. Und ja, ich würde es dir definitiv zutrauen.«
»Autsch!« Sie stieß mich mit ihrem Ellenbogen verspielt in die Seite. »Auf die Idee bin ich nur leider nicht gekommen. Schade!«
Kopfschüttelnd holte ich tief Luft und berührte die Waffe. Ein Schaudern durchlief meinen Körper, die Sense pulsierte rot, und schwarze Spitzen, die an Stacheln erinnerten, schossen aus dem Ende der Klinge. Eiskalt und dunkel kroch Magie von ihr durch meine Haut in meine Knochen. Fremd und doch so vertraut. Instinktiv wusste ich, wem diese Waffe einmal gehört hatte. Die Sense erkannte die Verbindung ebenso, sie akzeptierte mich als ihren neuen Träger und hieß mich willkommen.
»Dachte ich mir, dass Verderbnis dich erkennt«, sagte Phoebe stolz.
»Verderbnis ?«
»Das ist der Name, den dein Onkel seiner Waffe gegeben hat, als er Reaper im Dienst der Krone war. Das kannst du übrigens der Liste zu erfüllender Erwartungen hinzufügen. Gunnar ist eine Legende hier im Den .«
»Klasse, genau das, was ich gebraucht habe.«
Phoebe hüpfte mit dem Hintern auf den Tisch, legte ihr Kinn in ihre Hand und musterte mich von oben bis unten. »Muskeln hast du schon mal.«
Flirtete sie etwa mit mir? Peinlich berührt kratzte ich mich am Hinterkopf und gab den unüberlegtesten Satz seit Langem von mir: »Stehe mehr auf Männer.«
Sie lachte so laut und mit dem ganzen Körper, dass sie fast vom Tisch fiel. »Keine Ahnung, was das mit meiner Einschätzung deiner Physis und Fähigkeit im Umgang mit der Sense zu tun hat, aber gut für dich. Ich stehe ebenfalls mehr auf Männer . Haben wir was gemeinsam.« Weiterhin lachend zwinkerte sie mir zu. »Lass mich raten, du hattest bisher kein Ding in der Hand.«
Ich blinzelte sie verwirrt an und verschluckte mich.
Sie hingegen tippte grinsend mehrfach auf die Sense. »Oh, das wird gut. Du bist zu leicht in Verlegenheit zu bringen. Also? Kein Training bisher mit der Sense, oder?«
Ich schüttelte den Kopf. »Nein. Aber ich habe das Gefühl, meine Mutter hat schon immer geplant, dass ich hierherkomme.«
»Wieso das?«
»Wir haben seit meiner Kindheit dreimal wöchentlich mit Taiahas trainiert. Angeblich, um Kopf und Geist in Einklang zu bringen.«
»Kampftraining mit der traditionellen Mâori-Waffe?« Phoebe nickte anerkennend. »Schlau von deiner Ma. Die Länge entspricht der einer Sense und die Spitze des Taiaha ist schwerer als die eines gewöhnlichen Kampfstocks. Deine Mutter wusste genau, worauf sie dich vorbereitet.«
»Ja, scheint so.« Genervt verdrehte ich die Augen.
»Schau nicht so. Das ist gut. Deine Muskeln haben jahrelang die Abläufe gelernt und erinnern sich hoffentlich von selbst. Hättest du kein Training in der Art gehabt, bräuchten wir Jahre, um dich auf den nötigen Stand zu bringen.« Phoebe sprang vom Tisch. »Lass mich raten, sie hat dir andauernd den Arsch versohlt?«
Erneut verdrehte ich die Augen, denn es stimmte. Obwohl meine Mutter eher zierlich daherkam, war sie ein verdammtes Genie im Stockkampf.
»Dachte ich mir. Es heißt, sie sei mindestens so genial wie dein Onkel, und der – nur zur Erinnerung – ist eine Legende hier im Den.«
»Na, vielen Dank«, grummelte ich. Zwei Ikonen in der Familie, und jetzt durfte ich ihnen das Wasser reichen. Das konnte heiter werden.