18

HARLOW

ZWEIUNDDREISSIG TAGE BIS ZUM BLUTMOND

I ch stand in der Küche der Ingrams und meine Gedanken wanderten mal wieder zurück zu dem Tag im Zoo. Daran, wie normal Jax zu mir gewesen war, wie gut wir uns verstanden hatten. Und zu dem Moment, in dem wir uns um Haaresbreite im Wasser, überhäuft mit blauen Algen, geküsst hätten. Eine Erinnerung, die mich selbst jetzt, zwei Wochen später, grinsen ließ.

Ich hatte gehofft, wir würden da anknüpfen, wo wir im Meer aufgehört hatten, oder zumindest miteinander reden – aber die Realität zeigte sich anders. Völlig anders. Jax und ich waren uns fremder denn je.

Er mied mich ununterbrochen. Als wäre ich das Wasser und er die letzte Flamme der Welt. Jax trainierte länger, fand andauernd Ausreden, wieso wir nicht allein in einem Raum sein konnten, und jedes Mal, wenn ich mich ihm näherte, um ihn darauf anzusprechen, flüchtete er vor mir und ließ Speedy Gonzales und den Roadrunner dabei vor Neid erblassen.

Mir war bewusst, dass ich davon hätte genervt sein müssen. Ihn und seine vollen Lippen abschreiben sollte. Einfach zu unserer Hass-Freundschaft zurückkehren sollte und mich so zu verhalten, als wäre nichts passiert.

Das Problem: Es war etwas passiert. Und damit meinte ich nicht ausschließlich den Beinahe-Kuss, sondern meine neuen Gefühle. Zuvor war das, was ich Jax gegenüber gespürt hatte, definitiv eine Teenieschwärmerei gewesen, doch nun war das Ganze zu einem Eingeständnis angewachsen. Einem, das mich verwirrte. Ich war zweifelsohne verliebt, und zwar in den Kerl, der mich weiterhin zur Weißglut trieb, aber ebenso mein Herz hüpfen ließ.

»O Shit, den Blick kenne ich«, sagte Oli, und ich sah erschrocken zum Türrahmen, in dem er stand.

»Wovon redest du?« Lässig lehnte ich mich gegen den Tresen. Jedenfalls war das der Plan, doch ich verkalkulierte mich und fiel fast auf die Nase. Gerade so verhinderte ich meinen Sturz mit einem Ausfallschritt, stieß mir dabei aber das Knie an der Theke aus Stein. Mit voller Wucht.

»Geschmeidig, McQueen. Unfassbar geschmeidig«, grummelte ich und rieb mir das Bein.

Mit hochgezogenen Mundwinkeln und Brauen, die fröhlich in die Höhe tanzten, musterte Oli mein Gebaren. In seinem Gesicht zuckten ein Dutzend Muskeln, und ich fragte mich unmittelbar danach, ob er Verstopfung hatte oder ein Lachen zu unterdrücken versuchte. Die Antwort lag zwar auf der Hand, doch diese ignorierte ich großzügig. Immerhin war er loyal und erfreute sich nicht an meinem Leid – bis er es nicht mehr war, weil er schallend losprustete.

Arschgesicht.

Kurz dachte ich darüber nach, ihn mit Diarrhö zu verfluchen.

»So schlimm ist es schon?«, wollte Oli wissen. »Wie konnte ich das so lange übersehen?«

»Wovon redest du?« Ich legte das letzte bisschen Stolz, das mir blieb, in meine Stimme und griff wegen meines trockenen Mundes nach einem Glas Wasser, das ich an die Lippen setzte.

»Dass du in Ingram verliebt bist«, sagte Oliver.

In hohem Bogen prustete ich das Wasser Richtung Oli, das sich über seine Kleidung ergoss.

»Mate, hast du mich gerade angespuckt?«, fragte er und lachte dieses Mal lauter. So viel zu meiner geschmeidigen Art. Und an allem war Jax Ingram schuld. Na ja, oder meine Gefühle für ihn – die Oli leider exakt in Worte verpackt hatte.

Schwere Schritte halten durch den Flur, einen Moment später betrat Jax die Küche und blieb abrupt stehen. Sein Blick legte sich auf mich. Der Ausdruck seiner Augen erinnerte mich an ein Känguru im Scheinwerferlicht, kurz bevor es von einem Auto umgemäht wurde.

»Oh … Ich muss … wieder weg«, sagte er und deutete mit einer unbestimmten Handbewegung auf den Flur.

Wirklich, Jax?

»Ach, wohin denn?«, fragte ich zuckersüß. Ich hatte genug von dem Katz-und-Maus-Spiel.

»Weg. An einen Ort. Weit weg. Nicht hier halt.« Er seufzte.

»Oh, davon habe ich noch nie gehört. Gibt es diesen Ort nur auf der Schattenseite? Zeigst du ihn mir?«

Jax verengte die Augen, während ich ihm ein unschuldiges Lächeln schenkte.

»Geht nicht«, sagte er. »Da können nur Reaper hin. Ist so ein geheimes Ding der Krone.«

»Du meinst der Krone, die bald an meiner Stirn prangt und die mich zur Hexenkönigin macht, die jedes Geheimnis kennt?« Mein Ton klang weiterhin geschmeidig und überfreundlich, trotz der Tatsache, dass mir Jax’ Ausflüchte zunehmend auf die Nerven gingen. Außerdem waren sie nicht einmal kreativ. Wenigstens etwas mehr bemühen könnte er sich, wenn er mir schon vorlog, keine Zeit zu haben.

Neben mir betrachtete uns Oli wie bei einem Tennismatch. »Was ist denn hier los? Ihr verhaltet euch, als hättet ihr rumgemacht und würdet einander jetzt peinlich berührt meiden.«

Er kicherte, da er es offensichtlich als Scherz zur Auflockerung gemeint hatte. Ärgerlich nur, dass seine Worte gefährlich nahe an der Wahrheit lagen, die ich ihm verheimlicht hatte. Seit wann bemerkte Oliver King solche Sachen? Wieso entdeckte er gerade jetzt Scharfsinn als eine neue Charaktereigenschaft?

Jax lief knallrot an, wedelte erneut mit der Hand zum Flur und murmelte: »Weit, weit weg.«

Verwirrt und nach Antworten suchend betrachtete Oli mein Gesicht, worauf ich zur Decke sah und mich räusperte.

»Shit, ihr habt miteinander rumgemacht. War es so fürchterlich? Oder wieso benehmt ihr euch so komisch?«

»Nein!«, knurrte Jax.

»Schnauze!«, presste ich hervor.

»Wie auch immer. Jax wollte mich zu meinem Termin beim Doc begleiten«, führte Oli unbekümmert fort und meinte damit vermutlich die Reyes-Hexe, die sowohl den schwarzen Wurzeln in ihm Einhalt zu gebieten versuchte als auch die Panikattacken und Ängste zu dämpfen. Abgesehen von diesem wöchentlichen Termin verließ Oli das Anwesen so gut wie gar nicht – aus Angst, er würde wieder unfreiwillig Richtung Wald laufen und der Stimme folgen. »Harlow, du kommst auch mit.«

»Wieso das?«, entfuhr es Jax.

»Weil es mir heute nicht gut geht und ich euch beide brauche, um dort hinzulaufen«, antwortete Oli mit einer gespielten Traurigkeit, die mich sprachlos machte.

»Du benutzt dein Trauma, um mich emotional zu erpressen?«, flüstere Jax bedrohlich.

»Erpressen ist so eine unschöne Beschreibung dafür.« Oli schob die Unterlippe vor.

»Eher eine zutreffende«, knurrte Jax.

Die Sache war ohnehin gelaufen – und Oli ging als Sieger hervor. Denn während Jax mich gemieden hatte, wusste ich von Oli, dass er jeden Abend in dessen Zimmer verbrachte und so lange dortblieb, bis mein bester Freund eingeschlafen war. Die beiden hatten hart an ihrer Beziehung gearbeitet, was dazu führte, dass Jax nickte, aber dennoch mit den Augen rollte.

»Na, dann los. Ich muss danach noch –«, brummte Jax.

»Weit weg?«, wiederholte ich seine Worte von gerade ironisch. »An einen Ort? Nicht hier halt?«

Die einzige Antwort, die ich bekam, war die Eingangstür, die geöffnet wurde, nachdem Jax sich umgedreht hatte und davongepoltert war.

* * *

Nicht nur hatte Jax den gesamten Weg nach Freshwater, dem Stadtteil neben Manly, eisern geschwiegen, nein, er zog sein Schweigen nun schon seit vierzig Minuten durch, in denen Oli bei der Reyes-Hexe in der Praxis verbrachte, während wir draußen warteten. Er starrte in das Schaufenster eines Hexenladens, etwas weiter runter die Straße. Auch Teagan, die uns als meine Leibwächterin natürlich begleitet hatte, lehnte dort an einem großen Müllcontainer und sah zunehmend gelangweilt auf ihr Handy. Mittlerweile hatte ich mir die anderen Läden alle angesehen und bewegte mich langsam auf die beiden zu. In dem Moment war mir egal, ob Jax wieder flüchten würde, sobald ich ankam. Immerhin verhielt er sich wie ein störrisches Kind und nicht ich – und alles wegen eines Beinahe-Kusses. Wir waren zwei erwachsene Männer, da könnten wir ja wohl darüber reden, oder? Trotzig beschleunigte ich meinen Schritt, denn ob er wollte oder nicht, wir würden uns hier und jetzt unterhalten.

Kurz bevor ich Jax und Teagan erreichte, kroch ein ungutes Gefühl in mir herauf. Ich hörte die Tür zur Praxis leise aufgehen. Zeitgleich veränderte sich die Luft und ein Geruch nach Tierfell und Äpfel wehte zu mir herüber. Teagan packte mich sekundenschnell an der Hüfte, zog mich mit sich, und nur einen Augenblick später kauerte ich zusammen mit Jax bei Teagan. Sie hatte uns beide hinter den Container gedrängt und einen Finger an ihre Lippen geführt.

Ein Jaulen durchschnitt die Luft, gefolgt von einem weiteren. Dann ein drittes und viertes. Vorsichtig spähte ich an Teagan vorbei und sah Oli, der verwirrt die vier Hunde vor sich betrachtete. Nein, keine Hunde, Wölfe. Neben mir spannte sich Jax an, und ich realisierte, was ich da sah. Teagan packte uns beide am Shirt und drängte uns an die Wand. Dort hielt sie unsere Körper und zischte eindringlich: »Wenn ihr euch den Wölfinnen zeigt, werdet ihr sterben.«

»Oli«, presste Jax hervor und versuchte sich erfolglos zu befreien.

»Ist verloren.« Entschlossen drückte uns Teagan fester gegen die Wand im Schutz des Containers. Sie schloss kurz flüchtig die Augen und sah uns dann mitleidig an. »Es tut mir leid, wir können nichts für ihn tun, ohne dass ihr sterbt. Glaubt mir.«

Jax startete einen erneuten Versuch, sich zu befreien, doch Teagan hielt ihn erbittert in ihrem Griff.

»Hör auf oder ich schlage dich k. o., Jax«, fuhr sie ihn an. »Wir sind hier nicht in einem Superheldenfilm, in dem zwei Jugendliche sich einer Übermacht stellen und gewinnen. In der realen Welt verreckt ihr erbärmlich.«

Selten zuvor hatte ich Teagan so erbost und besorgt erlebt. Und das bedeutete schon einiges, da ich erstaunlich gut darin war, ihren Geduldsfaden zu spannen. Ihre ansonsten glatte Stirn war durchzogen von Sorgenfalten, Kummer lag in ihren Augen. Teagans Eigengeruch wehte für einen Moment in meine Nase, ihre Augen funkelten. Direkt darauf begriff ich, dass sie ihre Sukkubus-Kraft nutzte, um unsere Emotionen zu dämpfen.

Während ich längst aufgegeben hatte, mich zu wehren, versuchte Jax es noch mal. Doch weil Teagan ihn mühelos festhielt und ihre Magie wirkte, gab auch er nach.

»Können wir gar nichts tun?«, fragte Jax tonlos.

»Den richtigen Moment abwarten und dann um unser Leben rennen«, presste Teagan hervor. »Die Hexenbiester werden bald Harlows Blut wittern, wenn sie nicht mehr abgelenkt sind.«

Plötzlich roch die Luft nach Rosen und Ozon, gemischt mit dem vertrauten Geruch nach Tod und Verderben des Waldes. Wir alle hielten inne. Teagans Körper spannte sich an, und sie führte erneut den Zeigefinger an die Lippen. Vorsichtig lugten wir hinter dem Container hervor.

Oli stand dort, sichtlich verwirrt, und die vier Wölfinnen knurrten ihn mit gefletschten Zähnen an. Unmittelbar hinter ihnen waren zwei Frauen erschienen. Zwei Hexenbiester, die einen großen Spiegel zwischen sich hielten, und eine weitere Hexe, die gerade aus diesem hinaustrat.

Casiopaia. Die Hexenkönigin. Meine Mutter.

Sie war gekleidet in ein blutrotes Kleid, dessen Stoff unaufhörlich und sanft hin und her schwang. Sie stand vor Oli und musterte ihn abschätzig. Das Haar hing ihr pechschwarz die Schultern hinab, so dunkel, dass es wie lebendig gewordene Finsternis anmutete. Auf ihrer Stirn, direkt über den stechend grünen Augen, leuchtete der Fluch der Krone. In Schwarz und Rot pulsierten die verschlungenen Linien, einem Herzschlag ähnlich. Es erinnerte mich an eine Dornenkrone. Einzelne Blutstropfen lösten sich unter den Linien, liefen Casiopaia bis zu den Augen und verpufften dort wie Wasser auf einer heißen Herdplatte.

Die Hexenkönigin sah sich flüchtig um. Ihr Blick verweilte sogar kurzzeitig auf uns, ohne etwas zu bemerken. Mir stockte der Atem.

Wie war das möglich? Als ich Jax singen hörte, löste sich meine Starre, in der ich beim Anblick meiner Mutter gefangen gewesen war. Seine Magie strich über meinen Körper, und ich realisierte, dass er Schatten um uns hüllte, die unsere Anwesenheit verbargen. Im Gegensatz zu mir bewahrte er einen klaren Kopf.

»Wo ist er ?«, fauchte Casiopaia in Richtung ihrer Hexenbiester. »Wieso bringt ihr mich zu dem nutzlosen King-Jungen?«

Zu unserem Glück stand der Wind günstig. Sanft wehte er mir aus Casiopaias Richtung ins Gesicht, was vermutlich der einzige Grund war, weshalb mich ihre Wölfinnen nicht witterten. Die Frage war, wie lange uns das Glück hold blieb. Gefangen zwischen dem Bedürfnis, zu Oli zu sprinten, und dem Verlangen, so schnell wie möglich zu flüchten, zitterten meine Beine.

Teagan legte ihre Hand auf meine Schulter. »Wenn ich jetzt sage, laufen wir. Verstanden?«, flüsterte sie so leise, dass ich sie kaum vernahm.

Jax nickte, ohne den Gesang, der uns verhüllte, zu unterbrechen. Ich tat es ihm zögerlich gleich. Alles in mir tobte. Das schlechte Gewissen, Oli zu verraten, rang trotz Teagans Sukkubus-Magie mit meiner Vernunft, überleben zu wollen. Heute war noch lange nicht der Tag, an dem ich mich meiner leiblichen Mutter stellen könnte.

Casiopaia hingegen kannte die Bedeutung von Gewissen offenbar nicht einmal mehr. Ohne ein Wort schoss ihre Hand zu Oli, durchbohrte seine Brust und riss ihm das Herz heraus. Mir wurde schwindelig, alles drehte sich, und nur mit größter Mühe unterdrückte ich einen Schrei. Erneut verstärkte sich Teagans Geruch, und ihre Magie dämpfte den Schock, der mich gerade noch durchfahren hatte. Nur nebelhaft klopfte der Schmerz an mein Herz, doch ruhte er neben der Trauer um Ruby im tiefen Schlaf.

Der Körper meines besten Freundes sackte zu Boden, doch bevor er gänzlich starb, erschienen Ranken durch den großen Spiegel und zogen ihn hindurch. Der Wald holte sich sein nächstes Kind.

Ein lautes »Nein!« durchzog die Straße. Erstaunt sah ich zu Jax und weitete die Augen in Erkenntnis. Nicht nur er hatte es ausgestoßen, sondern ebenso ich.

Teagan reagierte unmittelbar danach, ihr Dämonengeruch raubte mir dieses Mal komplett die Sinne und löste in mir einen alles einnehmenden Fluchtgedanken aus. Mächtig, verzehrend, beinahe wie ein Befehl. Währenddessen schnappte sie sich einen Stein neben dem Abfall und sprang hinter dem Container hervor. Die Wölfinnen und Casiopaia drehten sich zu uns. Der Fluch an der Stirn der Hexenkönigin pochte wild. Unzählige Blutstropfen liefen ihr die helle Haut hinab und verpufften an ihren Augen.

»Tötet den Jungen!«, kreischte Casiopaia schrill. Ihre Stimme vibrierte, doch bevor sie einen Canto sang, warf Teagan den Stein mit dämonischer Kraft.

Alles geschah wie in Zeitlupe.

Verwirrt sah ich dem Stein hinterher.

Jax murmelte einen Canto.

Teagans Arm schwang nach dem Wurf in einem Bogen nach hinten.

Die Hexenbiester fletschten die Zähne und heulten uns an.

Casiopaia hingegen weitete erschrocken die Augen. Ihr Blick lag auf dem Wurfgeschoss.

»Springt!«, rief sie ihren beiden Hexenbiestern zu, die den Spiegel abgestellt hatten und neben ihm standen.

Alle drei sprangen im letzten Moment in die wabernde Oberfläche. In Wellen breitete sich die flüssige Magie über das Glas aus, als die drei verschwanden. Unmittelbar danach traf der Stein sein Ziel. Winzige Risse erschienen, knackten übernatürlich laut, und dann implodierte der Spiegel in Tausende Scherben. Sie flogen zurück ins Innere und verschwanden im Nichts. Zurück blieben nur die vier Wölfinnen, Jax, Teagan und ich und ein schriller Schrei meiner Mutter, der noch nachhallte: »Tötet ihn und bringt mir sein Herz!«

Einen Moment hingen ihre Worte wie Gewitterwolken über uns. Die Luft, bis zum Bersten gespannt, drohte sich zu entladen und einen Sturm zu entlassen.

Geifer tropfte von den Lefzen der riesigen Wölfinnen. Eine jede von ihnen fast drei Meter groß war, ihr Fell so dunkel wie die Nacht selbst und ihre Augen leuchteten blutrot.

»Lauft!«, brüllte Teagan und wechselte gänzlich in ihre Dämonenform. Ihre großen Flügel versperrten mir die Sicht, ich drehte mich um und rannte.

Neben mir hörte ich Jax’ gepressten Atem. Auch er hatte, ohne Widerworte, auf meine Leibwächterin gehört. Wir stürmten die Straße entlang. Ich drehte mich nicht um, rannte und rannte, schneller und schneller, in eine enge Gasse, aus dieser hinaus, auf einen kleinen Platz, hinein in den Park, sprang über eine Holzbank, stürmte weiter den Kiesweg entlang, der unter der Last meiner Schritte knirschte.

Meine Lunge schmerzte, meine Muskeln brannten und verkrampften sich. Ich beschleunigte ein weiteres Mal, nahm alle Kraft zusammen, rauschte hinaus durch das Eisentor des Parks, hinein in eine Gasse und … Shit! Am Ende der Gasse versperrte mir eine Betonwand den Weg.

Hinter mir hörte ich das Geheul der Wölfinnen und Teagans Schreie. Auch sie waren uns dicht auf den Fersen. Vermutlich hätten sie Jax und mich schon längst erreicht, wenn meine Leibwächterin uns nicht den Rücken frei halten würde.

Panisch sah ich zu Jax. Mit aufgerissenen Augen fixierte er die Betonwand vor uns.

»Scheiße«, keuchte er.

Nur einen Wimpernschlag später griff er an seinen Gürtel und löste das Metallstück, das seine Waffe beherbergte. Leise summte er eine Melodie, und sofort erschien Verderbnis , seine Sense. Jax drehte sich zu unseren Verfolgerinnen um, alle Muskeln dermaßen angespannt, dass er zitterte. Die Waffe in seiner Hand vibrierte, summte in Vorfreude auf den Kampf. Ich folgte ihm mit meinem Blick und schreckte zusammen. Ein Gefühl von absoluter Machtlosigkeit ereilte mich unvermittelt, raubte mir die Luft und hielt mich in einer Starre gefangen. Sosehr mein Hirn mich anschrie, ich solle helfen und Cantos wirken, mein Körper reagierte nicht. Alle meine Melodien entglitten mir sofort, und ich starrte wie versteinert auf das Geschehen.

Am Eingang der Gasse kämpfte Teagan die vier Wölfinnen zurück. Sie schlug mit ihren Flügeln gegen die erbarmungslosen Angreiferinnen. Schwarzes Blut rann aus mehreren Wunden, lief über die weißen Blumen, die ihre Dämonenhaut durchstießen, und tropfte zu Boden.

Ohne zu zögern, stürmte Jax ihr zu Hilfe, erweckte seinen Schatten mit einem Canto zum Leben, der daraufhin wie eine eigenständige Person seine Bewegungen imitierte. Sie krachten gegen zwei Hexenbiester, und diese donnerten gegen eine Wand. Benommen schüttelten sie sich, sahen aus der Hocke finster zu Jax und seinem schattenhaften Doppelgänger. Jax stimmte einen Canto an. Tief und hallend erklang er und erfüllte die gesamte Gasse. Dunkelblaue, fast schwarze Partikel strömten aus seinem Mund. Einem Heuschreckenschwarm gleich durchströmte seine Magie die enge Gasse und ließ mich staunend zurück.

Wir befanden uns auf demselben Trainingslevel, doch Jax wirkte, als hätte er Monate Vorsprung. Sosehr ich helfen wollte, mein Hirn versagte, ließ mich nicht reagieren und verdammte mich zum Zuschauen.

Jax verschmolz mit den Schatten der Container, tauchte an anderer Stelle aus der Dunkelheit auf, schwang seine Sense, nur um wieder im Schatten eines Hexenbiestes zu verschwinden. Wie ein verdammter Ninja wirbelte er umher, begleitet durch das freudige Surren von Verderbnis . In diesem Augenblick verstand ich, weshalb die Agenten des Den Reaper hießen. Wie der Tod höchstpersönlich nutzte Jax die Schatten, um wie ein Geist aus ihnen aufzutauchen und die riesige Sense zu schwingen, als wollte er die Seelen von Verstorbenen einsammeln.

Seine Waffe hinterließ tiefe Wunden in den Wölfinnen, die sich jedoch unmittelbar danach von allein schlossen. Ein mächtiger Fluch der Heilung lag offenbar auf ihnen.

Wie sollten wir sie besiegen, wenn ihre Wunden direkt heilten?

Hilflos realisierte ich, dass wir nicht den Hauch einer Chance besaßen. Zwar wirbelte Jax mit der Sense umher und beherrschte die Kampfkunst erstaunlich gut, doch stellte er keinen ebenbürtigen Gegner für die Hexenbiester dar. Einzig Teagan schien ihnen gewachsen. Jedoch nicht vieren gleichzeitig.

Mein Blickfeld verkleinerte sich zunehmend, bis es nahezu gänzlich schwarz wurde. Nun setzte zu meiner Versteinerung auch die alles verschlingende Panik ein. Wie durch ein Nadelöhr nahm ich alles nur langsam wahr. Meine Brust krampfte und das Atmen fiel mir schwer. In kurzen, rasselnden Schüben stieß ich die Luft aus und atmete sie krampfhaft wieder ein, denn mit einer solchen Panikattacke war an Singen gar nicht erst zu denken. Und im Gegensatz zu Jax waren Cantos meine einzige Waffe.

Falsch! Urplötzlich klärten sich meine Gedanken und ich atmete tief durch. Beruhigte mehr und mehr meine Atmung, kämpfte mich durch die Taubheit zurück an die Oberfläche, aus einem See voll Zweifel und Panik. Ich besaß eine Waffe. Eine überaus mächtige dazu, die mir selbst Angst einjagte: Flüche und mein Talent, subharmonisch zu singen.

Ich sah Teagan und Jax umherwirbeln, die nur mühevoll die Hexenbiester in Schach hielten. Lange würden sie das nicht mehr durchstehen, und dann wären wir, ohne jeden Zweifel, Gulasch.

Vorsichtig atmete ich ein. Spürte, wie Luft meine Lungenflügel flutete und die Brust anhob. Meine Magie reagierte direkt, gab mir zu verstehen, dass sie bereit war. Die Frage, die sich mir stellte: War ich es? Konnte ich mit den Konsequenzen umgehen?

Ein schmerzverzerrter Schrei durchzog die Gasse, als die Klaue eines Hexenbiests über Teagans Gesicht fuhr und Teile ihrer Haut ablöste. Einzelne Blütenblätter segelten durch die Luft.

Ich musste handeln.

»Zurück! Kommt zu mir!«, rief ich Teagan und Jax zu.

Meine Leibwächterin sah zu mir, verstand sofort, was ich vorhatte. Ihr Blick lag auf dem scharfkantigen Schlüssel in meiner Hand, mit dem ich mir in diesem Augenblick eine Schnittwunde am Hals zufügte, gefolgt von einer weiteren am Oberarm. Den Schmerz nahm ich nur gedämpft wahr, meine Gedanken waren zu fokussiert auf das, was folgen würde.

»Harlow, nicht!« Doch Teagans gebrüllte Worte kamen zu spät. Blut floss langsam aus den Wunden und ich stimmte die Subharmonie an. Wie ein dunkles Omen vibrierte sie auf meinen Stimmbändern.

Feuchtigkeit bahnte sich einen Weg meine Brust hinab, färbte einen kleinen Teil meines weißen Shirts dunkelrot. Die beiden Wunden brannten und pochten, nicht aber vor Schmerz, sondern vor Euphorie. Mein Hexenblut wusste, wofür es gebraucht wurde.

Nun riss auch Jax die Augen auf und schüttelte vehement den Kopf, während er mit Teagan zu mir stürzte. Bevor sie mich erreichten, stimmte ich die Hauptmelodie des Fluches an, die sogar die Hexenbiester innehalten ließ. Ihre Gesichter waren vor Erstaunen und Panik grotesk verzerrt.

Anders als bei gewöhnlichen Cantos gehörten zu Flüchen Worte und knappe Bewegungen. Beides führte ich mit Leichtigkeit aus. Immerhin stellte dieser Fluch nur eine Abwandlung unserer McQueen-Familienhymne dar.

Die Noten verließen meine Lippen, formten statt meiner üblichen goldenen Partikel rötlich schimmernde Fäden und schossen auf die Hexenbiester zu. Während diese laut kreischten, brannte sich der Fluch auf ihre Stirn ein. Es dauerte nur einen Wimpernschlag, da wurden die Augen unserer Angreiferinnen glasig und verfärbten sich in ein dunkles Purpur.

»Was ist Euer Wunsch, Meister?«, fragten sie im Chor.

Aus meinen Wunden löste sich das Blut und flog in schnellen Kreisen um mich herum. Wie ein aufziehender Hurrikan wirbelte es umher – und ich bildete das Auge des Sturms und schwebte in dessen Mitte.

»Lauft zum Schloss der Hexenkönigin. Stoppt ihr vorher, stoppt auch euer Herz!«

Ohne auf weitere Befehle zu warten, drehten sich die vier auf der Stelle um und eilten davon.

»Was hast du getan?«, schrie Jax mich an. Seine Stimme wirkte gedämpft durch das Tosen des Blutsturms um mich. Eine zusätzliche Wunde schnitt sich von allein in meine Stirn, um mehr Blut aus meinem Körper zu entlassen. Der Schmerz war glasklar und brannte sich in mein Nervensystem. Ich stöhnte, versuchte die Blutung mit einer Hand zu stoppen, doch der Versuch blieb erfolglos.

Mehr und mehr Wunden ritzten sich von Geisterhand in mein Fleisch und bildeten Runen, die den Fluch weiterhin nährten. Aus allen floss mein Blut zäh hinaus, löste sich von meinem Körper und wirbelte in der Luft um mich.

»Verdammt, lös den Fluch! Harlow, du bringst dich um!« Jax’ Worte erreichten meine Ohren nur verzerrt. Die Panik und Wut in ihnen ließen mich aufhorchen, aber ich war zu schwach, um zu reagieren.

Mehr Wunden würden erscheinen auf meinem Körper. Der Fluch würde mich töten. Diese Gewissheit durchschoss mich und hinterließ Eiseskälte in meinem Körper. Selbst wenn ich wollte, den Fluch zu brechen war unmöglich. Er würde erst verebben, sobald die Hexenbiester im Schloss der Königin ankamen – und bis dahin wäre ich längst verblutet.

»Jeder Fluch hat seinen Preis!« , hörte ich die eindringlichen Worte meiner Großmutter in Gedanken. »Er endet erst, wenn alle Bedingungen erfüllt sind oder die fluchwebende Person stirbt.«

»Der Trottel kann ihn nicht selbst lösen.« Teagan klang, entgegen meiner Erwartung, nicht böse. Eher panisch und verzweifelt. »Der Fluch endet nur, wenn die Hexenbiester das Ziel erreichen oder Harlow stirbt.«

»Er wird verbluten, bevor sie am Schloss ankommen«, presste Jax hervor.

Teagan nickte schweigend, während ich weiterhin wie eine Feder in der Luft zwischen Jax und ihr schwebte. Mein Blut zog leuchtende Bahnen um mich und hüllte meinen Körper in einen Kokon aus Rot. Es würde mein Grab werden. Mein Verstand fühlte sich zunehmend leichter an und mir wurde schwindelig.

»Seine Großmutter ist Fluchbrecherin, richtig?«, fragte Jax.

»Ja, aber wir schaffen es nicht bis zur Oper. Der Fluch fordert zu viel Hexenblut.«

»Wie schnell kannst du ihn dorthin bringen, wenn du fliegst? Reichen ein paar Minuten?«

Teagan sah verwirrt zu Jax, weitete die Augen und schüttelte den Kopf.

»Beeil dich«, flüsterte Jax und schnitt sich mit der Sense eine Wunde in den Arm, bevor Teagan etwas entgegnete. Der Fluch reagierte sofort, bäumte sich auf und streckte seine gierigen Klauen nach Jax’ Blut aus. Erst langsam, dann zunehmend schneller bewegte es sich zu dem Sturm, der mich umgab, vermischte sich mit meinem und stärkte den Fluch. Aus meinen Wunden tropfte nur noch wenig Blut, der Fluch bediente sich eifrig an Jax.

»Was stimmt denn nicht mit euch beiden?« Teagan sah Jax fassungslos an. »Jetzt bringst du dich auch um?«

»Nimm Harlow und flieg zur Oper«, antwortete Jax.

»Dein Plan hinkt. Du musst in seiner Nähe bleiben, sonst zerreißt dich der Fluch!«

Obwohl es unpassend wirkte, grinste Jax flüchtig. Dann stimmte er eine Melodie an, deren Töne einen so tiefen Bass besaßen, dass seine Vibration durch mich hindurchfuhr. Schwarze Schemen umspielten Jax, wirbelten über seinen Körper und durch sein Haar, bevor sie mich umschlossen. Ich vernahm die Kühle seiner Magie, und anstatt mich erzittern zu lassen, linderte sie den brennenden Schmerz meiner Wunden. Aus meiner schwebenden Position heraus sah ich, wie sich Jax’ Schatten am Boden bewegte. Er waberte zu allen Seiten, vergrößerte sich, nur um sich erneut zu verkleinern. Nachdem er es mehrfach wiederholt hatte, streckte sich sein Schatten aus und verschmolz mit meinem.

»Wo er hingeht, kann ich folgen«, sagte Jax an Teagan gewandt.

»Du beherrscht den Schattenwandern-Canto? Das ist der Signatur-Canto deines Onkels.« Sie nickte anerkennend. »Hättest du auch früher sagen können. Hätte die Flucht erleichtert.«

»Und die Biester hätten uns vom Himmel geschossen, wenn wir zu fliegen versucht hätten«, gab Jax mit einem Stöhnen von sich, als eine weitere Wunde sich in sein Fleisch schnitt.

»Auch wieder wahr.« Die Leibwächterin sah Jax weiterhin anerkennend an.

»Schmerz. Schwindel. Tod«, presste ich aus meinem Blutgefängnis hervor.

Teagan schüttelte den Kopf, als würde sie ihre Gedanken sortieren. »Dann los!«, fügte sie auffordernd hinzu. Sie breitete ihre ledrigen Flügel aus, flog zu mir herüber, stoppte aber vor dem Wirbel aus Blut, der mich umgab. Sie sah mich fragend an.

Ich versuchte mich zu konzentrieren, dem Fluch zu befehlen, eine Lücke für meine Leibwächterin zu erschaffen, doch er ignorierte meine Bitte. Ich schloss die Augen, atmete tief durch und visualisierte das Gewebe des Fluchs vor meinem geistigen Inneren. Wilde rote Linien stoben durcheinander. Verknotet wie ein altes Wollknäuel, verliefen die Fäden in wirren Mustern. Konzentriert suchte ich alles ab, bis mein Blick das Zentrum fand. Dort pochte das Herz des Fluchs. Ich streckte im Geiste meine Hand aus, legte sie auf den pochenden Ursprung und befahl dem Fluch erneut, eine Lücke im Kokon zu erschaffen.

Als ich meine Augen öffnete, sah ich erleichtert, dass Teagan zu mir eilte, mich in den Arm nahm und mit kräftigen Flügelschlägen in Richtung der Oper flog. Zu meinem Erstaunen lief Jax im Schatten – durch die Luft, als wäre dort ein unsichtbarer Boden. Das musste sein Schattenwandern-Canto sein.

Meine Lider wurden schwer, und mir fielen träge die Augen zu. Mühevoll versuchte ich sie wieder zu öffnen, doch nicht einmal zur Hälfte gelang es mir. Die Umgebung um mich herum verschwamm zu düsteren Farben aus Rottönen. Den Ursprung des Fluchs zu suchen, mit ihm zu kommunizieren und der Blutverlust hatten meinen Körper an sein Limit gebracht.

Alles drehte sich, oben wurde zu unten, unten zu oben. Rot, überall rot. Es wurde dunkler, so als würde mich jemand in ein Grab einmauern. Stein für Stein wich die Helligkeit, und Finsternis war alles, was mir blieb.

»Untersteh dich zu sterben, und bleib gefälligst bei uns«, hörte ich Jax zittrig sagen, jedoch hieß ich in diesem Moment die Ohnmacht willkommen.

* * *

Interlude 2

Casiopaia McQueen hasste es, sich zu irren.

Einen Fehler zu begehen, schürte den Hass nur. In den letzten zwanzig Jahren, seitdem ihre verdammte Schwester ihr den Jungen entwendet hatte, war alles nach Plan verlaufen. Nicht eine Fehlkalkulation hatte sich eingeschlichen, alles war perfekt erdacht und durchgeführt worden. Minutiös, skrupellos, zielsicher.

Und doch hatte sie jetzt das erste Mal seit so langer Zeit einen Fehler begangen: Sie hatte ihre Gegner unterschätzt. War sie zu selbstgefällig geworden? Sich ihres Sieges zu sicher?

Ihre Fassade der Unbesiegbarkeit und somit ihr Vorhaben bröckelte, das war ihr schmerzlich bewusst.

Mit einem Gemisch aus Wut und Mitleid sah sie zu ihren Hexenbiestern, den einzigen Wesen, für die sie so etwas wie Liebe verspürte. Ihre wahren Kinder – nicht wie der Junge, der alles erschütterte.

Zärtlich fuhr sie ihnen in ihrer Wolfsform durch das Fell. »Es ist nicht eure Schuld«, flüsterte sie ihren Mädchen zu. »Ich hätte es wissen müssen. Immerhin ist er von meinem Blut.«

Casiopaia hatte damit gerechnet, dass der Junge stärker sein würde als die anderen erbärmlichen Hexen auf der Schattenseite – schließlich hatte sie ihm das Leben geschenkt. Doch mit einer Sache hatte sie nicht gerechnet: Er konnte allein Flüche weben, zweistimmig singen. Und das mit einer Leichtigkeit, die sogar Casiopaia vor Neid erblassen ließ. Angelina hatte ganze Arbeit geleistet.

Das änderte alles. Wenn er schon nach so kurzer Zeit an der Oper eine solche Macht besaß, wie stark würde er werden, wenn ihre Mutter , die Geißel ihres Lebens, ihn erst weitere Flüche lehrte?

Es war an der Zeit, Vorkehrungen zu treffen. Sollte er Casiopaia wahrhaftig ebenbürtig sein, würde sie nicht ohne ein letztes Geschenk weichen. Der Zauber, der die Schattenseite von der Lichtwelt trennte, würde fallen! Egal ob der Junge oder sie am Ende siegte, sie würde die Hexenwelt ins Verderben stürzen und sich damit ein Mahnmal setzen.