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HARLOW

ACHTUNDZWANZIG TAGE BIS ZUM BLUTMOND

S chweiß rann mir in kleinen Strömen die Stirn hinab, brannte in meinen Augen und verklärte meinen Blick. Wie die gesamten letzten vier Tage, befand ich mich mal wieder zum zusätzlichen Training im Reapers Den . Der Gargoyle Ethan vor mir nutzte seine Sense eher als Krückstock. Schwer atmend stützte er sich auf sie und beäugte mich skeptisch.

»Greif mich an!«, brüllte ich.

Zweifel huschten über seine graue Steinhaut. Er zog seine Unterlippe in den Mund und kaute auf ihr herum.

»Bitte, Ethan!«, rief ich kraftlos.

Sein zweifelnder Blick wich einem mitfühlenden. Wut brodelte in mir. Die Flammen des Zorns leckten an meinem Herzen, steckten meine Adern in Brand und der schwere Geschmack von Eisen legte sich auf meine Zunge. Der Phantomgeruch von Äpfeln stieg mir in die Nase und sang ein betörendes Lied des Hasses.

»Harlow, an deiner Stirn …« Mehr Worte vernahm ich von Ethan nicht mehr. Die ersten Töne drangen über meine Stimmbänder, bis sie eine Melodie bildeten. Ich schob sie beiseite und stimmte die Subharmonie an. Goldene Partikel mischten sich mit roten und ergaben einen Schauer an Fluchfunken, die wie ein Schwarm Krähen auf den Gargoyle zuschossen.

In dem Moment, in dem sie ihn trafen, klärten sich meine Gedanken und ich bemerkte meinen Fehler. Die Erschöpfung und der Hass hatten mich den Fluch nachlässig weben lassen. Ich hatte vergessen, die Bedingung einzuweben, dass er nach unserem Trainingskampf enden würde. Zu geblendet von dem Flüstern der Krone, die, wie in den letzten Tagen nach meinem Krankenhausaufenthalt, mal wieder ihre gierigen Klauen in mich schlug.

Ethan sackte zu Boden und rieb sich die Augen. Blut lief aus ihnen hervor und sorgte dafür, dass er blind war. Wenigstens hatte etwas in mir daran gedacht, den Fluch schmerzfrei zu weben.

»Wieso … sehe ich … nichts mehr?«, stotterte der Reaper. »Ich gebe auf! Der Kampf ist vorbei.«

Ein Moment verging, ohne dass er etwas sagte. Ich stöhnte leicht. Normalerweise ließen meine Trainingsflüche genau jetzt nach, am Ende des Kampfes – nicht so heute.

»Ich … sehe immer noch nichts … Harlow?«

»Wir sollten meine Großmutter aufsuchen«, antwortete ich seufzend. »Tut mir wirklich leid, Ethan.«

»Ich bin schon hier«, erklang es eisig vom Rande des Rings.

»Gut, dann kannst du ihn ja vom Fluch befreien.« Direkt wechselte meine Stimmung wieder in den Frostmodus. Die letzten Tage nach dem Vorfall im Sanatorium hatten mir sowohl Jax als auch Granny andauernd versucht vorzuschreiben, was das Beste für mich sei. Aber damit war es vorbei. Ich hatte keine Lust mehr, das zu machen, was andere von mir erwarteten.

Außerdem kochte da diese ungezügelte Wut in mir. Im Sanatorium hatte ich sie das erste Mal vernommen. Hass, Rachedurst und Zorn – pur und rein. Der Fluch der Krone hatte es ebenso gespürt und schon dort die Chance genutzt, mich zu besuchen. Seitdem wallte er immer in mir auf, wenn ich meine Gefühle nicht unter Kontrolle hielt.

Meine Großmutter brach Ethans Fluch und baute sich vor mir auf. Der Gargoyle war schlau genug, direkt die Flucht anzutreten, doch Declan gesellte sich zu uns.

»Du hast dich nicht unter Kontrolle«, sagte Granny.

»Ist das so? Meinst du vielleicht, ich stehe nicht mehr unter eurer Kontrolle?« Meine Worte wurden durch den Zorn der Krone vergiftet.

»Mein Schatz.« Sie legte eine Hand an meine Wange, doch ich wich zurück. »So kann es nicht weitergehen. Das Echo der Krone ereilt dich zu oft.«

»Wie ist das überhaupt möglich? Ich denke, Casiopaia ist die Trägerin des Fluchs?«

»Ist sie.« Granny kam auf mich zu und legte erneut eine Hand an meine Wange. Dieses Mal ließ ich sie gewähren. Versuchte die Wärme und Liebe aufzunehmen und die düsteren Gedanken damit zu betäuben. »Aber der Fluch spürt, dass ihr bald um ihn kämpfen werdet. Deswegen kann ein Echo davon zu dir durchdringen. Das ist eine abgeschwächte Form dessen, was dich erwartet.«

»Schwach?« Mein Hals verengte sich. »Die Wut ist so intensiv, dass ich mich nicht gegen sie wehren kann. Wenn das nur das Echo ist …« Ich atmete mehrfach durch. »Dann sollte ich nicht die neue Hexenkönigin werden.«

»Und Casiopaia gewähren lassen? Deine Freunde und alle Hexen opfern?«

Ich lachte bitter. »Wer sagt, dass meine Regierungszeit nicht grausamer wird als ihre? Ich bin ja nicht mal in der Verfassung, das Echo zu bekämpfen, wie soll ich da dem echten Fluch nicht erliegen?«

»Dabei werde ich dir helfen«, sagte Granny sanft. »Aber das hier«, sie vollführte eine weite Armbewegung, »hört auf! Du kannst nicht nach dem offiziellen Training in der Oper die ganzen Abende hier verbringen und deinen Körper und Geist an ihre Grenzen treiben – sonst hat das Echo der Krone wahrlich ein zu leichtes Spiel, dich zu beeinflussen. Du brauchst einen wachen Verstand – und dafür benötigst du auch mal Schlaf!«

»Und meine Reaper könnten eine Pause gebrauchen«, sagte Declan. »Du hast die Hälfte meiner Kadetten auseinandergenommen.«

»Aber ich muss trainieren. Besser werden.«

»Deine Flüche sind stärker als die der meisten mir bekannten Weber, glaub mir.« Declan rieb sich den Arm, an dem ich ihn gestern mit einem Querschläger getroffen und ihm den Oberarmknochen gebrochen hatte. Zum Glück war eine Reyes-Hexe zur Stelle gewesen, um den Bruch direkt zu heilen.

»Morgen starten wir mit dem mentalen Training.« Großmutter streichelte meine Wange und lächelte mir liebevoll zu. »Das hätten wir schon früher, aber ich habe das Echo unterschätzt.«

»Okay.« Ich senkte den Blick.

»Kein Zusatztraining mehr bitte.«

»Nur heute, ja?«, fragte ich mit schwacher Stimme. »Ab morgen lasse ich es.«

»Natürlich. Du entscheidest, Schätzchen. Obwohl du es glaubst, will ich dich nicht kontrollieren. Wir sorgen uns einfach.«

Ich nickte, sah aber nicht auf.

»Unglaublich, wie stur er ist«, murmelte Declan.

»Ach, sieh an, wer da spricht.« Großmutters Stimme triefte vor Ironie. »Ich erinnere mich daran, wie du mit Soo-Ri bis zur Erschöpfung trainiert hast, weil ihr euch ständig übertreffen wolltet. Oder?«

»Muss ein anderer überaus attraktiver, intelligenter und fähiger Gargoyle gewesen sein«, antwortete Declan grinsend. »Ich würde so was nie auch nur in Erwägung ziehen.«

»Richtig, richtig. Du doch nicht.« Granny ging zu ihm hinüber und fuhr ihm durchs Haar. »Du und Harlow seid euch ähnlich. Und wie auf ihn bin ich ebenso auf dich ungemein stolz, Declan.«

Er räusperte sich verlegen. »Danke, Miss McQueen.«

»Hör mit dem Miss McUnsinn auf! Es wird Zeit, dass ihr beide versteht: Ihr seid nicht allein und müsst nicht alles ohne Hilfe schaffen.« Sie nahm Declans Gesicht zwischen ihre Hände. »Ich weiß, dass dich der Verlust immer noch zerfrisst, aber es war nicht deine Schuld. Verzeih dir selbst und lebe wieder. Ab morgen besuchst auch du mich in der Oper zur mentalen Reinigung.« Behutsam küsste sie seine Stirn, drehte sich um und schritt davon.

* * *

Eine Viertelstunde später hatte sich ein unwissender Kadett der Reaper bereit erklärt, mit mir mein letztes Training zu bestreiten. Wir betraten den ebenerdigen Ring, der aus einem roten, auf den Boden gezeichneten Kreis bestand, da flog die Tür zum Trainingsraum auf.

»Ich packe es nicht! Das reicht!« Mit wütenden Schritten donnerte Jax zu uns herüber. »Du kannst gehen, Dexter. Harlow braucht dich nicht mehr.«

Das ließ sich der Gargoyle nicht zweimal sagen, so erzürnt, wie Jax jedes Wort ausspuckte. Dexter verzog den Mund, salutierte mir und trat die Flucht an.

»Ich gehe davon aus, dass du dann mit mir trainierst?«, fragte ich.

»Meinst du das ernst?«

»Natürlich, ab morgen lasse ich es bleiben. Dexter sollte mein letzter Kampf hier im Den sein.«

»Willst du mich verarschen?« Die Ader an Jax’ Hals trat hervor. »Die vergangenen vier Tage hast du kein einziges Wort mit mir geredet – nur genickt, wenn ich mit dir gesprochen habe, oder du bist direkt vor mir geflüchtet. Und jetzt tust du so, als wäre ich irgendein Trainingspartner?«

»Sehe keinen Unterschied zu deinem Verhalten nach dem Zoobesuch«, antwortete ich und zuckte lässig mit den Schultern, obwohl ich nicht im Ansatz gelassen war. Im Gegenteil: Ich kämpfte die sich in mir aufbäumende Wut zurück. Wie ein verletztes Tier schlug sie ihre Klauen in meinen Verstand und versuchte mich mit in den Abgrund zu ziehen.

Jax starrte mich mit offenem Mund an. Mehrfach setzte er an, etwas zu sagen, fand aber keine Worte.

»Du machst mich wahnsinnig! Wie kann jemand nur so stur sein?«, brüllte er. Seine Wangen waren hochrot, die Augen zu Schlitzen verengt.

Ich trat einige Schritte auf ihn zu, so nah, dass sich unsere Nasen fast berührten. Mein Atem beschleunigte sich. Ob vor Wut oder wegen der plötzlichen Nähe, vermochte ich nicht zu sagen. Es war auch unwichtig, denn das Einzige, was ich roch, war Jax. Herb, kühl und unverkennbar er. Seine Magie stieg mir in die Nase, durchflutete jede meiner Zellen und vereinte sich mit den goldenen Funken in meinem Inneren.

Seine Augen weiteten sich, er zog scharf die Luft ein und ließ sie langsam entweichen. Sein Atem kitzelte über meine Lippen und mein Kinn. Direkt breitete sich eine Gänsehaut auf meinem Körper aus, und ich unterdrückte nur mühevoll ein Zittern. Meine Magie reagierte, sie kribbelte unter meiner Haut, feuerte mich an, sie zu entlassen, damit sie sich ebenso mit Jax vereinen konnte, wie zuvor seine Magie mit mir.

Diese Situation eskalierte schneller als geplant. Ehrlich gesagt, war mir nicht einmal bewusst, was ich damit bezweckt hatte, so nah an Jax herangetreten zu sein. In letzter Zeit setzte mein Hirn zunehmend aus, sobald Jax Ingram involviert war. Den besten Beweis stellte mein unbedachtes Geplapper im Krankenhaus dar.

»Küsst du mich jetzt endlich?«, flüsterte er so leise, dass ich mir nicht sicher war, ob er es ausgesprochen hatte oder ich es mir wünschte. Doch es war unwichtig, denn mein Gesicht bewegte sich reflexartig auf seines zu.

Meine Lippen trafen auf seine. Zu meiner Verwunderung waren sie weicher als erwartet, ebenso wärmer. Ein Stöhnen löste sich aus meiner Kehle, als Jax den Kuss erwiderte und mit seiner Zunge zwischen meine Lippen fuhr. Hitze schoss mir durch den Körper, heizte meine Wangen und meinen Nacken auf, während ich mich diesem Moment hingab.

»Na endlich!«, erklang es von der Tür, und wir beide sprangen auseinander.

Genervt drehte ich mich zu Phoebe.

»Du hoffst, dass wir uns küssen, und dann unterbrichst du den ersten Kuss mit einem ›Na endlich‹?«

Sie legte den Kopf schief und entblößte ihre perfekt gemeißelten Zähne dank eines breiten Grinsens.

»Ja, das klingt definitiv nach mir. Aber ich brauche den Bad Boy eurer jungen Romanze in dem Meeting. Sorry, Goldjunge!«, antwortete sie und klang in dem Moment nicht ansatzweise schuldbewusst.

»Sie hat recht, sie bestehen auf meine Anwesenheit«, sagte Jax. Ich erwartete, dass er sich umdrehte und mich stehen ließ – doch er überraschte mich. Eilig trat er wieder zu mir und drückte einen kurzen Kuss auf meinen Mund. Dabei strich er mir mit dem Daumen über die Wange. »Das setzen wir fort, nachdem wir es jetzt endlich auf die Reihe bekommen haben.«

Er zwinkerte mir zu, drehte sich um und schlenderte gelassen zu Phoebe. Sie gab ihm ein High Five, als sei der Kuss zwischen uns eine Art Trophäe.

»Ein High Five, wirklich?«, rief ich ihnen hinterher.

»Das ist unsere Art der Begrüßung«, flötete Phoebe.

»Klar, und ich bin ein Útlagi.«

»Dafür bist du eindeutig zu klein.« Sie grinste, dann schnappte sie sich Jax, um mit ihm aus dem Raum zu schlendern.