22

HARLOW

SIEBENUNDZWANZIG TAGE BIS ZUM BLUTMOND

I ch kam langsam aus meiner Meditation wieder in der Wirklichkeit an. Fassungslos starrte ich zu Boden, der zwei Meter unter mir lag.

Weil. Ich. Verdammt. Noch. Mal. Flog.

»Was zur Urmutter?« Meine Worte hallten von den Wänden wider.

»Ganz ruhig, Schätzchen«, rief Granny. In ihrem Ton klangen Angst und Freude zu gleichen Teilen mit.

Sie stimmte eine Melodie an, sang sie wie eine Arie und ihre goldene Magie durchströmte den Raum. Partikel wirbelten umher, umspielten mich, der Duft nach Ozon und Hyazinthen wehte mir in die Nase, und dann legte sich ihre Magie über die Wände. Verfestigte sich zu einer schimmernden Masse und schirmte uns von der Außenwelt ab.

»Okay, nun hört und sieht uns niemand.«

»Dachte ich mir schon!«, rief ich ihr zu, weiterhin damit beschäftigt zu verstehen, was hier passierte.

»Egal was du tust, denk nicht an deine Flügel, sonst …«

Aber natürlich lenkte genau das meine Aufmerksamkeit auf meine Flügel, die aus purem Licht bestanden – und offenbar nur eine Illusion waren. In einem Moment schlugen sie behäbig und hielten mich in der Luft, doch dann verstand ich, dass sie nur magische Illusionen waren und ich keine Ahnung hatte, wie sie sich bewegten. Das nahmen sie zum Anlass, sich aufzulösen. Goldene Partikel meiner Magie rauschten davon, wo zuvor die Flügel aus Licht erstrahlten. Was folgte, war ein Sturz in Richtung Boden – samt Bruchlandung auf meinem Hintern.

Grummelnd rieb ich mir den unteren Rücken, der vom Aufprall schmerzte. Mit den Fingern massierte ich in Kreisen die geschundenen Muskeln.

»Zur Urmutter, das ist kein Traum, oder?«, flüsterte ich.

»Kein Traum«, stimmte meine Großmutter zu und verzog ihr Gesicht. »Deine Landung sah schmerzhaft aus.«

»Würde das nicht zwingend Landung nennen«, brummte ich.

»Deswegen sagte ich: Denk nicht an die Flügel.«

Ich schnaubte und sah sie fassungslos an.

»Wann hat es das letzte Mal in der Geschichte der Menschheit funktioniert, jemandem zu sagen, er solle nicht an etwas denken, und dann tat er es auch nicht?«

Sie legte den Kopf schief. Ihre Lippen vibrierten und verrieten, dass sie ein Lachen unterdrückte. Ich verengte die Augen, als könnte ich sie mit meinem Blick durchbohren.

»Entschuldige, Schätzchen«, presste Granny hervor. Das unterdrückte Lachen war deutlich zu hören. »Wenn man es so ausdrückt, dann hätte ich lieber nichts gesagt.«

Ich schnaubte erneut, dieses Mal lauter. »Willst du mir das erklären? Was war das für ein Canto, der mir Flügel verpasst hat? Habe ich das beim Meditieren unterbewusst gesungen? Als ich wieder zu mir kam, schwebte ich mit Flügeln aus Licht zwei Meter über dem Boden.«

Meine Großmutter biss sich auf die Unterlippe und hob die Brauen. Zur Urmutter, die Herrin der Oper, über dreihundert Jahre alt, kaute verdammt noch mal auf der Unterlippe herum wie eine Teenagerin. Manchmal fragte ich mich, wer von uns beiden die erwachsene Person war.

»Das war kein Canto im klassischen Sinn«, setzte sie an. Sie holte tief Luft und atmete gleichmäßig aus. »Ich würde ja sagen ›Setz dich‹, aber du sitzt ja schon.«

»Sehr witzig.«

»Ich könnte es dir erklären und dich Bücher wälzen lassen«, sagte sie.

»Bitte nicht.« Ich stöhnte genervt auf. Nicht schon wieder eine Woche in der Bibliothek, während alle anderen trainierten oder wahlweise Herzen erschufen.

»Oder wir reisen einfach zu der Entstehung der Hexen«, fügte Großmutter hinzu. Auf ihren Lippen lag ein geheimnisvolles Lächeln. In diesem Moment erinnerte sie mich ungemein an Angelina.

»Ich verstehe nicht ganz … Wohin reisen?«

»Nach Salem.« Sie zwinkerte. »Ins Jahr 1692.«

»Was zur Urmutter?!«

»Genau zu der, mein Liebling, genau zu der.«

* * *

Fünf Minuten später betraten wir einen Raum unterhalb der Oper. Mehrere gut gesicherte Stahltüren und von Wachen geschützte Korridore hatten uns hierhergebracht. Eisern hatte meine Großmutter geschwiegen – egal wie viele Fragen ich ihr im Sekundentakt an den Kopf gedonnert hatte.

Der kreisrunde Raum war in ein bläuliches Zwielicht getaucht, das von einer Art in den Boden eingelassenen Becken ausging. Die Flüssigkeit im Inneren blubberte gemächlich. Das Licht waberte träge durch den Raum und Dampfschwaden stiegen aus dem Wasser . Schwerfällig schwebten sie umher und vergingen langsam in den Weiten der hohen Kammer.

»Was ist das?«, flüsterte ich ehrfürchtig.

»Das, mein Lieber, ist unser aller Vergangenheit.«

»Ein Jacuzzi?« Ich zog eine Augenbraue in die Höhe und musterte meine Großmutter.

Sie schüttelte mit einem leisen Lachen den Kopf und setzte sich in Bewegung. Mit einem Nicken bedeutete sie mir, ihr zu folgen.

»In dem Becken lagern wir alle Erinnerungen der Familie McQueen. Von der ersten bis zur letzten Hexe, die gelebt hat«, erklärte sie andächtig. »Na ja, oder teils noch lebt, so wie ich.« Sie zwinkerte mir zu.

»Wow!« Mehr fiel mir dazu nicht ein. All das Wissen unserer Blutlinie war an diesem Ort gebündelt. Die Geschichte meiner Vorfahren, gut wie schrecklich. Ein Becken voll mit all den Geheimnissen, Errungenschaften und Verwirrungen von Hunderten von Jahren.

Bevor ich etwas hervorbrachte, stieg meine Großmutter samt Kleidung in die Flüssigkeit.

»Starr nicht so und komm zu mir«, sagte sie.

In diesem Augenblick war ich definitiv froh, dass wir uns nicht auszogen, so sehr ich Granny mittlerweile auch mochte. Selbst wenn es mir befremdlich erschien, bekleidet in ein Becken voll … Wasser … Erinnerungen … Flüssigkeit – was auch immer es war – zu steigen.

Zögerlich streckte ich einen Fuß in das Bassin. Dann den zweiten. Langsam glitt ich in die wässrige Masse. Entgegen meiner Erwartung war sie nicht feucht, sondern … warm, geschmeidig und weich zugleich. Sie kitzelte, und dennoch spürte ich sie kaum.

»Was genau ist das?«, fragte ich.

»Erinnerungen in ihrer reinsten Form. Magisch konserviert für die Ewigkeit.« Meine Großmutter lag auf dem Rücken und trieb an der Oberfläche. Ganz so, als würde sie in einem Pool entspannen.

Ich tat es ihr gleich. Obwohl die Flüssigkeit keinen wirklichen Widerstand darstellte, trug sie mich mit Leichtigkeit.

»Bereit, mein Liebling?«, fragte Granny und drehte ihren Kopf zu mir. Sie fuhr mit ihrer Hand über meine Wange. Liebevoll sah sie mich an, und in meinem Hals bildete sich ein Kloß. Die Angestellten der Oper, die Reaper und selbst der Orden fürchteten sie und stammelten vor Respekt, doch zu mir war diese beeindruckende Frau so unfassbar sanft, dass es mir den Atem verschlug.

»Ehrlich gesagt, nein.«

»Gut«, antwortete sie. »Diese Ehrfurcht solltest du haben. Was du sehen wirst, kennen nur sehr wenige. Und das hat seine Gründe, die du bald verstehen wirst.«

»Okay«, flüsterte ich. »Und ich bin bereit dafür?«

»Bist du. Der Gesang, den du vorhin gesungen hast, war ein Zeichen.«

»Was war das für ein Lied?«

»Schließ die Augen und folge mir nach Salem ins Jahr 1692 und du wirst verstehen.«

* * *

Rückblickend betrachtet konnte ich nicht benennen, ob ein winziger Moment oder eine Ewigkeit vergangen war. Die Flüssigkeit zog mich unter ihre Oberfläche, drang in meinen Körper ein und raubte mir jegliches Gefühl für Zeit und Raum. Ebenso die Panik, die ich hätte verspüren müssen – immerhin konnte ich unter Wasser nicht überleben.

Als ich die Augen öffnete, standen Granny und ich am Rand eines Waldes im Schatten der Bäume. Vor mir lag ein Städtchen. Die Häuser waren aus dunklem Holz erbaut, gesäumt von altmodischen Öllaternen und vielerlei Holzkisten. An einem Weg, der ins Stadtinnere führte, direkt zu einem Marktplatz, stand ein Holzschild. In schwarzen Buchstaben prangte dort das Wort Salem , eingebrannt für die Ewigkeit.

Ich drehte mich zu meiner Granny, wollte ihr Hunderte von Fragen stellen, doch sie schüttelte den Kopf und legte sich einen Finger an ihre Lippen. Kurz danach führte sie den Finger an ihre Augen, deutete dann auf die Stadt und gab mir zu verstehen, dass ich erst einmal alles in mich aufnehmen solle.

Wir näherten uns dem Marktplatz, die Sonne ging in diesem Moment hinter den hohen Baumwipfeln unter und tauchte mehrere Ansammlungen von Holz in der Stadtmitte in ein rötliches Licht. Ich verengte die Augen und erstarrte.

»Sind das …?«, flüsterte ich.

»Scheiterhaufen«, sagte Granny rau.

»Zum Töten von Hexen?«

Traurig schüttelte sie den Kopf. »Nein, von Menschen, die laut der Kirche Hexen sind. Nur gab es bis 1692 keine Hexen auf der Erde. Und dennoch wurden bis zu dem Zeitpunkt schon über vierzigtausend Unschuldige in Europa wegen Hexerei hingerichtet.«

»Wir sind aber in einer Kolonie der Neuen Welt, die mal zu Amerika wird?«

»Ja, in Salem, wo alles seinen Anfang nahm. Wir Erben, der Wald und der Fluch von uns McQueens.«

Türen wurden geöffnet und die ersten Leute verließen ihre Häuser. Nach einer Weile hatte sich der Platz gefüllt und mehrere Personen zerrten sieben Frauen und vier Männer in Ketten hinter sich her.

Mein Magen verkrampfte, während beißende Flüssigkeit meine Kehle hinaufwanderte. Mit Grauen beobachtete ich, wie diese Menschen an die Scheiterhaufen gekettet wurden, während sie schrien, bettelten und weinten. Wut schnürte mir die Luft zum Atmen ab. Mein Puls beschleunigte sich, das Blut rauschte in meinen Ohren.

Ein älterer Mann in einem schwarzen Anzug mit einem Kreuz um den Hals trat vor die Scheiterhaufen.

»Hiermit verurteile ich, Reverend MacCuinn, euch elf zum Tode durch das Feuer. Ihr wurdet als Hexen entlarvt und steht im Bunde mit dem Teufel selbst.«

Die Gefangenen wimmerten und beteuerten ihre Unschuld, während die Zuschauer Beleidigungen riefen und die angeblichen Hexen verhöhnten.

»Vater, bitte«, bettelte ein junges Mädchen von etwa dreizehn Jahren. Es wurde von einem anderen Geistlichen zurückgehalten.

Der Reverend warf ihr einen abfälligen Blick zu. »Sei froh, dass ich bezeuge, dass du keine Hexe bist. Willst du wegen des Sympathisierens mit dem Teufel ebenso hingerichtet werden, Constance?«

Ich drehte mich zu meiner Granny. »Constance MacCuinn , wie McQueen

Granny nickte und eine Träne glitzerte in ihrem Augenwinkel. Vorsichtig griff ich nach ihrer Hand, und sie drückte leicht zu.

Elf Männer traten an die Scheiterhaufen und entzündeten sie. Was dann geschah, vermochte ich nicht mit anzusehen und wandte meinen Blick ab. Dennoch spürte ich die Hitze auf meiner Haut und würde die Schreie nie wieder vergessen.

Eine urtümliche Wut schwappte über mich. Etwas regte sich im Wald. Purer Hass und Wut schlug mir entgegen.

»In diesem Moment ist der Wald von Salem erwacht«, flüsterte Granny. »Und mit ihm die Seelen aller Unschuldigen, die je als Hexen verbrannt wurden.«

»Über vierzigtausend Seelen?«

»Mehr sogar, aber ja. Deswegen ist seine Wut so alles einnehmend.«

Der Boden unter meinen Füßen erzitterte und Klageschreie hallten aus dem Dickicht der Bäume. Der Wald wirkte wie ein lauerndes Ungeheuer, das sich auf die Stadt Salem zu stürzen drohte. Die Einwohner zuckten zusammen, sahen verängstigt von den Scheiterhaufen zu den Bäumen.

Diesen Moment der Ablenkung nutzte Grannys junges Ich. Es riss sich los, rannte zum Feuer und warf sich davor auf die Knie. Ihre Stimme erinnerte an den Schrei einer Banshee.

»O heilige Mutter, hilf uns! Ich gebe dir meinen Leib, meine Seele, aber rette diese unschuldigen Menschen und vor allem meine beste Freundin Albertine.«

Mit diesen Worten warf sich Constance MacCuinn selbst in die Flammen und verbrannte. Ich wollte zu ihr rennen, sie aus dem Feuer zerren, doch es hätte nichts gebracht. All das war schon geschehen, und mein Magen krampfte sich zusammen. Schwer atmend sah ich weg, jedoch nicht zu meiner Großmutter, da ich nicht genau wusste, wie ich sie ansehen sollte, nachdem ich gerade erst gesehen hatte, wie sie sich opferte.

Die Menge raunte, ihr Vater brüllte, nur das Feuer verstummte. Es erlosch, und an seiner Stelle erstrahlte eine gut drei Meter große Frau mit weißen Flügeln. Auf ihrer Haut verliefen dünne goldene Linien, die verschiedene Punkte miteinander verbanden.

»Mein mutiges Kind«, dröhnte die Stimme der Frau so laut, dass sich alle Einwohner die Ohren zuhielten und schreiend zu Boden sanken. Für mich jedoch klang sie wie ein Orchester des Friedens und der Ausgeglichenheit. Nie zuvor hatte ich eine solch reine Liebe gespürt. »Ich werde dir deinen Wunsch erfüllen.«

»Wer oder was ist das?«, flüsterte ich.

»Freya, die Oberste Walküre – unsere Urmutter.«

Freya drehte sich zu den Scheiterhaufen und betrachtete die Leichen voller Trauer und Reue. Eine Träne löste sich aus ihren Augen und sie fing sie in ihren Händen auf. Einen Moment lang geschah nichts, die Zeit stand still, doch dann explodierte die Träne in einem Feuerwerk aus purem Licht.

Alle Einwohner Salems fielen in Ohnmacht, während Freya die Träne aussendete. Sie schwebte über den Toten, erleuchtete die Körper, und einen Wimpernschlag später lösten sich zwölf Lichtkugeln aus den Verstorbenen. Die Träne zersplitterte in etliche Funken, die zum größten Teil mit den Kugeln verschmolzen. Nur ein paar verflüchtigten sich in der Weite des Platzes.

»Zieht in alle Welt und lebt!«, rief Freya. »Nutzt mein Geschenk. Auf dass ihr nie wieder im Namen der Kirche unter der Tyrannei von Männern leiden müsst, die euch zu unterwerfen versuchen.«

Die Lichtkugeln summten für einen Moment und schossen daraufhin in alle Himmelsrichtungen davon. Nur eine Kugel blieb zurück, jene, die sich aus Constance erhoben hatte.

Freya sah sie liebevoll an. »Es tut mir leid, mein Kind, aber das Geschenk erfordert einen Preis – eine Bürde. Ich binde das Wohl aller Hexen an deine Blutlinie, auf dass ihr sie mit Würde und Mut führen mögt. Erlischt deine Blutlinie, sterben alle Hexen mit euch.« Langsam verwob sich ein Zauber über der Lichtkugel, der diese Bürde trug.

»Das ist unmöglich!«, stieß ich viel zu laut hervor.

Freya drehte sich plötzlich um, sah mir direkt in die Augen und lächelte. »Harlow McQueen, du bist es.« Sie zwinkerte mir zu. »Wir werden uns bald treffen.«

Der Wald von Salem schien auf diesen Moment gewartet zu haben. Er schickte all seinen Hass, seine Wut und den Durst nach Rache aus. Hunderte von Krähen schossen auf den Zauber über der Lichtkugel zu und umschwärmten ihn. Instinktiv sang ich eine Melodie, und ein großer Schwall goldener Funken flog aus meinem Mund zu den Vögeln. Die Krähen und die Funken versanken zeitgleich in der Lichtkugel, die die Bürde der McQueens beinhaltete. Aus Gold und Schwarz wurde … Rot.

»Ein Fluch«, raunte ich, und mir wurde in diesem Moment die Tragweite meines Eingreifens bewusst. »Ich bin schuld, dass es den Fluch der Krone gibt? Er war nie als solcher gedacht, oder?«

»So ist es«, antwortete Freya. »In diesem Moment sind Flüche allgemein entstanden. Sie bestehen aus der Magie der Walküren und aus der des Waldes. Du, Harlow McQueen, bist der Erschaffer des Fluchs der Krone. Sie ist deine Schöpfung und dein Geburtsrecht – bald schon wird sie zu dir zurückkehren.«

»Aber … wie ist das möglich? Das ist … dreihundert Jahre her«, stammelte ich.

»Zeit und Raum spielen für Wesen wie den Wald und uns Walküren keine Rolle. Für uns existiert alles gleichzeitig. Deine Frage ist die von Huhn und Ei. War der Fluch zuerst da oder du?« Sie sah liebevoll zu mir. »Lass es mich dir so erklären: Es gibt unendlich viele parallel verlaufende Realitäten. In der Welt der Sterblichen nennen es berühmte Philosophen seit der Antike die Mehrwelten- oder Multiversen-Theorie. In einer dieser vielen Realitäten hat der dortige Harlow den Fluch erschaffen, nur sind der Wald und die Magie der Walküren kombiniert so mächtig, dass dieser Fluch in jede andere Realität geblutet ist – so auch in deine.« Freyas Güte strahlte aus jeder Faser ihres Seins. »Ein Harlow hat den Fluch erschaffen, alle Harlows in allen Realitäten müssen dessen Konsequenzen tragen. Ich weiß, das ist schwer zu begreifen, aber dies ist der simpelste Weg, es zu erklären.«

»Das heißt, ich war es gar nicht, der den Fluch erschaffen hat, und doch war ich es?« Ich runzelte die Stirn.

»Nicht du, der du hier bist. Aber du, der du dort warst. Nur einer von euch ist schuld, die Krone hingegen müssen alle tragen oder beim Versuch, eure Mütter zu töten, sterben.«

Nun hatte ich eine Antwort, die auch logisch war, nur erschien es mir schier unmöglich, es wirklich in der Gänze zu begreifen.

Ich sank zu Boden. All das Leid, alle Toten, jede Gräueltat meiner Mutter waren allein meine Schuld. Vielleicht nicht die des Harlows, der ich jetzt war, aber dennoch einer Version von mir. Gäbe es mich nicht, gäbe es ebenso auch keinen Fluch. Ich zitterte, schrie, weinte, tobte, bekam nichts mehr um mich herum mit. Schatten und Licht stießen aus mir empor, während Irrsinn an meinem Verstand zerrte und versuchte, ihn in seine warmen Arme zu locken.

Da spürte ich eine Hand an meiner Stirn. »Wie schon Hunderte Male und doch niemals zuvor, nehme ich dir die Erinnerung an die Schuld. Alles soll sein, wie es ist. Ein unendlicher Kreis, eine ewige Wiederholung. Du wirst dich daran erinnern, dass der Fluch dein Spross ist, sobald er mit dir vereint ist. Bis dahin gehe den vorherbestimmten Weg. Wir sehen uns bald wieder, mein Kind.«

* * *

Ich erwachte schnaufend im Becken unterhalb der Oper. Erinnerungen an Salem, die Walküre, meine Granny, wie sie sich opferte, schossen durch meinen Kopf – doch so schnell und wirr, dass ich keine einzige greifen konnte. Wie feiner Nebel glitten sie mir durch die Finger und ließen sich nicht fassen.

Granny half mir aus dem Becken und lächelte mich milde an.

»Was waren das für leuchtende Kugeln?«, fragte ich.

»Die Seelen der ersten Hexen – meine und die der anderen elf Unschuldigen, die zu den Obersten Hexen wurden. Wir haben uns über die Welt verteilt und wieder menschliche Form angenommen. In zwölf Ländern, auf dass uns weder die Häscher der Kirche noch der Wald je fänden.«

»Hat ja nicht sonderlich gut funktioniert«, sagte ich.

»Für einige Jahre hat es das sehr wohl. Doch der Wald fand uns, weshalb vier von uns mit ihren neuen Familien auf der Flotte der First Fleet aus England ans andere Ende der Welt reisten. Dort erbauten wir Sydney als sicheren Hafen für eine neue Hexengesellschaft.«

»Die Gründerfamilien«, hauchte ich.

»So ist es. Aber der Wald fand uns nach einiger Zeit auch hier, so wie er alle anderen Erben von Salem in der Welt fand. Deswegen erschufen wir alten zwölf die Schattenseite und verbannten ihn dorthin.«

»Und die kleinen Funken, die zerstoben sind? Was waren das für welche?«

»Echos der Magie – sie pflanzten sich in geeignete Menschen in aller Welt und ließen sie ebenso zu baldigen Hexen werden. Jedoch nicht diese Frauen selbst, sondern erst deren Kinder. Ihre Kraft ist deutlich schwächer als die von uns Erben, weil es nur ein Echo war.«

»Deswegen gibt es so viele Coven, die nicht den zwölf Familien angehören? Hatte schon etwas Angst, dass es auf Inzest hinauslief.«

Meine Granny lachte und schlug mir spielerisch gegen die Schulter. »Unzählige Coven, ja. Aber ein jeder ohne die Blutgaben oder Affinität für ein Element. Sie können Cantos singen, sind Teil unserer Gesellschaft, nur werden sie nie die Macht einer der Blutlinien der Erben erreichen.«

»Wieso konnte mich die Walküre sehen, obwohl es eine Erinnerung war?«

»Weil du etwas Besonderes bist. Ein Geschenk der Urmutter.«

»Lass mich raten, du erklärst es mir nicht genauer und ich erfahre es, sobald die Zeit reif ist?« Ich brummte genervt.

»Tut mir leid, ich kann darüber nicht reden, selbst wenn ich wollte.«

»Große Überraschung, ein weiteres Geheimnis.« Mühevoll unterdrückte ich ein Augenrollen.

»Du solltest ins Anwesen zurückkehren und dich ausruhen. Wir trainieren die Meditation morgen weiter und suchen dir dein Outfit für den Sommersonnenwendeball übernächste Woche heraus.«

»Muss das sein? Kann ich nicht fernbleiben wie du?«

»Harlow Jammison Cassidey McQueen –«

Shit, mein voller Name. Das war definitiv ein Nein.

»Seit alle McQueens nach Casiopaias Krönung auf die Lichtseite geflüchtet sind, war keiner mehr von uns beim Ball. Du gehst da hin und zeigst, dass wir zurück sind und uns nicht geschlagen geben. Außerdem musst du alle Register ziehen, die dir Angelina beigebracht hat. Es ist ein politischer Auftritt, und wir brauchen Verbündete.«

Mit einem Seufzen nickte ich, gab ihr einen Kuss auf die Wange und machte mich auf den Heimweg.

* * *

Zurück im Anwesen, brummte mir der Schädel. Ich wandelte wie in Trance in die Küche. Dort schnappte ich mir ein Bier aus dem Kühlschrank, öffnete es mit meinen Zähnen und leerte die Flasche in einem Zug. Lachend fuhr ich mir durch mein Haar und schüttelte den Kopf.

Walküren.

Wir Hexen waren erschaffen worden durch die Träne von einer verdammten Walküre. Eigentlich hätte mich nach Wochen auf der Schattenseite nichts mehr wundern sollen, und dennoch … Walküren! Weiß, extrem hell und mit Flügeln.

»O Shit!« Jax stand im Türrahmen und musterte mich belustigt. »Kein ›Hallo, Schatz, ich habe dich vermisst‹, sondern direkt zum Kühlschrank und ein Bier? Und seit wann öffnest du Flaschen mit den Zähnen?«

Ich sah ihn verwundert an. Seit wann ich Flaschen mit den Zähnen öffnete? Vermutlich seit ich wusste, wer uns erschaffen hatte und ich allgemein gerade nicht wusste, was ich tat.

»Walküren«, murmelte ich.

Jax löste sich aus dem Türrahmen und schlenderte grinsend zu mir. Nur bekleidet mit einer grauen Jogginghose und sonst nichts, biss er sich auf die Unterlippe und sah mir eindringlich in die Augen. »Wann ist der Schnösel zu einem einsilbigen Neandertaler geworden, und wieso macht mich das auf eine verstörende Art scharf?«

Ich gab ein schnaubendes Lachen von mir, gefolgt von einem Seufzen. »Sexy Times gut, aber wir reden. Jax setzen«, sagte ich in Anlehnung an meine beste Imitation eines Neandertalers.

»Auf deinen Schoß?« Jax kam vor mir zum Stehen und wackelte mit seinen Brauen. Dann biss er mir leicht in die Unterlippe – und ich wünschte, wir wären in einem Porno und nicht auf der Schattenseite und die Kinder von … ja, immer noch Walküren.

Widerwillig drückte ich ihn von mir. »Stuhl«, antwortete ich und zeigte auf besagtes Objekt am Küchentresen.

»Jax brav. Jax sitzen.« Er setzte sich und zwinkerte mir zu. »Jax Belohnung?«

Erneut seufzte ich. Es kostete mich einiges an Willen, dem Drang zu widerstehen, ihn mir über die Schulter zu werfen und ihm zu zeigen, wie Neandertaler-Harlow ihn aufs Bett warf. Aber dafür musste später Zeit sein, jetzt hieß es, ihm von dem Erfahrenen zu berichten.

»Die Erben von Salem wurden von einer Walküre erschaffen«, platzte ich mit der Wahrheit raus. »Das Hexenblut besitzt Spuren ihrer Tränen, um genauer zu sein. Daher kommt unsere Magie.«

Jax blinzelte mehrfach. »Verarschst du mich? Oder sind wir von Neandertaler-Rollenspiel zu Walküren-Sexy-Time gewechselt?«

Er kratzte sich verwirrt am Hinterkopf, während ich zum Kühlschrank schritt, zwei Bier herausnahm und mich neben ihn setzte.

»Hier, das wirst du brauchen.« Und dann erzählte ich ihm in allen Details von meiner Reise in die Vergangenheit.

* * *

Nicht ein Wort hatte Jax von sich gegeben, während ich berichtete. Mal ein kurzes Nicken, mehrfach geweitete Augen, ein erstauntes Brummen – Worte hingegen keine.

Er atmete tief ein und ließ die Luft langsam durch die Nase entweichen, dann sagte er: »Wow.«

»Ganz deiner Meinung.«

»Walküre?«, fragte er.

»Walküre.«

»Mit Flügeln?«

»Ja, und blendendem Licht.«

»Wow.«

Ich lachte und schüttelte den Kopf.

»Wer weiß davon?« Jax griff nach meiner Hand und strich sanft über den Handrücken.

»Angeblich nur die Erstgeborene und ein paar wenige Eingeweihte.«

»Also sind wir übernächste Woche nicht nur auf dem nervigen Sommerwendenball und werden offiziell in die feine Gesellschaft eingeführt, sondern wir tun gleichzeitig so, als wüssten wir nicht, dass die Erstgeborenen vor dreihundert Jahren einer echten Walküre begegnet sind?«

»Klingt korrekt, ja.«

»Shit.« Jax lachte und gab mir einen langen Kuss. »Bekomme ich davor, also zum Beispiel jetzt, noch mal Neandertaler-Harlow als Ablenkung?«

Mit einem Schwung stand ich auf, packte ihn an der Hüfte und warf ihn mir über die Schulter. Lachend schlug er mir auf den Po, während ich ihn in mein Zimmer brachte.

Als die Tür hinter uns zufiel, hörte ich Teagan stöhnen. »Die Urmutter steh uns bei, wenn die das neue Königspaar werden.«