D er nächste Tag verging in einer Art Trance für uns alle. Ich erinnerte mich kaum, was ich tat. Schlenderte die langen Gänge des Anwesens entlang, kuschelte mit Jax, aber primär schonte ich meine Stimmbänder. So auch die anderen. Kaum jemand redete, und die kommende Schlacht hing wie ein grauer Schleier über uns.
Meine Großmutter verteilte derweil zusammen mit Declan und seinen Reapern die Herzen und übernahm sonstige Erledigungen. Jax war freigestellt worden, damit auch er seine Stimmbänder schonen konnte. Sie würden unsere wichtigsten Waffen gegen den Wald und Casiopaia sein – und somit über Sieg oder Niederlage entscheiden.
Um halb acht trafen Jax, Teagan und ich an der goldenen Lichtbrücke auf Declan. Mehrere Hundert Hexen hatten hier ihre Lager aufgeschlagen, tuschelten leise oder starrten gedankenverloren auf den schwarzen Wald vor uns.
»Hey, da seid ihr ja«, begrüßte uns Declan. Vielleicht wollte er gelassen klingen, doch das leichte Zittern in seiner Stimme war nicht zu überhören.
»Sind das alle?« Ich deutete auf die wartenden Hexen. Natürlich waren ein paar Hundert von ihnen nicht wenig, aber ich hatte mit deutlich mehr gerechnet, wenn man bedachte, dass ausnahmslos jede der zwölf Blutlinien zugesagt hatte zu helfen.
Declan richtete seinen Blick auf die Anwesenden. »Nicht einmal im Ansatz. Das sind nur die vier Familien aus Sydney. Die meisten anderen Blutlinien betreten den Wald von ihrer Stadt aus. Wir treffen uns bei einem Sukkubus-Clan, den Teagan überreden konnte, dass dessen Siedlung als Stützpunkt dient, aus dem aus wir ins Herz des Waldes gelangen.«
Ich sah zu meiner Leibwächterin. Sie war ungewöhnlich angespannt. Normalerweise war ihr Stress nicht anzumerken, doch heute konnte sie die Maske der Professionalität nicht überstreifen und tigerte umher.
»Der Clan wird aber nicht an unserer Seite kämpfen«, sagte Teagan. »Fast alle Clans haben klargemacht, dass sie weiterhin neutral bleiben. Manch anderer, höriger Clan wird im Ernstfall sogar zum Wald halten, falls er sie unter Druck setzt.«
»Damit war zu rechnen«, erwiderte Declan. »Immerhin seid ihr aus dem Boden des Waldes erwachsen. Nur wenige von euch können sich gänzlich von ihm lösen.«
»Hat mich Jahre gekostet«, sagte Teagan. »Auch heute spüre ich ihn manchmal noch, und damit das Verlangen, wieder ein Teil von ihm zu sein. Er ist wie eine starke Droge – ich bleibe mein Leben lang abhängig.«
»Kann er dich zwingen?«, flüsterte ich. Mein Hals fühlte sich plötzlich staubtrocken an.
Teagan wuschelte mir durchs Haar. »Niemand kann mich zwingen, nicht an deiner Seite zu kämpfen, Kleiner.« Nach einem kurzen Zögern küsste sie meine Stirn. »Du bist für mich Familie, Harlow. Eher sterbe ich, als dass ich dich verrate!«
»Kein Sterben heute, okay?«, presste ich hilflos hervor.
»Sorry, dass ich diese Blase zum Platzen bringe«, sagte Declan, und er wirkte tatsächlich so, als würde es ihm leidtun. »Aber heute werden viele sterben. Hexen wie auch Kinder des Waldes. Und ultimativ Casiopaia oder du. Es bringt nichts, sich falsche Hoffnungen zu machen.«
Phoebe trat zu uns und sagte: »Mein Bruder ist ein Motivationskünstler sondergleichen.« Dann sah sie zu Jax. »Hey, Bad Boy. Bereit?«
»Nein«, antwortete mein Freund.
»Ich auch nicht.« Phoebe legte einen Arm um seine Schultern und zog Jax dichter an sich. »Aber wir bringen euch da heil heraus. Immerhin musst du mich zu deiner Trauzeugin machen.«
»Wenn wir überleben, dann denke ich darüber nach, ob Declan und du meine Trauzeugen werdet.«
»Hey, was habe ich damit zu tun?«, brummte Declan, doch seine Mundwinkel zuckten. Es war unverkennbar, dass er Jax in sein Herz geschlossen hatte.
»Nenn es Rache. Du hast mich ja auch nicht gefragt, ob ich Reaper werden will.« Schmunzelnd zuckte Jax mit den Schultern.
»Ich hasse euch beide.« Declan schüttelte den Kopf und drehte sich zu mir. »Du hältst dich im Hintergrund, verstanden?«
»Wieso? Nein, kommt gar nicht infrage!«
»Das ist ein Befehl. Deine Aufgabe ist es, Casiopaia zu stellen. Wir anderen sorgen dafür, dass du zum Schloss gelangst. Das ist nicht verhandelbar!«
»Mon ami, er hat recht«, erklang eine vertraute Stimme hinter mir, woraufhin ich herumwirbelte. Albertine LeBlanc kam in Begleitung zu uns herüber. »So hart es klingt, du musst überleben und Casiopaia stellen. Wirst du durch ein Kind des Waldes verletzt oder deine Stimmbänder überreizt, sind alle Opfer umsonst gewesen.«
Nachdem sie sowohl Jax als auch mir drei Küsschen links und rechts gegeben und Declan freundlich zugenickt hatte, deutete sie zu den beiden Personen neben sich.
»Das ist Baptiste LeBlanc, mein Sohn und Erbe unserer Blutlinie. Der vielversprechendste Nekromant, den die Hexenwelt kennt.«
Der junge Mann, voller aufwendiger Tattoos, die auf seiner schwarzen Haut blau, weiß und rot strahlten, reichte mir die Hand. Mit der anderen rieb er sich über die kurz geschorenen schwarzen Haare.
»Maman übertreibt gern«, sagte er mit deutlich erkennbarem franko-kanadischen Akzent.
»Ne dis pas de bêtises«, raunte seine Mutter.
»Oui, maman. Keinen Unsinn reden, verstanden.« Er grinste und zeigte seine perfekten weißen Zähne.
Albertine gab ein lang gezogenes Seufzen von sich, drehte sich dann aber zu einer weiteren Person. Sie war groß gewachsen, hatte weiße Haut mit einer leichten Sommerbräune und einen stylischen Iro in Neonpink.
»Darf ich vorstellen? Adri Rinaldi, sier ist die nächste Person der Erbreihenfolge der Rinaldis. Zusammen mit sierem Bruder, den du auf dem Ball getroffen hast, Harlow.«
Adri lachte laut. »Mit einem Fluch getroffen , wohl eher.« Sier streckte mir die Hand entgegen, die ich schüttelte. »Danke dafür. Ich muss wohl nicht erwähnen, wie er darüber denkt, dass ich nicht-binär bin?«
»Kann ich mir vorstellen.« Ich konnte mir das Grinsen kaum verkneifen. »Hat er oft Schmerzen, wenn ihn der Fluch für seine diskriminierenden Worte bestraft?« Natürlich kannte ich die Antwort, da mein Arm in diesen Momenten juckte, dennoch interessierte mich siere Meinung dazu.
»Nicht oft genug«, antwortete sier und zwinkerte mir zu. »Ich habe die Rinaldis, die nicht den Überzeugungen meines Vaters folgen, mitgebracht. Es ist uns eine Ehre, dich zu unterstützen!«
»Nur als kleiner Denkansatz«, flötete Albertine. »Die Hexenkönigin ernennt die neuen Oberhäupter der Blutlinien. Also … Ich meine … Falls wir eine neue Hexenkönigin bekommen, könnte diese Adri benennen.« Albertine schaute dabei so unschuldig, dass ich lachte.
»Nur als Denkansatz, ja?«, fragte ich.
»Oui, bien sûr.«
Lune Dubois kam zu uns herüber. »Albertine, beeinfluss die Kinder doch nicht.« Sie nickte freundlich in die Runde.
»Würde mir nie einfallen, meine Beste«, antwortete die Oberste Hexe der LeBlancs.
»Natürlich. Sicher nicht.« Lune sah die andere Erbin von Salem mit erhobenen Brauen an. »Aber ich stimme dir zu. Adri wäre die richtige Person für das Amt.«
»Auch wenn es mir eine Ehre wäre, steht uns erst eine Schlacht bevor«, antwortete Adri verlegen.
»Du bist so pflichtbewusst, mein Kind«, sagte Lune respektvoll. »Ganz anders als dein Vater. Es ist wahrlich Zeit, in den Reihen des Hexenrats für frischen Wind zu sorgen.« Lune wandte sich an mich. »Die Dubois’ sind ebenfalls hier und folgen deinem Wort, Erbe der McQueens.«
Bevor ich antworten konnte, stimmte sie eine Melodie an, und alles um uns verlangsamte sich, bis die Zeit stoppte. Außer Lune und mir bewegte sich niemand, eingefroren in Zeit und Raum. Kein Blatt bewegte sich, alle Anwesenden standen still und jegliche Geräusche waren verstummt. »Das hält nur wenige Augenblicke und kostet mich ungeheure Kraft«, sagte sie ernst, während ich verwundert die Augen weitete. »Die Preas sagen, dass eine hohe Wahrscheinlichkeit besteht, dass wir die Schlacht gewinnen, wenn wir uns genauestens an deinen Plan halten. Achte darauf, dass du alles durchziehst, wie du es dir ausgelegt hast – lass dich nicht ablenken und sag niemandem, wie wichtig diese Einhaltung ist. Nicht einmal Jax. Sie würden sich die ganze Zeit fragen, ob sie richtig oder falsch handeln – und schon geriete alles aus den Fugen. Hör auf dein Herz und vertraue auf dein Gefühl, es wird dich leiten.«
Lune blinzelte, sang einen weiteren Canto und die Zeit nahm wieder ihren Lauf. Schwer atmend stand sie vor mir, Schweißperlen hatten sich auf ihrer Stirn gebildet. Ein Beweis dafür, wie anstrengend es war, die Zeit auch nur für wenige Sekunden anzuhalten.
»Meine Beste, geht es dir gut?«, fragte Albertine besorgt, doch huschte ihr Blick zwischen Lune und mir hin und her. Ein wissendes Lächeln legte sich auf ihre Lippen und sie lenkte direkt ein. »Macht deine Allergie dir zu schaffen? Du solltest zu einer Reyes-Hexe gehen, um dich untersuchen zu lassen.«
Lune nickte knapp. »Entschuldigt mich.«
Damit eilte sie davon und entging den Fragen, die mir auf der Zunge lagen. Ich atmete tief durch und nahm mir zu Herzen, was Lune gesagt hatte. Es war an der Zeit, an mich und den Plan zu glauben. Ich würde heute die Hexenkönigin töten und ihre Schreckensherrschaft beenden.
Obwohl ich wusste, dass es durchaus arrogant anmutete, jetzt schon an den Sieg zu glauben, war ich mir sicher, dass ich in wenigen Stunden den Fluch der Krone auf meiner Stirn tragen würde. Und es bescherte mir eine Heidenangst.
Freya und Hrist hatten über Jahrzehnte hinweg sicherzustellen versucht, dass ich die neue Hexenkönigin werden würde. Die einzige Frage, die mich umtrieb, war: Wer starb und wer überlebte, damit ich eine verfluchte Krone tragen würde?