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Horatio Slade machte sich keine Illusionen über den Ausgang des anstehenden Prozesses, als man ihn in den Gerichtssaal führte, ihm freundlicherweise die Handschellen abnahm und er neben seinem Pflichtverteidiger Nigel Winterthorpe Platz nahm. Dieser blickte recht sauertöpfisch drein. Vermutlich weil er gezwungen war, seine Zeit mit einem Fall zu vergeuden, bei dem der Prozessverlauf und der Richterspruch schon vor Eröffnung des Verfahrens feststanden. Deshalb war es auch kein Wunder, dass die Staatsanwaltschaft einen blutjungen Kronanwalt mit der Anklage betraut hatte, dessen Aufregung sich an den roten Flecken auf seinem sonst blassen Gesicht ablesen ließ.

Aber selbst dieser nervöse, unerfahrene Grünschnabel in schwarzer Robe und mit gepuderter Perücke würde nicht lange brauchen, um das Gericht von Horatio Slades Schuld zu überzeugen. Die Aussagen der Zofe Amelia Winslow und des Stallknechts George Busby, die ihn bei seinem Einbruch in das feudale Landhaus von Sir Oliver Quincy auf frischer Tat ertappt hatten, würden sozusagen die Nägel im Sarg seiner Verurteilung sein. Dass er in jener unglückseligen Nacht noch hatte flüchten und sich einer Verhaftung vor Ort hatte entziehen können, war nur ein kurzer Aufschub gewesen. Denn bedauerlicherweise existierte in der »Kundenkartei« von Scotland Yard am Victoria Embankment ein recht gutes Konterfei von ihm, anhand dessen sie ihn identifiziert hatten. Wobei das erste und wenig schmeichelhafte Polizeifoto, das ihn noch als schmächtigen, hohlwangigen jungen Burschen von gerade mal siebzehn Jahren gezeigt hatte, unerfreulicherweise erst unlängst eine Aktualisierung durch einen Fotografen des Yard erfahren hatte.

Neuerdings zeigte das Foto also einen Mann von einunddreißig Jahren, dessen sehnig schlanke Gestalt der eines durchtrainierten Marathonläufers ähnelte, der das schwarze pomadisierte Haar nach hinten gekämmt und in der Mitte akkurat gescheitelt trug und dessen ausdrucksstarkes Gesicht mit der runden Nickelbrille auf der schmalen Nase, dem schwarzen Strich von Schnurrbart auf der Oberlippe und den wachsam blickenden Augen gut und gern das eines scharfsinnigen Inspektors von Scotland Yard hätte sein können. Ein Gesicht, das man jedenfalls so schnell nicht vergaß, wenn man ihm wie die Zofe und der Stallknecht einmal in einer ungewöhnlichen Situation begegnet war.

Nein, Horatio Slade machte sich keine Illusionen. Er wusste, was ihn erwartete. Sein Schicksal war für die nächsten vier, fünf Jahre besiegelt. Er machte sich deshalb auch keine Mühe, dem Prozessverlauf zu folgen. Ohne sich um die missbilligenden Blicke seines Verteidigers zu kümmern, griff er zu Notizblock und Stift und zeichnete aus dem Kopf das Gemälde Dienstmagd mit dem Milchkrug von Jan Vermeer nach. Die Wahl dieses meisterlichen Motivs erschien ihm passend zu sein, zumal gerade die Zofe Miss Winslow vom Anwalt der Krone in den Zeugenstand gerufen wurde, um ihre Aussage zu machen.

Horatio Slade versank völlig im Nachzeichnen des Gemäldes eine Aufgabe, in die er sich mit Hingabe stürzte und vergaß darüber gänzlich, was um ihn herum vor sich ging. Gerade war er damit beschäftigt, den Korb mit dem Brotlaib zu zeichnen, der auf Vermeers Gemälde zu sehen war, als plötzlich ein lautes Raunen durch den Saal ging und sein Pflichtverteidiger Nigel Winterthorpe seinen Arm packte und ihn mit einem aufgeregten Zuruf zurück in den Gerichtssaal holte.

»Allmächtiger! Haben Sie das gehört, Mister Slade?«

Verwirrt blickte Horatio Slade von seiner Zeichnung auf. »Nein. Was sollte ich denn gehört haben?«, fragte er mäßig interessiert zurück. Er verstand nicht, warum auf einmal alle aufgeregt durcheinandersprachen, der junge Ankläger vor dem Zeugenstand lauthals protestierte und der Richter mehrfach seinen Hammer auf das Schlagholz krachen ließ, um sich in dem Tumult Gehör zu verschaffen, und dabei drohend rief: »Ruhe! . . . Ruhe! Oder ich lasse augenblicklich den Saal räumen!«

»Die Zofe hat ihre Aussage widerrufen!«, teilte Nigel Winterthorpe seinem Mandanten indessen mit.

»Wie bitte? Was will sie denn widerrufen haben?« Ungläubig sah Horatio Slade ihn an. Er glaubte, sich verhört zu haben.

»Ja, Sie haben schon richtig gehört! Miss Winslow hat soeben ausgesagt, dass sie sich bedauerlicherweise bei der Identifizierung des Einbrechers anhand der ihr vorgelegten Fotos geirrt hat. Sie, Mister Slade, seien jedenfalls nicht der Einbrecher gewesen, der ihr in jener Nacht in die Arme gelaufen sei. Dessen sei sie sich absolut sicher, wo sie Ihnen ja nun Auge in Auge gegenüberstehe. Begreifen Sie, was das für den weiteren Verlauf des Prozesses bedeutet?« Er gab die Antwort gleich selber. »Sogar wenn Mister Busby bei seiner Aussage bleibt, steht die seine gegen die der Zofe. Mit ein wenig Glück ist ein Freispruch möglich!«

Es kam erst gar nicht dazu, dass Aussage gegen Aussage stand. Denn auch der Stallknecht George Busby beteuerte wenig später, dass der Mann auf der Anklagebank namens Horatio Slade nicht mit jenem Mann identisch sei, den er im Haus seiner Herrschaft beim Einbruch überrascht habe. Es müsse da eine Verwechslung bei der Vorlage der Fotos bei Scotland Yard gegeben haben. Wie das habe geschehen können, sei ihm ebenso ein Rätsel wie Miss Winslow. Und nein, es habe nichts damit zu tun, dass sie beide seit Kurzem verlobt seien und in Bälde zu heiraten gedächten. Und ja, das nehme er ebenso wie Amelia Winslow auf seinen Eid, hohes Gericht!

Kurz darauf verließ Horatio Slade das Gerichtsgebäude in der Great Marlborough Street als freier Mann und mit einem heiteren Lächeln auf dem Gesicht. Er wusste zwar nicht recht, was er davon halten sollte, dass die Zofe und der Stallknecht ihn nicht als jenen Mann wiedererkannt hatten, den sie im Haus von Sir Oliver auf frischer Tat ertappt hatten. Aber letztlich interessierte es ihn auch nicht. Er nahm die Dinge so, wie sie kamen. Zwischen den Widrigkeiten und Glücksfällen des Lebens eine irgendwie geartete innere Verbindung zu suchen und hinter alldem einen tieferen Sinn zu finden, diesen Unfug hatte er sich schon in jungen Jahren abgewöhnt.

Ein livrierter Bote mittleren Alters kam ihm entgegen, gerade als er die Straße überqueren wollte. Er trat ihm in den Weg und sprach ihn respektvoll an. »Entschuldigen Sie, Sir. Habe ich es mit Mister Horatio Slade zu tun?«

»Ja, das haben Sie in der Tat. Was gibt es?«

»Ich habe den Auftrag, Ihnen diesen Brief hier auszuhändigen, wenn Sie aus dem Gerichtsgebäude kommen, Sir«, teilte ihm der Bote mit ausgesuchter Höflichkeit mit und hielt ihm einen Umschlag aus schwerem cremefarbenem Büttenpapier hin.

Verwundert nahm Horatio Slade den Brief entgegen und suchte vergeblich auf der Rückseite nach dem Namen eines Absenders.

»Zudem soll ich Ihnen noch etwas mündlich ausrichten«, fuhr der Bote fort. »Zwei Sätze sind mir aufgetragen worden, Sir. Der erste lautet: ›Das Wunder ist nicht einfach so vom Himmel gefallen!‹ Und der zweite: ›Aus freiem Flug auf Adlerschwingen kann schnell ein Leben mit gestutzten Flügeln in einem engen Käfig werden.‹ Fragen Sie bitte nicht, was das bedeuten soll, Sir. Aber mein Auftraggeber meinte, dass Sie es schon wissen werden.« Mit diesen Worten deutete er eine Verbeugung an, wandte sich auf dem Absatz um und entfernte sich schnellen Schrittes.

Verdattert und mit dem Brief in der Hand, sah Horatio Slade ihm nach. Er verstand die Botschaft sehr wohl. So schwer war sie, nach der unglaublichen Wendung der Ereignisse vorhin im Gerichtssaal, auch nicht zu verstehen. Doch er hatte nicht den Schimmer einer Ahnung, wer die Zofe und den Stallknecht zum Meineid gebracht hatte und warum.

Zu Beginn seines Prozesses war Horatio Slade die Ruhe und Gelassenheit in Person gewesen. Doch nun packte ihn Unruhe, ja fast sogar eine Art von Beklemmung, als er unter den drei Glockenschlägen von Big Ben den Brief aufriss.