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Der frische Wind, der von der nahen Küste kam und das Salz der See mit sich trug, riss das herbstliche Laub von den Bäumen und Sträuchern der Grafschaft Kent und wehte es vor sich her. Auch in Westonhangar fegte der Wind zahllose Äste kahl und scheuchte das verdörrte Blattwerk raschelnd über den Vorplatz der bescheidenen Bahnstation. Und als sich der Nachmittagszug aus London unter dem stoßhaften Keuchen seines Dampfkessels näherte, fiel der Wind lustvoll über seine lange grauschwarze Rauchfahne her. Er zerriss den schmutzigen Schleier, den der Schornstein der Lokomotive hinter sich herzog, und umwirbelte die Waggons hinter dem Kohlentender mit rußigen Rauchwolken.

Byron senkte den Kopf zum Schutz vor den Rauchschwaden, als er mit seiner ledernen Reisetasche aus dem Waggon der ersten Klasse stieg, und beeilte sich, möglichst rasch vom zugigen Perron der kleinen Bahnstation zu kommen. Den anderen Fahrgästen, die ebenfalls hier in Westonhangar ausstiegen, schenkte er keine Beachtung. Festen Schrittes hielt er auf den Ausgang zu, wo Lord Pembrokes Kutsche schon auf ihn warten musste.

Byron Bourke trug, dem Wetter sowie der gesellschaftlichen Stellung seines Gastgebers gemäß, über seinem taubengrauen Cutaway und den grau-schwarz gestreiften, röhrenförmigen Hosen einen dunkelgrauen Tuchmantel mit Pelzkragen. Seine Füße steckten in schwarzen, blank polierten Stiefeletten, die vorn spitz zuliefen, und auf seinem Kopf saß eine steife schwarze Melone. Feine Lederhandschuhe und ein Spazierstock mit versilbertem Knauf vervollständigten seine Aufmachung.

Zwar wusste er, dass der Cutaway mittlerweile aus der Mode gekommen war und nur noch wenige diesen Gehrock mit den vorn abgeschnittenen Schößen trugen. Er hielt diese Kleidung jedoch noch immer für die einzig passende Garderobe, die ein Gentleman zu einem derartigen Besuch tragen konnte. Und er dachte nicht daran, wie ein Dandy den Launen der Mode zu folgen. Sein einziges Zugeständnis an den neuen Stil der Zeit war, dass er auf den formellen Zylinder verzichtet und zur Melone gegriffen hatte.

Auf dem sandigen Vorplatz direkt vor der Bahnstation drängten sich mehrere örtliche Mietdroschken, zwei offene Landauer und ein einachsiges Coupé. Die herrschaftliche Equipage von Lord Pembroke wartete ein Stück oberhalb mit deutlichem Abstand zu diesen Wagen, die sich neben dem prächtigen Gefährt Seiner Lordschaft wie räudige Klepper neben einem rassigen Rennpferd ausnahmen.

Das Gespann bestand aus vier herrlichen Rotfüchsen in funkelndem Geschirr. Der makellose Lack der Kutsche leuchtete in einem wie Marmor schimmernden Maronenbraun. Auf dem Kutschenschlag prangte das Wappen des pembrokeschen Adelsgeschlechts. Der heraldische Schild war in vier Felder aufgeteilt, in welchen ein zinnengekrönter Turm, ein Greif sowie ein Schwert und ein Turnierhelm zu erkennen waren. Hinten auf dem Trittbrett der Equipage standen zwei junge Bedienstete in rehbraunen Livrees mit goldenen Litzen und Knopfleisten. Eine nicht minder prächtige Livree trug auch der Kutscher, ein Mann von großer und breitschultriger Gestalt und mit einem ledrigen, wettergegerbten Gesicht.

»Entschuldigen Sie, Sir. Habe ich die Ehre mit Mister Byron Bourke, Sir?«, erkundigte sich der Kutscher und lüftete dabei seinen hohen Zylinder.

»Ja, die haben Sie«, bestätigte Byron.

»Sehr wohl, Sir. Ich hoffe, Sie hatten eine angenehme Reise, Mister Bourke.«

Byron zuckte die Achseln. »Von einer Reise kann wohl kaum die Rede sein. Die Formulierung ›kurze Zugfahrt‹ wird der Sache eher gerecht. London ist nicht gerade einen halben Kontinent entfernt«, erwiderte er trocken.

»In der Tat, Sir«, pflichtete ihm der Kutscher höflich bei und streckte nun seine behandschuhte Rechte aus. »Erlauben Sie, dass ich Ihnen Ihre Tasche abnehme, Mister Bourke. Sie ist besser hinten in der Gepäckkiste aufgehoben. Andernfalls dürfte es für Sie und die beiden anderen Gentlemen, die noch erwartet werden, etwas eng werden, Sir.«

Überrascht zog Byron die Augenbrauen hoch, während er dem Kutscher seine Tasche überließ. »Welche anderen Gentlemen?« Er war ganz selbstverständlich davon ausgegangen, dass Lord Pembroke angesichts einer so enormen Summe, um die es hier ging, nur ihn allein auf seinem Herrensitz erwartete.

»Mister Alistair McLean und Mister Horatio Slade, Sir. Sie sollten mit demselben Zug aus London gekommen sein wie Sie«, teilte ihm der Kutscher mit, während er ihm die stark nach außen gewölbte Tür der Equipage öffnete. »Und mir scheint, da kommen die beiden Gentlemen auch schon, Sir.«

Byron wandte sich kurz um, und was seine kritischen Augen sahen, gefiel ihm nicht sonderlich. Der eine der beiden Männer, dessen dunkelblond gelocktes Haar heute wohl noch nicht mit einem Kamm in Berührung gekommen war, schlenderte in einem völlig unpassenden Sommeranzug aus sandfarbenem Cord heran, dessen Jacke an den Ellbogen und Schultern lederne Blenden aufwies. Er sah sehr jung aus, konnte eigentlich kaum älter als achtzehn oder neunzehn sein. Unbekümmert wie ein Schuljunge pfeifend, eine bauchige Reisetasche aus abgewetztem Gobelinstoff fröhlich an seinem linken Arm hin und her schwingend und mit einem Spazierstock unter den rechten Arm geklemmt, kam er auf die Kutsche zu. Auch seine Kopfbedeckung spottete dem herbstlichen Wetter. Denn anstelle einer Melone trug er einen sommerlichen Canotier, einen flachen, steifen Strohhut, von manchen auch spöttisch »Kreissäge« oder »Butterblume« genannt!

An der Seite des jungen Lockenkopfes ging eine schlanke und bedeutend ältere Gestalt, die einen guten Kopf kleiner war und in einem einfachen, schlecht sitzenden Straßenanzug aus dunkelblauem Wollstoff steckte, der noch weniger als ein heller Sommeranzug dazu geeignet war, um darin zu einem Besuch auf einem Herrensitz wie Pembroke Manor zu erscheinen. Der Mann trug eine runde Nickelbrille, einen schmalen Schnurrbart auf der Oberlippe und das pomadig glänzende schwarze Haar glatt nach hinten gekämmt und in der Mitte gescheitelt. Sein Gepäck bestand aus einem kleinen, verbeulten Reisekoffer mit zwei breiten, umlaufenden Lederriemen.

Die beiden in Größe sowie Alter äußerst ungleichen Männer redeten miteinander, wobei der jüngere den Großteil der Unterhaltung bestritt und der andere sich mehr auf ein Nicken oder Kopfschütteln beschränkte. Ob sie sich schon länger kannten oder erst im Zug herausgefunden hatten, dass sie an diesem Oktobernachmittag der Einladung desselben Mannes Folge leisteten, war jedoch nicht ersichtlich.

Byron wandte sich wieder um, stieg in die feudale Kutsche und nahm in Fahrtrichtung auf der mit weinrotem Samt bezogenenen Rückbank Platz. Ob diese beiden seltsamen Gestalten, die Seine Lordschaft offenbar auch zu sich eingeladen hatte, mit ihm und seinem Besuch auf Pembroke Manor etwas zu tun haben könnten, dieser Gedanke kam ihm überhaupt nicht. Nichts war ihm ferner als solch eine absurde Vermutung. Er zog vielmehr das dünne, ledergebundene Büchlein aus der Manteltasche, mit dessen Lektüre er sich die Zeit im Zug vertrieben hatte, und schlug es auf, um weiter darin zu lesen.

Augenblicke später hörte er, wie der Kutscher die beiden »Gentlemen« mit derselben steifen Höflichkeit begrüßte, mit der er kurz vorher ihn angesprochen hatte. Er nahm auch ihnen das Gepäck ab, hielt ihnen den Kutschenschlag auf und bat sie, nun doch bitte unverzüglich zu »Mister Bourke« in die Kutsche zu steigen, damit sie noch rechtzeitig vor Einbruch der Dunkelheit auf Pembroke Manor einträfen.

Der zerzauste dunkelblonde Lockenschopf verschmähte die vom Kutscher hervorgeklappte Stange mit der Trittstufe und sprang mit einem sportlichen Satz zu Byron in die Kutsche, die in ihrer vorzüglich gefederten Aufhängung kräftig nachwippte.

»Sie müssen Mister Bourke sein! Ich schätze, wir haben alle zusammen das Vergnügen, dieses Wochenende Gast von Lord Pembroke zu sein!«, sagte er. Dann ließ er sich in der gegenüberliegenden Wagenecke in die weichen Polster fallen, stieß sich mit dem silbernen Löwenkopf, der seinen Spazierstock als Knauf zierte, den flachen Strohhut weit in den Nacken, schlug die Beine in den modischen Stiefeletten lässig übereinander und streckte ihm aus schräger, halb zurückgesunkener Lage seine Hand entgegen. »Mein Name ist McLean... Alistair McLean!«

»Byron Bourke«, antwortete Byron knapp und tauschte nur widerstrebend einen kurzen Händedruck mit diesem jugendlichen Flegel, der sich auf der gegenüberliegenden Bank so breit hinfläzte, als würde nicht gleich noch ein dritter Fahrgast zusteigen.

Der schmächtige Mann mit der Nickelbrille und dem schmalen Schnurrbart gesellte sich im nächsten Moment zu ihnen. Er nickte Byron kurz zu und tippte dann mit dem Ende seines wenig ansehnlichen Spazierstockes leicht gegen die übergeschlagenen Beine des Lockenschopfes, die fast die ganze Länge der vorderen Sitzbank in Anspruch nahmen.

»Nichts für ungut, Mister McLean. Aber wenn Sie die Güte hätten, eine etwas platzsparendere Haltung einzunehmen, wäre ich Ihnen überaus dankbar«, sagte er mit leicht sarkastischem Tonfall, während der gepolsterte Kutschenschlag hinter ihm zufiel und der Kutscher sich hinauf auf seinen erhöhten Sitz schwang.

Alistair McLean lachte unbekümmert auf. »Schätze, das lässt sich machen, Mister Slade«, sagte er, zog seine langen Beine zurück und setzte sich aufrecht hin.

Im nächsten Moment hielt er ein Kartenspiel wie hingezaubert in der linken Hand und mischte, offensichtlich ganz in Gedanken, die Karten und zwar mit nur einer Hand!

»Sagen Sie, kennen Sie Lord Pembroke, Mister Bourke?«, fragte er, während seine Finger die Karten so schnell aufblätterten und wieder in sich zusammenfallen ließen, dass das Auge den Bewegungen kaum zu folgen vermochte. »Und sind Sie vielleicht schon einmal zu ihm auf sein Schloss eingeladen worden? Muss ja ein Mordskasten sein, den sich die Pembrokes hier an der Küste schon vor etlichen Generationen hingesetzt haben!«

Byron fand die Fingerfertigkeit dieses jungen Mannes so erstaunlich, wie er dessen Direktheit und nachlässige Wortwahl als vulgär und ungehörig empfand, und er folgerte, dass das Kartenspiel wohl zu den Leidenschaften dieses Mister McLean zählte was ihn in seinen Augen nicht gerade sympathischer werden ließ.

Die Kutsche ruckte an. Die vier Rotfüchse stemmten sich unter dem anfeuernden Zuruf des Kutschers ins Geschirr und die Equipage nahm rasch Geschwindigkeit auf.

»Nein, ich bin Lord Pembroke noch nicht begegnet, was auch Ihre zweite Frage beantworten dürfte«, sagte Byron zugeknöpft, griff wieder zu seinem Buch und schlug es auf, um diesem aufdringlichen Burschen zu verstehen zu geben, dass er an einem weiteren Gespräch mit ihm nicht interessiert war.

Was Alistair McLean jedoch nicht zum Schweigen brachte. »Mhm, dann dürften wir wohl alle drei gespannt sein, was uns auf Pembroke Manor erwartet«, fuhr er aufgekratzt fort. »Ich jedenfalls habe nicht die blasseste Ahnung, womit ich die Einladung dieses stinkreichen Nobelmannes verdient habe. Nun ja, letztlich soll es mir gleich sein. Wer mir mit seiner Einladung unter anderem gleich auch noch fantastische fünfzig Pfund als Ausgleich für die Fahrtkosten mitschickt, obwohl ein Zugticket schon für ein paar Shilling zu haben ist, dessen Wochenendeinladung wird mir stets höchst willkommen sein.«

Byron besaß ein feines Gehör für Zwischentöne und er nahm es daher auch sehr wohl zur Kenntnis, dass Alistair McLean mit seiner Einladung unter anderem die großzügige Zuwendung von fünfzig Pfund erhalten hatte, gab jedoch keinen Kommentar dazu ab. Dasselbe galt auch für Horatio Slade, der weiterhin stumm in der Betrachtung der Landschaft verharrte, obwohl es dort draußen nichts Ungewöhnliches zu entdecken gab. Es sei denn, man besaß eine ausgeprägte Schwäche für weidendes Vieh, kleine Bauerngehöfte und den sich wiederholenden Anblick von landwirtschaftlich genutzten Flächen unter einem trist grauen, dunkler werdenden Novemberhimmel.

Für eine kurze Weile waren nur der gleichmäßige Hufschlag der vier prächtigen Pferde und das Rattern der Kutschräder zu vernehmen, während die herbstliche Landschaft aus Feldern, Weiden und kleineren Waldstücken zu beiden Seiten der Equipage vorbeiflog. Aus den Niederungen stiegen hier und da die ersten Nebelschleier auf, die sich im kahlen Geäst der Sträucher zu verfangen schienen. Und im allmählich schwächer werdenden Licht des scheidenden Tages wirkten die sanft gerundeten Hügel wie die Wellen einer leicht bewegten See.

Es war Alistair McLean, der dieses Schweigen nach wenigen Minuten brach. »Scheint ja eine ungemein spannende Lektüre zu sein, wenn Sie selbst bei diesem schlechten Licht nicht von dem Buch lassen können, Mister Bourke«, sagte er neugierig. »Also mich könnte nur ein geheimnisvoller Roman wie Die Frau in Weiß von Wilkie Collins so fesseln. Obwohl einige der Sherlock-Holmes-Kriminalgeschichten aus der Feder von diesem Augenarzt Arthur Conan Doyle, die seit einiger Zeit Furore machen, einen auch ganz ordentlich in Atem halten können. Ganz prächtige Lektüre, was dieser Doyle zu Papier bringt, auch wenn die Figur des Mister Watson etwas einfältig angelegt ist, wenn Sie mich fragen! Der kapiert ja nie etwas.«

Byron seufzte geplagt, schloss das Buch und ließ es in den Schoß sinken. Die Hoffnung, bis zu ihrer Ankunft bei Lord Pembroke noch ein paar Seiten in Ruhe lesen zu können, musste er wohl fahren lassen.

»Bei diesem Werk hier handelt es sich weder um einen billigen Schauerroman à la Wilkie Collins noch um die Geschichte eines skurrilen Detektivs mit lächerlich abstrusen Fähigkeiten der Spurendeutung«, erwiderte er bissig, »sondern um eine gelehrte Abhandlung über einen herausragenden Denker und Mathematiker der Antike! Einen wahren Ausnahmegeist, dem auch 2 000 Jahre später noch kein anderer Mathematiker das Wasser hat reichen können!«

»Oh, das klingt ja nach schwer verdaulicher Kost!«, erwiderte Alistair McLean leichthin. »Und um welchen Ausnahmegeist handelt es sich denn?«

»Um Archimedes falls Ihnen der Name etwas sagt.« Byron hielt sich eigentlich für einen umgänglichen Zeitgenossen, der nicht zu Überheblichkeit neigte und seine Mitmenschen auch nicht an seiner eigenen Gelehrsamkeit maß. Aber in seiner Verstimmung über die penetrante Zudringlichkeit dieses jungen Schnösels hatte er sich diese böse Spitze einfach nicht verkneifen können.

Alistair McLean grinste ihn auch jetzt noch fröhlich an. »Natürlich! Das ist doch dieser verrückte Bursche, der in einer Tonne gelebt und zu irgendeinem Störenfried ›Geh mir aus der Sonne‹ gesagt hat, weil der ihm . . .«

»Nein, diese Legende erzählt man sich über den kynischen Philosophen Diogenes von Sinope«, fiel Byron ihm ins Wort. »Wobei die Anekdote mit der Tonne, in der Diogenes angeblich gelebt hat, sehr wahrscheinlich auf der fehlerhaften Übersetzung eines Ausspruchs beruht, der dem römischen Stoiker Seneca zugeschrieben wird. Was Seneca wirklich gemeint haben dürfte, war wohl, dass ein Mann mit so geringen Ansprüchen wie Diogenes ebenso gut auch gleich in einer Tonne hätte leben können. Nein, Archimedes war der größte Mathematiker der Antike und jener Mann, der . . .«

»Der als alter Kauz geometrische Figuren in den Sand malte, während um ihn herum der blutige Kampf um Syrakus tobte«, warf da Horatio Slade aus der anderen Kutschenecke ein. »Das war zur Zeit des Zweiten Punischen Krieges, als die Römer Sizilien eroberten. Und als ein römischer Legionär diesem alten Kauz Archimedes bei seinen Kritzeleien in die Quere kam, da rief dieser dem Soldaten die berühmten Worte zu: ›Störe meine Kreise nicht!‹ Worauf ihn der römische Soldat kurzerhand totschlug.«

Alistair McLean nickte, nicht im Mindesten beschämt über seine Verwechslung zweier legendärer Geistesgestalten der Antike. »Richtig, ich erinnere mich. Dumm gelaufen für Archimedes, würde ich sagen. Das sollte manch einem weltfremden Gelehrten eine Lehre sein!« Und dabei warf er Byron ein freches Grinsen zu.

»Archimedes war zweifellos ein mathematisches Genie, jedoch alles andere als weltfremd, Mister McLean«, stellte Byron sofort richtig. »Und diese rührselige Legende, die Sie da soeben zum Besten gegeben haben, Mister Slade, und die leider seit Jahrhunderten zum Allgemeingut historischer Ammenmärchen zu zählen ist, hat wenig mit der Wahrheit zu tun.«

Horatio Slade hob leicht die Augenbrauen und rückte seine Nickelbrille höher den Nasenrücken hinauf. »So? Was Sie nicht sagen.« Sein bleistiftdünner Schnurrbart krümmte sich unter dem spitzen Lächeln, zu dem sich sein Mund verzog. »Nun, ich nehme mal an, dass Sie uns mit einer erhellenden Erläuterung gleich aus dem erschütternden Zustand der Unkenntnis befreien und uns ins strahlende Licht der Erkenntnis führen werden, Mister Bourke.«

Alistair McLean lachte belustigt auf.

Byron überging den spöttischen Tonfall des Brillenträgers wie auch das Auflachen des jungen Flegels. »Ihrer freundlichen Bitte komme ich natürlich gern nach, Mister Slade.« Er machte eine kurze Pause. Dann erklärte er mit dem Tonfall eines Dozenten: »Archimedes, der Astronom am Hof von Syrakus, ließ sich während der römischen Belagerung von Syrakus trotz seines schon hohen Alters von dreiundsiebzig Jahren nur zu bereitwillig von König Hieron II. zum militärischen Oberbefehlshaber über das Arsenal der Geschütze ernennen. Er entwickelte während der Belagerung eine Vielzahl von gewaltigen Katapulten und anderen Maschinen, deren Geschosshagel unter den Schiffen und Belagerungstruppen der Römer enormen Schaden anrichtete und viele Menschenleben kostete. Eine Zeit lang sah es sogar so aus, als könnte Archimedes allein mithilfe seiner Erfindungen die Einnahme von Syrakus verhindern. Dem war jedoch nicht so. Und dass er nach der Eroberung der Stadt unter dem Schwert eines römischen Soldaten starb, war nur folgerichtig. Der Schwerthieb des Legionärs galt nicht dem mathematischen Genie, das unter anderem die Integralrechnung, das Hebelgesetz und das Prinzip der Verdrängung entdeckt hat, sondern der tödliche Streich galt dem willfährigen Militär und begeisterten Waffenentwickler und traf damit auch den Richtigen.« Und mit einem Anflug von Sarkasmus fügte er noch hinzu: »Seine Ermordung war übrigens der einzig entscheidende Beitrag der Römer zur Mathematik!«

Die beiden Männer auf der anderen Sitzbank, die unterschiedlicher kaum hätten sein können und die in diesem Moment jedoch Ähnliches dachten, sahen sich nach diesem gelehrten Kurzvortrag etwas verdutzt und befremdet an.

Dann wandte sich Horatio Slade wortlos ab und sah wieder hinaus auf die vorbeiziehende Landschaft, während Alistair McLean einen Stoßseufzer von sich gab, irgendwie verdrossen auf das Kartenspiel in seiner Hand blickte und wie in Gedanken murmelte: »Und ich dachte, mich würde ein unterhaltsames Wochenende auf Pembroke Manor erwarten!«