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Fassungslose und ungläubige Blicke trafen den Herrn von Pembroke Manor. »Mein Bruder Mortimer ist im Frühjahr 1897 bei einer Ausgrabung im Vorderen Orient auf diesen sensationellen Fund gestoßen, wobei ich mir nicht sicher bin, ob es in Palästina, in Ägypten oder in der jordanischen Wüste gewesen ist«, fuhr Arthur Pembroke fort. »Mortimer hat darüber auch keine Auskunft erteilt. Damals waren seine klaren Momente schon sehr selten geworden und sie dauerten leider auch nur wenige Minuten. Aber dass dieses Evangelium existiert und in der aramäischen Sprache verfasst ist, die Jesus und seine Jünger gesprochen haben, das kann ich bezeugen!«
»Und was macht Sie so sicher, dass die Schrift wirklich von Judas stammt und das Ganze keine Wahnidee ist?«, fragte Byron.
»Mein Bruder mochte zeit seines Lebens ein Wirrkopf in vielfacher Hinsicht gewesen sein, der sich ebenso für den Brückenbau wie die Kanalisation interessierte und der sich mit derselben Forscherleidenschaft in das Studium afrikanischer Sitten wie in die Suche nach Werwölfen und anderen Zwitterwesen stürzte. Auch hat er zweifellos die Gesellschaft der unmöglichsten und gegensätzlichsten Leute gesucht, ja nicht einmal den näheren Kontakt zu zwielichtigen Gestalten, Revolutionären, Waffenschiebern und hartgesottenen Verbrechern gescheut«, antwortete Lord Pembroke. »All das ist richtig, so wie es richtig ist, dass er am Ende seines Lebens vollends dem Wahnsinn verfallen ist. Aber was biblische Papyri und ähnliche alte Schriften betraf, da machte ihm kein noch so studierter Gelehrter etwas vor. Er war ungeheuer belesen und erfahren wie kaum ein anderer Experte auf diesem Fachgebiet, das schon von Jugend an seine besondere Leidenschaft gewesen ist. Er hat das Wissen aufgesogen wie ein Schwamm und fremde Sprachen so schnell gelernt, als wäre es so leicht wie das kleine Einmaleins. Er beherrschte das Aramäische wie das Hebräische so vortrefflich wie seine eigene Muttersprache. Und daher wusste er auch sehr gut zu beurteilen, worauf er da in der Wüste gestoßen war!«
»Ich muss gestehen, dass ich jetzt verwirrter bin als zuvor, Lord Pembroke«, gestand Byron mit gefurchter Stirn, während der Butler die Suppenteller abräumte und dann ein sehr blutiges Roastbeef servierte, zu dem er tiefdunklen Rotwein einschenkte. Doch all das nahm Byron nicht wirklich zur Kenntnis, zu sehr stand er unter dem Bann der unglaublichen Vorstellung, dass eine solche Judas-Schrift tatsächlich existieren sollte. »Denn wenn Ihr Bruder diese Papyri schon gefunden und hierher gebracht hat, wieso brauchen Sie dann uns, um sie wieder aufzufinden?«
»Eine gute Frage«, pflichtete Horatio Slade ihm bei. »Wie sind diese Papyri überhaupt verschwunden? Sind sie Ihrem Bruder gestohlen worden?«
Lord Pembroke gab ein kurzes grimmiges Auflachen von sich. »Die Antwort darauf ist viel grotesker! Mortimer hat in seinen Wahnvorstellungen ständig in der Angst gelebt, von irgendwelchen geheimnisvollen Dunkelmännern überfallen und um das Judas-Evangelium gebracht zu werden. Mal war von einem gewissen Abbot die Rede, dem er nicht über den Weg traute. Ein andermal hat er von einer mysteriösen Gruppe gesprochen, die sich Die Ehrenwerte Gesellschaft der Wächter nennt. Ja, er hat sogar von der Bruderschaft der Illuminaten und auch von einem gewissen Caine gefaselt, die ihm auf den Fersen seien und notfalls auch über Leichen gehen würden, um in den Besitz des Evangeliums zu kommen. Wieder ein anderes Mal hat er einen Schwall wüster Verwünschungen ausgestoßen, die einem Mann namens Marthon oder Martikon galten. Was davon auf wahnhafter Einbildung beruhte und was einen realen Hintergrund hatte, weiß ich nicht zu beurteilen. Ich jedenfalls bin noch keinem von diesen Leuten begegnet oder habe von ihnen gehört, mal abgesehen von jenem Orden der Illuminaten.«
»Viel Feind, viel Ehr«, spottete Alistair McLean. »Wenn man so viele gegen sich hat, kann man schon mal unter die Räder kommen – oder in ein Messer oder eine Kugel laufen!«
»Aber nein, auf diese Weise ist das Judas-Evangelium nicht verschwunden. Mein Bruder ist weder überfallen und ausgeraubt noch von einem dieser eingebildeten Dunkelmänner ermordet worden«, fuhr Lord Pembroke fort. »Vielmehr hat er selbst dafür gesorgt, dass die Papyri des Judas nicht mehr aufzufinden sind – zumindest nicht, ohne vorher seine rätselhaften Hinweise auf das Versteck entschlüsselt zu haben, diese verfluchten Rätsel eines geistig Umnachteten.«
»Aber so schwer sollte es doch nicht sein, jenen geheimen Ort zu finden, wenn Ihr Bruder die Schrift hier irgendwo in der Umgebung versteckt hat«, wandte Alistair McLean ein.
»Ich habe nicht davon gesprochen, dass mein Bruder das Judas-Evangelium irgendwo hier versteckt hat«, erwiderte Lord Pembroke etwas ungehalten, weil Alistair McLean offenbar nicht aufmerksam zugehört hatte. »Denn sonst wären Sie gewiss nicht hier, bräuchten keinen Kreditbrief für Banken auf dem Kontinent und hätten sicherlich auch keine Aussicht, sich 5000 Pfund zu verdienen.« Er nahm einen kräftigen Schluck Rotwein, bevor er fortfuhr: »Ich werde Ihnen sagen, was Mortimer in seinem Wahn getan hat: Er ist von heute auf morgen zu einer überstürzten und geheimen Reise aufgebrochen, von der er erst gute sieben Wochen später, in den ersten Januartagen des vergangenen Jahres und gerade mal zehn Tage vor seinem Freitod, wieder zurückgekommen ist. In diesen Wochen der Reise hat er sich auf dem Kontinent herumgetrieben und schließlich das Judas-Evangelium an irgendeinem gottverlassenen Ort versteckt.«
»Und Sie haben keinen Verdacht, wo in etwa dieses Versteck sein könnte?«, fragte Horatio Slade bestürzt.
Lord Pembroke schüttelte den Kopf. »Nein, das Versteck kann sich ebenso gut in Kairo wie in Moskau, in Amsterdam wie in Athen befinden – oder in Wien. Denn Wien war sowohl die erste als auch die letzte Station seiner irrwitzigen Reise. Das sind auch die beiden einzigen Stationen seiner Route, von denen ich definitiv Kenntnis habe – und zwar von Mortimer persönlich.«
Alistair McLean stöhnte auf. »Heiliger Strohsack! Wie sollen dann ausgerechnet wir das Versteck finden, wenn es ebenso gut in Russland wie in Ägypten oder in Griechenland liegen kann?«
Horatio Slade nickte mit düsterer Miene. »Dagegen ist die Suche nach der Nadel im Heuhaufen ja das reinste Kinderspiel!«
»Nun, es gibt schon gewisse Hinweise auf das Versteck, die ein Auffinden möglich machen, sofern man sie erkannt hat und sich auf die Kunst der Kryptologie versteht, also geheime Codes entschlüsseln kann«, erwiderte Lord Pembroke. »Zwei Tage vor seinem Freitod hat Mortimer mir nämlich in einem Moment halbwegs klaren Bewusstseins anvertraut, dass nur derjenige, der sein Hexagon entschlüsselt, den Weg zum Versteck des Judas-Evangeliums findet!«
Alistair McLean runzelte die Stirn. »Hexawas? Hat das was mit Hexe zu tun?«
Byron setzte zu einer Erklärung an, hielt es jedoch für klüger, dies Arthur Pembroke zu überlassen, der auch sogleich antwortete: »Nein, mit Hexe hat ein Hexagon nichts zu tun. Das Wort kommt aus dem Griechischen. Hexa bedeutet ›sechs‹. Und ein Hexagon ist ein gleichseitiges Sechseck.«
»Aus dem man ein Hexagramm machen kann, indem man die alternierenden Eckpunkte des Hexagons miteinander verbindet«, ergänzte Byron. »Man nennt die daraus entstehende geometrische Figur auch den Davidstern. Der griechische Mathematiker Euklid hat rund vierhundert Jahre vor Christi Geburt in seinem 15. mathematischen Satz des 4. Buches Die Elemente die mathematischen Zusammenhänge von Innenwinkeln, Radius des Innenkreises und so weiter beschrieben, das nur nebenbei angemerkt.«
Diesmal kam von Alistair McLean kein bissiger Kommentar. Er schwieg mit verdrossener Miene und nagte an seiner Unterlippe.
»Und was hat es mit diesem besonderen Hexagon auf sich?«, fragte Horatio Slade.
Lord Pembroke schüttelte den Kopf. »Ich weiß es selber nicht. Mortimer hat nur gesagt, dass man das Rätsel dieses Hexagons lösen muss, wenn man den Weg zum Versteck finden will. Und erschwerend kommt noch hinzu, dass mein Bruder an verschiedenen Stationen seiner Reise jeweils einen bruchstückhaften Hinweis auf das Versteck hinterlassen hat, dass er jene Stationen allerdings in Form von Rätseln in diesem seinem Reisejournal hier versteckt hat.« Seine rechte Hand fuhr dabei in die Innentasche seines eleganten Hausmantels und kam mit einem kleinen, ledergebundenen Notizbuch im Kleinoktavformat wieder hervor. »In diesem Notizbuch befinden sich das Hexagon und jene verschlüsselten Hinweise, die Sie zu Mortimers Reisestationen und dann hoffentlich zum Versteck des Judas-Evangeliums führen werden!«
»Oh, das ist ja eines von diesen bestens verarbeiteten Notizbüchern, die es nur in der Papierhandlung von Parkins & Gotto in der Oxford Street gibt!«, sagte Byron überrascht, als er das in feines moosgrünes Leder gebundene Büchlein sah.
»Und? Lassen Sie uns da mal einen Blick reinwerfen?«, fragte Horatio Slade gespannt.
»Nur zu!«, antwortete Arthur Pembroke bereitwillig und reichte es ihm über den Tisch hinweg. »Aber seien Sie gewarnt! Was Sie dort in dem Büchlein finden, ist keine geordnete Niederschrift von klar ersichtlichen Rätseln oder Codes. Es ist vielmehr das erschreckende Spiegelbild einer vom Wahnsinn zerstörten Seele!«
Horatio Slade nahm es entgegen, schlug es auf und machte ein entgeistertes Gesicht. »Allmächtiger!«, stieß er hervor, während er flüchtig darin blätterte. »Das...das ist ja...«Ihm fehlten die Worte für das, was er auf den Seiten des Notizbuches sah.
Alistair McLean, der sich neugierig zu ihm hinübergebeugt hatte, machte ein gleichfalls erschrockenes Gesicht. »Himmel, so etwas habe ich ja noch nie gesehen! Ihr Bruder Mortimer muss wirklich ein Irrer gewesen sein!«
Lord Pembroke erwiderte nichts darauf, sondern spießte mit seiner Gabel ein blutiges Stück Fleisch auf und schob es sich in den Mund.
Byron konnte es nicht erwarten, ebenfalls einen Blick in das Journal zu werfen. Als Horatio Slade es schließlich an ihn weiterreichte und er es aufschlug, reagierte er erst mal nüchterner als die beiden Männer vor ihm.
Das Buch ähnelte mit all seinen wirren Bibelauszügen, völlig unsystematischen Eintragungen, Zahlenkolonnen, Zeichnungen und Kritzeleien in vielem der wirren Sammlung des Westflügels. Mortimer hatte unterschiedliche Schreibutensilien benutzt. Manches war mit Bleistift notiert oder gezeichnet, anderes mit der schwarzen Tinte eines Füllfederhalters. Es fanden sich ebenso viele grobe Skizzen wie detailgenaue Zeichnungen, die von einem großen zeichnerischen Talent zeugten, sowie Textstellen in grüner und roter Tinte. Zudem hatte er Federn von extrem dünner bis extrem breiter Stärke benutzt. Und an vielen Stellen hatte er Landschaftsskizzen mit mysteriösen Zeichen übermalt oder aber den einen Text mit einem anderen überschrieben. Dabei waren die Schreibfeder oder der Zeichenstift selten den vorgegebenen Linien der Zeilen gefolgt, sondern sie hatten völlig willkürlich kreuz und quer die Seiten bedeckt.
Ebenso wild wie das Durcheinander der verwendeten Zeichen- und Schreibmaterialen war auch der Wirrwar aus scheinbar sinnlosen Zahlen- und Buchstabenreihen, aus geometrischen Figuren sowie Zeichnungen von komplizierten Labyrinthen, albtraumhaften Szenen oder von Landschaften und Gebäuden, aus Dutzenden von aneinandergereihten Zitaten, ja manchmal seitenlangen Auszügen aus der Bibel, aus Spruchweisheiten, Wehrufen und Auszügen aus Gedichten. Dazu gesellten sich kurze Stücke von Partituren mit Noten und anderen Symbolen. Im hinteren Teil stieß er auf mehrere Zeichnungen mit religiösen Motiven, die künstlerisch so gut gelungen waren, dass sie wie mit Bleistift gefertige Ikonenbildnisse im Miniaturformat aussahen.
Einige von den geometrischen Zeichnungen und Symbolen erkannte Byron auf Anhieb als Bildnisse und Darstellungen, die von den Freimaurer-Logen benutzt wurden. Andere stammten aus der Kabbalistik oder aus dem reichen Fundus ägyptischer Hieroglyphen. Dazu kamen Worte, Begriffe, Zahlen und Sätze in hebräischer, aramäischer sowie altgriechischer und arabischer Schrift. Auf mehreren Seiten hatte Mortimer Pembroke auch Spielkarten nachgezeichnet, die von Säbelklingen zerteilt oder von Minaretten durchstochen wurden.
Zwischendurch waren immer wieder Seiten unsauber herausgerissen worden, was anhand zurückgebliebener Papierfetzen leicht erkennbar war. Dass gewisse Seiten thematisch zusammengehörten und auf irgendeine Weise eines der Rätsel bildeten, glaubte er ebenfalls erahnen zu können. Was er auf den circa fünfzig, sechzig Seiten des grünledernen Notizbuches jedoch nicht fand, war das Hexagon.
»Ich weiß«, sagte Lord Pembroke, als Byron ihn darauf hinwies. »Auch ich habe die Seiten lange und intensiv studiert, ohne dieses Hexagon zu finden. Aber es muss irgendwo versteckt sein. Es zu finden und die anderen codierten Botschaften zu entschlüsseln, wird Ihre Aufgabe sein, Mister Bourke. Immerhin sind Sie doch ein Experte auf dem Gebiet der Kryptologie!«
»Ich habe mich damit beschäftigt, das ist richtig«, räumte Byron ein. »Aber ein wirklicher Experte bin ich nicht.«
Lord Pembroke machte eine ungeduldige, wegwischende Handbewegung. »Die Royal Society of Science hat letztes Frühjahr Ihre wissenschaftliche Abhandlung zu diesem Thema veröffentlicht. Das genügt mir, um zu wissen, dass Sie für diese Aufgabe der richtige Mann sind!«
Jetzt wusste Byron, wozu Lord Pembroke ihn brauchte und wodurch er auf ihn aufmerksam geworden war!
»Wenn Sie später die Eintragungen genauer studieren, und ich denke, Sie werden darüber noch viel mehr Stunden brütend sitzen, als ich es getan habe«, fuhr Lord Pembroke fort, »dann werden Sie wie ich zu dem Schluss kommen, dass zur Lösung dieser Aufgabe mehr als nur ein gelehrter Kryptologe gebraucht wird – nämlich jemand wie Mister Slade, der sich mit Kunst, Ikonen und dem Öffnen fremder Schlösser auskennt, und ein erfahrener Berufsspieler wie Mister McLean, der sich einer außergewöhnlichen Fingerfertigkeit rühmen kann und sich zudem auch mit allen Falschspielertricks auskennt.«
»Also, ich für mein Teil habe nichts dagegen, mich mit Mister McLean und Mister Bourke auf die Suche nach diesem Evangelium zu begeben«, sagte Horatio Slade. »Und ich denke, wir drei werden schon miteinander auskommen und das Versteck finden, wenn es sich denn anhand dieses verrückten Notizbuches überhaupt finden lässt. Aber bei aller Wertschätzung für das weibliche Geschlecht . . .«, er neigte den Kopf kurz in Richtung von Harriet Chamberlain, ». . . es gefällt mir ganz und gar nicht, dass auch eine junge Frau mit von der Partie sein soll. Ich sehe darin nur eine unnötige Erschwernis und ich wüsste beim besten Willen nicht, wozu sie für die Lösung unserer Aufgabe nützlich sein könnte. Eine Frau in unserer Gesellschaft, zumal eine so... unkonventionelle wie Miss Chamberlain, schafft da nur Probleme und würde sich zweifellos als Ballast erweisen!«
Harriet Chamberlain lachte auf und schüttelte den Kopf. »Manche Männer werden offensichtlich schon senil, verbohrt und unbelehrbar geboren!«
Ein kühles Lächeln lag auch auf dem Gesicht von Lord Pembroke, als er auf Horatio Slades Einwand erwiderte: »Miss Chamberlain wird sich nicht als Ballast erweisen und Ihnen auch keine Probleme bereiten, sondern sie wird Ihnen eine große Stütze sein und ihre Sicherheit garantieren.« Er griff in eine Tasche, die unter der Armlehne seines Rollstuhls angebracht war, und brachte im nächsten Augenblick ein Messer mit einer langen und breiten Klinge zum Vorschein. Zur Verblüffung der drei Männer reichte er es Harriet Chamberlain mit den Worten: »Wenn Sie die Freundlichkeit hätten, den Herren eine kleine Kostprobe Ihrer besonderen Fähigkeiten zu geben, wäre ich Ihnen sehr verbunden. Bitte der Hyäne dort an der Tür zwischen die Augen!«
Harriet Chamberlain zuckte gleichgültig die Achseln. »Ganz wie Sie wollen. Wer die Musik bezahlt, kann bestimmen, was gespielt wird!«, sagte sie, fasste das Messer mit Daumen und Zeigefinger an der Klingenspitze und schleuderte es zwischen Horatio Slade und Byron hindurch zur Tür.
Aber das Messer traf keineswegs die hochbeinige ausgestopfte Hyäne, die links neben der Tür mit gefletschtem Gebiss stand, sondern es bohrte sich durch die Leinwand eines der Ahnenporträts und dahinter in das Holz der Vertäfelung.
»Zum Teufel, was ist in Sie gefahren?«, stieß Lord Pembroke hervor und funkelte sie an, während ihm das Blut ins Gesicht schoss. »Das ist das Porträt meines ältesten Bruders, des seligen Wilbur Pembroke!«
Gelassen erwiderte Harriet Chamberlain seinen Blick. »Sie sagten, der Hyäne zwischen die Augen. Und genau das habe ich getan!« Damit wies sie auf das Gemälde, wo die Klinge tatsächlich mitten zwischen den Augen des grobschlächtigen Mannes steckte. »Oder wollen Sie behaupten, dieser Mann dort wäre keine Hyäne gewesen?«
Die Männer am Tisch waren sprachlos, Lord Pembroke eingeschlossen. Doch während die drei männlichen Gäste ob der unglaublichen Treffsicherheit und Frechheit von Harriet Chamberlain fassungslos waren, hatte das Schweigen Seiner Lordschaft einen völlig anderen Grund.
»Jeder von diesen verfluchten adligen Ahnen ist auf seine Art eine Hyäne – Sie eingeschlossen!«, fuhr Harriet Chamberlain ihn an.
»Denn sonst säßen wir ja wohl nicht hier und müssten uns Ihrem Willen beugen! Aber nur zu, sagen Sie es, wenn Sie lieber auf meine Teilnahme an Ihrer verfluchten Suche verzichten wollen! Ich brauche Ihr schmutziges Geld nicht! Also, worauf warten Sie?«
Lord Pembroke schluckte, als müsste er eine fette Kröte hinunterschlucken. Und dann krachte seine Faust auf den Tisch, dass das Porzellan klirrte und die Gläser bedrohlich wackelten. »Sie werden tun, was ich sage, und Ihre Aufgabe wie jeder andere erfüllen, Miss Chamberlain!«, donnerte er und war so hochrot im Gesicht, als würde ihn gleich der Schlag treffen. »Vergessen Sie nicht den Brief, der sich in meiner sicheren Obhut befindet! Und kein weiteres Wort jetzt!«
Harriet Chamberlain verstummte tatsächlich.
Abrupt wandte sich Arthur Pembroke den drei Männern zu. »Nun zu Ihnen! Wir werden später noch einige organisatorische Details besprechen. Aber jetzt will ich von Ihnen wissen, ob Sie tun werden, was ich als Gegenleistung für die 5 000 Pfund und für meine Vorleistungen von Ihnen verlange!«
Alistair McLean nickte mit breitem Grinsen. »Auf mich können Sie zählen! Wäre ja auch schön verrückt, mir so einen saftigen Pot durch die Finger gehen zu lassen.«
»Auch ich sehe keine Veranlassung, einen so lukrativen Auftrag abzulehnen«, sagte Horatio Slade. »Zumal ich das dunkle Gefühl habe, dass die Zofe und der Stallknecht sich plötzlich doch an mich erinnern könnten, wenn ich so dumm wäre, zu Ihrem Angebot Nein zu sagen.«
Lord Pembroke lächelte kühl. »Ihr Gefühl trügt Sie keineswegs, Mister Slade.«
»Aber eine Frage hätte ich noch, Eure Lordschaft«, meldete sich Alistair McLean noch einmal zu Wort, als Arthur Pembroke sich schon Byron zuwenden und dessen Entscheidung erfahren wollte.
»Und die wäre?«
»Einmal angenommen, wir können all diese Rätsel lösen, das Versteck finden und das Evangelium in unseren Besitz bringen, wie können Sie sicher sein, dass wir es Ihnen übergeben werden? Immerhin werden wir dann irgendwo in Russland, Ägypten oder Griechenland sein und Sie hier fern vom Schuss auf Pembroke Manor«, fragte der Berufsspieler herausfordernd. »Ich meine, wenn diese Papyri wirklich so eine Weltsensation sind, dann könnte einer von uns auf den Gedanken kommen, Ihre 4000 Pfund in den Wind zu schreiben und das Evangelium auf eigene Faust höchstbietend zu verkaufen. Und dabei dürfte wohl ein Vielfaches dessen herausspringen, was Sie uns zu zahlen bereit sind.«
Lord Pembroke fixierte ihn und der Blick seiner Augen war kalt und stechend wie eine stählernde Lanzenspitze. »Solche Gedanken vergessen Sie besser gleich wieder! Und das gilt für Sie alle, wenn Ihnen Ihr Leben lieb ist!«, drohte er ihnen unverhohlen. »Denn Sie können versichert sein, dass ich mir diesbezüglich ausgiebig Gedanken gemacht und zu meiner Sicherheit gewisse Vorkehrungen getroffen habe, um von einem solchen Verrat umgehend zu erfahren. Und dann würden meine Maßnahmen weitere Eigenmächtigkeiten verhindern, lange bevor einer von Ihnen die Papyri zum Kauf anbieten könnte! Versuchen Sie, mich zu hintergehen, und ich werde Sie jagen wie einen räudigen Hund und zur Strecke bringen lassen! Und wie ein räudiger Hund werden Sie dann auch sterben, das verspreche ich Ihnen!«
»Na, das nenne ich ein klares Wort!«, sagte Alistair McLean scheinbar unbekümmert, er konnte jedoch nicht verbergen, dass er unter der unmissverständlichen Todesandrohung blass im Gesicht geworden war.
Lord Pembroke ließ einen langen Moment des Schweigens verstreichen, wohl damit sich jeder seine Worte zu Herzen nahm. Dann blieb sein Blick auf Byron liegen.
»Die anderen haben sich bereit erklärt, den Auftrag zu den genannten Bedingungen zu übernehmen. Was ist mit Ihnen, Mister Bourke?«
»Sie haben mein Wort als Gentleman, dass ich alles in meiner Macht Stehende tun werde, um das Versteck zu finden, solange Sie zu Ihrem Wort stehen und mir die Minenpapiere zum Ausgabewert abkaufen – und zwar vor unserem Aufbruch!«, verkündete er. »Ich muss sicher sein, dass für meine minderjährigen Schwestern gesorgt ist, bevor ich mich auf dieses Abenteuer einlasse!«
Lord Pembroke überlegte kurz und nickte. »Ihre Bedingung ist verständlich und akzeptiert! Sie werden die volle Summe vor Ihrem Reiseantritt erhalten. Denn ich weiß, dass ich mich auf Ihr Wort verlassen kann.«
»So? Woher denn?«, fragte Alistair McLean unwirsch. »Ich jedenfalls wüsste schon gern, warum Sie ausgerechnet ihm den ganzen Batzen zahlen, während wir erst mal nur 1 000 Pfund kriegen!«
»Weil Mister Bourke im Gegensatz zu Ihnen ein Ehrenmann ist, der ein einmal gegebenes Ehrenwort niemals brechen würde, egal wem er es gegeben hat«, antwortete Lord Pembroke barsch. Dann wandte er sich wieder Byron zu und erkundigte sich scheinbar völlig zusammenhangslos: »Sagen Sie, sind Sie ihr je wieder begegnet?«
»Begegnet? Wem?«, fragte Byron verwirrt.
»Na, Sie wissen schon, dieser Constance«, erklärte Lord Pembroke. »Der Liebe Ihres Lebens, die Sie damals wegen Ihres Ehrenwortes aufgegeben haben.«
Byron schoss das Blut ins Gesicht. Vor Verlegenheit brannten seine Wangen heiß wie Feuer und er konnte nicht glauben, dass Arthur Pembroke sogar dieses intime Detail seines Lebens in Erfahrung gebracht hatte.
»Nein«, antwortete er knapp und spürte die Blicke der anderen auf sich, insbesondere die von Harriet Chamberlain.
»Gut, dann wäre damit ja alles geklärt!«, sagte Lord Pembroke, griff zu seinem Weinglas und lehnte sich im Rollstuhl zurück. »Dann steht Ihrem gemeinsamen Aufbruch am Montag ja nichts mehr im Wege. Also dann, lassen Sie uns auf ein schnelles und gutes Gelingen trinken!«
Als Byron sein Glas hob, kämpften in ihm zwiespältige Gefühle miteinander. Er wusste nicht, ob er Arthur Pembroke verfluchen sollte oder ob er ihm eher zu Dank verpflichtet war. Was er jedoch wusste, war, dass er von Anfang an keine Wahl gehabt hatte. Wie verrückt die Sache mit der Schrift des Judas Iskariot auch klang, er musste sich darauf einlassen. Allein schon wegen seiner beiden minderjährigen Schwestern, für die er die Verantwortung trug. Aber selbst wenn er von Arthur Pembroke nicht erpresst worden wäre, hätte er sich auf die Suche nach diesem unglaublichen Fund gemacht. Denn wenn es sich bei den von Mortimer Pembroke gefundenen Papyri wirklich nicht um jene altbekannte ketzerische Schrift handelte, die Irenäus verworfen hatte, dann war es sehr wohl möglich, dass sich die Papyri als ein Evangelium herausstellten, ja womöglich als das einzig wahre, neben dem die bisher bekannten Evangelien von Matthäus, Markus, Lukas und Johannes als völlig unbedeutend verblassen mussten!
Denn konnte es nicht auch sein, dass die Schrift eine ganz andere Wahrheit über Leben und Tod Jesu erzählte? Und zwar die Geschichte über einen radikalen Wanderprediger, der sich nicht als Gottes Sohn erwiesen hatte und nicht von den Toten auferstanden war?
Byron schauderte plötzlich, als er sich der ungeheuerlichen, welterschütternden Tragweite bewusst wurde, die diese Papyri des Judas Iskariot haben konnten – für seinen Glauben und weltweit für die fast 2 000 Jahre alte Christenheit!