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Byron hatte zu seinem eigenen Notizbuch gegriffen und das Hexagon mit seinen umlaufenden Schriftzeichen auf die nächste freie Seite hinter den langen Zahlenkolonnen übertragen, was gar nicht so einfach gewesen war. Denn die schwarzen Tintenstriche von Mortimer Pembrokes Handschrift hatten so manch ein braunes Schriftzeichen überlagert. Und wenn er nicht die Sprache beherrscht hätte, in welcher die Begriffe rund um das Hexagon verfasst waren, wäre ihm wohl vieles entgangen oder in einer verzerrten, falschen Bedeutung erschienen. Aber nun lag es deutlich und frei von den überlagernden Bibelzitaten vor ihnen.

»Also gut, das Sechseck, das so wichtig für das Auffinden des Verstecks sein soll, haben wir offensichtlich gefunden. Und ich muss sa

gen, das haben Sie sauber hingekriegt, Bourke! Ehre, wem Ehre gebührt!«, sagte Alistair aufgekratzt und prostete ihm mit seinem Scotchglas zu. »Wir dürfen also Hoffnung auf die 4000 Pfund haben!«

»Dieses erste Rätsel war leicht zu lösen. Genau genommen war es nicht mehr als ein Kinderspiel«, sagte Byron. »Und ich habe den Verdacht, dass Mortimer Pembroke das gewusst und es uns mit Absicht so einfach gemacht hat. Aber ich glaube nicht, dass die anderen Codes ähnlich rasch zu entschlüsseln sein werden! Denn wir dürfen diesen Mortimer nicht nur als Geistesgestörten sehen und sollten nicht vergessen, dass er ein hochintelligenter Mann gewesen sein muss, der viele Sprachen beherrscht hat, unter anderem sogar Aramäisch, und sich gewiss auch noch in anderen Bereichen ein beachtliches Wissen angeeignet haben dürfte.«

»Kann sein, dass die nächsten Rätsel erheblich schwerer zu lösen sein werden, aber immer eins nach dem andern«, sagte Horatio fröhlich. »Und jetzt kommt es ja wohl erst mal darauf an, das Hexagon zu studieren und herauszufinden, was diese Schriftzeichen zu bedeuten haben.«

»Ist das Aramäisch?«, fragte Harriet.

Byron schüttelte den Kopf. »Nein, das ist eindeutig Hebräisch. Die beiden Sprachen sind jedoch eng miteinander verwandt. Aramäisch war schon viele Jahrhunderte vor Christi Geburt weit verbreitet, im Perserreich war es sogar Reichssprache und wurde von Kleinasien bis zum Indus gesprochen. Das Hebräische hat die zweiundzwanzig Schriftzeichen des Aramäischen übernommen, die sogenannte Quadratschrift.«

»Und was sagt diese Quadratschrift da rund um das Hexagon?«, wollte Alistair wissen.

»Nun, sechsmal reichlich Rätselhaftes«, sagte Byron und begann, ihnen die sechs hebräischen Texte zu übersetzen. »Auf der oberen Linie des Hexagons steht der Begriff gadot ha-hades, was übersetzt ›Die Ufer des Hades‹ bedeutet.«

»Was nach der griechischen Mythologie die Welt der Toten ist«, warf Horatio ein und verzog das Gesicht. »Klingt nicht nur rätselhaft, sondern auch wenig einladend!«

»Als Nächstes kommt ha-jom ha-awni ›Der steinerne Tag‹«, fuhr Byron fort. »Gefolgt von kol ha-nami und ha-milah ha-glujah la-ajin, was so viel wie ›Die Stimme des Propheten‹ und ›Das sichtbare Wort‹ heißt.«

»Das wird ja immer verrückter«, sagte Harriet und machte ein besorgtes Gesicht.

»Und auf den beiden aufsteigenden Seitenlinien stehen die Ausdrücke ohel ha-ro’eh ›Das Zelt des Hirten‹ sowie ha-chadron ha-chaschuch ›Die dunkle Kammer‹«, übersetzte Byron und schrieb dann die sechs Begriffe untereinander in sein Notizbuch.

Alistair lachte kurz auf, aber er klang alles andere als belustigt. »Da hat man endlich ein Rätsel gelöst und was passiert? Als Lösung erhält man sechs neue Rätsel, und zwar ohne jeden Hinweis, wie wir diese knacken sollen! Der steinerne Tag! Die Stimme des Propheten!

Das Zelt des Hirten! Was sollen wir bloß damit anfangen? Wir haben doch nicht den geringsten Anhaltspunkt, wohin uns das führen soll, oder?«

»Ich glaube nicht, dass es so düster aussieht, Mister McLean«, sagte Byron. »Denn diese sechs Begriffe sind mir nicht ganz unbekannt. Ich bin mir sicher, irgendwo in diesem Notizbuch schon auf den einen und anderen davon gestoßen zu sein. Mortimer Pembroke hat ja fast auf jeder Seite einige hebräische und aramäische Sätze, zumindest jedoch ein paar Worte hinterlassen. Gut möglich, dass die anderen Texte nur als Verwirrung und Tarnung für diese sechs Hinweise gedacht sind.«

»Dann gilt es, als Nächstes die passende Stelle für ›Die Ufer des Hades‹ in Mortimers Notizbuch zu finden«, sagte Harriet. ». . . die dann logischerweise irgendetwas mit Wien zu tun haben muss!«

»Richtig«, pflichtete Byron ihr bei.

»Warte mal! In einem Hexagon gibt es doch wie in einem Kreis gar keinen Anfang und kein Ende! Woher wollen Sie also wissen, dass die Reihenfolge mit den ›Ufern des Hades‹ beginnt und mit der ›Dunklen Kammer‹ endet, Bourke?«, fragte Alistair mit einem Stirnrunzeln. »Bloß weil ›Die dunkle Kammer‹ gut zu einem Versteck passt?«

»Nein, weil Mortimer Pembroke ein Zeichen hinterlassen hat, an welcher Stelle und mit welchem Begriff die Reihenfolge beginnt, nämlich dieses Alpha!«, erwiderte Byron und tippte auf das geschwungene Zeichen, das im Hexagon unter der oberen horizontalen Linie zu sehen war und den ersten Buchstaben des griechischen Alphabets darstellte. »Und da man hebräische Texte nicht von links nach rechts liest, so wie wir es gewohnt sind, sondern von rechts nach links, was ein Mann wie Mortimer Pembroke sicherlich bei der Planung und Beschriftung dieses Hexagons bedacht hat, deshalb sind die Begriffe hier nicht im Uhrzeigersinn, sondern in umgekehrter Richtung zu lesen.«

»Oh!«, sagte Alistair überrascht. »Das ist ein Alpha? Ich habe es für das christliche Zeichen des Fisches gehalten!« Er grinste etwas verlegen in die Runde und zuckte dann die Achseln. »Tja, Griechisch stand nun nicht gerade auf dem kargen Lehrplan der Waisenhäuser und Schulen, durch die man mich geprügelt hat!«

»Na und? Was ist schon groß dabei? Auch ich habe nie die Nase in eine griechische Grammatik gesteckt«, sagte Harriet forsch und setzte etwas süffisant hinzu: »Dafür haben wir ja unseren hochgescheiten Mister Bourke.«

Byron war viel zu freudig erregt, um sich über ihre spitze Bemerkung zu ärgern und etwas darauf zu erwidern. Zudem hatte er den Eindruck, dass sie damit mehr Alistair aus seiner Verlegenheit helfen als ihn verletzen wollte. Deshalb reagierte er auf ihre Spitze mit einem selbstbewussten Lächeln, griff zu Mortimer Pembrokes Notizbuch und begann damit, die Seiten nach einem dieser sechs Begriffe abzusuchen. Dass er schnell fündig wurde, überraschte ihn nicht. Vielmehr hatte er damit gerechnet, dass er nicht lange würde suchen müssen.

»Sie haben ganz richtig vermutet, dass der Begriff ›Die Ufer des Hades‹ im Wien-Teil auftauchen muss, Miss Chamberlain«, verkündete er. »Denn genau da steht er auch! Nämlich hier zwischen der Seite mit den Zeichnungen des Beethoven-Denkmals und der Kirche Maria Stiegen und der übernächsten Seite, die zu einem großen Teil von einem schräg über das Blatt gekritzelten, langen aramäischen Textstück sowie von Skizzen grässlicher Masken, Totenschädel und Knochenhaufen bestimmt wird.« Er deutete auf die hebräischen Schriftzeichen, die Mortimer Pembroke unter die Zeichnung einer Pyramide mit einem strahlenden Auge, einem typischen Symbol der Freimaurer, geschrieben hatte.

»Ach du Schreck!«, stieß Horatio hervor, als sein Blick auf die Seite fiel, die Byron aufgeschlagen hatte. »Das sind ja die verrückten anderthalb Seiten, wo der irre Mortimer bis auf die Kritzeleien am Rand von oben bis unten nur biblische Namen aneinandergereiht hat!«

»Und was sind das für Namen?«, wollte Alistair wissen.

Byron überflog die Zeilen flüchtig und las dabei einige der Namen vor: »Kenas . . . Erech . . . Nehemia . . . Malchisedek . . . Lamech ...Hawila . . .«

»Also, obwohl ich in meinem Leben durchaus oft den Gottesdienst besucht habe und auch viele Geschichten der Bibel kenne, habe ich die meisten von diesen Namen noch nie gehört«, gab Harriet zu.

»Ich auch nicht«, sagte Horatio. »Zumindest sind mir die Namen Kenas, Lamech und Hawila fremd.«

»Kenas ist ein Nachkomme Esaus, der Sohn des Elifas. Lamech ist ein Nachkomme Sets, den Eva dem Adam gebar, nachdem Kain seinen Bruder Abel erschlagen hatte«, klärte Byron sie auf. »Und Hawila ist ein Land im Garten Eden, in dem es große Mengen von Gold und Karneolsteinen geben soll und das vom Fluss Pischon umschlossen wird. Es sind Namen, die ausnahmslos im Buch Genesis vorkommen.«

»Und das soll eine codierte Botschaft sein?«, fragte Alistair skeptisch, zog das Buch mit der aufgeschlagenen Seite, wo die aneinandergereihten Namen begannen, zu sich heran und schüttelte ungläubig den Kopf. »Das sind ja insgesamt gute dreißig, vierzig Zeilen voller Namen, die sich ständig wiederholen!«

Das Bild, das sich ihm darbot und bei dem es sich um einen verschlüsselten Text handeln sollte, war in der Tat alles andere als ermutigend.

Alistair schüttelte noch einmal den Kopf. »Es ist mir ein absolutes Rätsel, wie Sie das entschlüsseln wollen, Bourke!«

Byron wusste es auch nicht. Was er jedoch wusste, war, dass in dieser scheinbar sinnlosen Aneinanderreihung von biblischen Namen der Ort versteckt war, wo sie den ersten Hinweis auf das Versteck der Papyri des Judas finden würden!