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Der Wind heulte um Pembroke Manor und rüttelte an den Fenstern, als wollte er sie aus ihren Scharnieren reißen. Dazu regnete es schon seit Tagen ohne Unterlass. Wie aus den geöffneten Toren eines Staubeckens stürzten die Wassermassen vom schiefergrauen Himmel.
Die Sonne jenseits der dunklen Wolkenfelder war nur noch zu erahnen.
Die schwere Standuhr in Lord Arthurs Studierzimmer kämpfte mit zwölf dunklen Glockenschlägen gegen das Wüten des stürmischen Wetters an.
Erst zwölf Uhr mittags! Und dabei hätte man bei dem Zwielicht den Eindruck haben können, die Dämmerung wäre hereingebrochen. Was für ein abscheuliches Wetter! Reines Gift für seine gichtigen Knochen!
Arthur Pembroke blickte kurz von den vielen Fotos und Zeitungsausschnitten auf, die er vor sich auf der Platte seines Schreibtisches ausgebreitet hatte. Fast jeder der zumeist schon vergilbten Artikel hatte in irgendeiner Form seinen Bruder Mortimer zum Inhalt. In ihnen ging es um seine Weltreisen, spektakulären Expeditionen in noch kaum erforschte Regionen, archäologischen Unternehmungen und Begegnungen mit außergewöhnlichen Persönlichkeiten. Auch gab es in dieser völlig unsortierten Sammlung, die Mortimer bei seinem Tod in einer vollgestopften Kiste hinterlassen hatte und die ihm erst vor Kurzem in die Hände gefallen war, kaum ein Foto, auf dem Mortimer nicht in selbstherrlicher Pose zu sehen war.
Mit grimmiger Miene beugte Lord Arthur sich wieder über das Durcheinander. Er wollte aus dem Chaos die Fotos und Zeitungsartikel, von denen viele auch in fremden Ländern erschienen waren, jene zusammensuchen, die aus Mortimers letzten beiden Lebensjahren stammten.
Gerade hatte er zwei vielversprechende Fotos herausgezogen, als der Butler ins Zimmer trat.
»Entschuldigen Sie die Störung, Mylord. Ein Bote hat gerade dieses Telegramm hier zugestellt!«, teilte Trevor Seymour ihm mit. Wie es die Etikette gebot, lag das Kabel auf dem dafür vorgesehenen kleinen Silbertablett, das der Butler in seiner weiß behandschuhten Hand hielt. »Es kommt aus Bukarest, Sir!«
»Na endlich! Und ich fürchtete schon, da könnte jemand vergessen haben, was wir ausgemacht haben!«, sagte Arthur Pembroke knurrig. »Also dann, reißen Sie es auf und lesen Sie vor, Trevor.«
»Sehr wohl, Mylord«, sagte der Butler und öffnete das Telegramm. »Die Nachricht lautet wie folgt, Sir: toten templer auf burg negoi gefunden – stop – dort selbst dem tod näher als dem leben – stop – erwarte entsprechende kompensation wegen unerwarteter risiken – stop – rücktelegramm mit bestätigung der zusage umgehend an telegrafenamt bukarest – stop – postlagernd auf meinen decknamen – stop – sonst weigerung weiterer dienste – zweiter Hinweis wie folgt – stop – im kloster st. simeon – stop.« Der Butler hob den Kopf vom Telegramm und fügte dann noch hinzu: »Als Absender findet sich am Ende wieder der Name ›Janus‹, Mylord!«
Arthur Pembroke lachte trocken auf. »Den Dienst quittieren? Na, das sollte sich Janus noch mal gut überlegen. Aber wir wollen unsere Augen und Ohren bei Laune halten. Deshalb kabeln Sie eine entsprechende Zusage zurück nach Bukarest.« Schnell diktierte er ihm einen kurzen Text.
»Sehr wohl, Sir.«
»Und noch etwas, Trevor.«
»Mylord?«
»Buchen Sie für uns eine Passage nach Rhodos!«, trug Arthur Pembroke ihm auf und lächelte. »Das milde Wetter dort wird meinen geplagten Knochen gut bekommen.«
Trevor Seymour erlaubte es sich, die Brauen leicht zu heben und verwundert zu fragen: »Nach Rhodos? Und Sie wünschen, dass ich Sie dorthin begleite?«
»Ja, genau das ist mein Wunsch, Trevor«, bestätigte Arthur Pembroke sarkastisch, war es doch in Wirklichkeit eine Aufforderung, der Folge zu leisten war. »Und achten Sie bei der Buchung unbedingt darauf, dass man Ihnen den schnellsten Dampfer heraussucht, der morgen mit Kurs auf das Mittelmeer in See sticht. Notfalls lassen Sie die Routen von verschiedenen Linien kombinieren. Also an die Arbeit, Trevor! Es eilt. Jeder halbe Tag zählt!«
»Sehr wohl, Mylord«, sagte der Butler mit stoischer Miene, deutete eine steife Verbeugung an und zog sich zurück, um die Aufträge seiner Lordschaft auszuführen.
In der Nacht desselben Tages wurde der Bewohner des stattlichen Bürgerhauses im Londoner Stadtteil Kensington namens Abbot wieder einmal ans Telefon gerufen.
Wie üblich folgte der Austausch der Losungsworte. Dann berichtete der Anrufer aus Pembroke Manor mit leiser Stimme, was in dem Telegramm aus Bukarest gestanden hatte und dass am nächsten Tag der Aufbruch nach Rhodos bevorstand.
Das Gespräch zwischen den beiden Männern dauerte um einiges länger als bei den vorherigen Anrufen zu dieser weit vorgerückten Nachtstunde.
Keiner von ihnen beiden ahnte, dass in einem anderen Zimmer des Herrenhauses neben einem Zweitapparat eine kleine Lampe aufgeleuchtet war, als die Vermittlung die Verbindung nach London hergestellt hatte. Und dass jemand vorsichtig die Hörmuschel von der Gabel nahm, mit der anderen Hand den Sprechtrichter abdeckte und dem Gespräch mit einem höhnischen Lächeln lauschte.