Aber damit genug der Theorie, denn ich stelle nun einige interessante Persönlichkeiten vor, die ich gerne selbst kennengelernt hätte. Die Auswahl ist vollkommen subjektiv, aber die wichtigen und bedeutenden Personen auch nur aufzuzählen, würde den Umfang dieses Buches weit überschreiten (und mehr als 100 Seiten dürfen es nicht sein, sagt der Verlag …). Ich beginne unter Übergehung Karls des Großen – wogegen dieser selbst sicher heftig protestiert hätte – mit der langobardischen Königin Theudelinde.
Am Ende des 6. Jahrhunderts schlossen die Bayern und die Langobarden in Italien ein Bündnis gegen die Franken ab. Der Vertrag wurde durch eine Ehe zwischen dem langobardischen König Authari und der bayerischen Prinzessin Theudelinde bekräftigt. Soweit die nüchternen Tatsachen. Aber die Sage umgibt »Autharis Brautfahrt« mit einem märchenhaften Schimmer. Der junge König möchte seine Braut nämlich erst einmal selbst in Augenschein nehmen, bevor er sich endgültig entscheidet, und schließt sich inkognito der Gesandtschaft von Pavia nach Regensburg an. Er sieht sie und ist hingerissen. Das verleitet ihn zu einer unvorsichtigen Handlung, die böse Folgen hätte haben können. Beim abendlichen Festmahl streicht er heimlich der jungen Frau über die Haare. Das war – nach heutiger Terminologie – ein Fall von sexueller Belästigung, und das bayerische Recht verstand da keinen Spaß. Theudelinde ist also empört, gleichzeitig aber fasziniert von dem schmucken und kühnen jungen Mann. Eine erfahrene Dienerin rettet die Situation: Niemand, so bedeutet sie Theudelinde, außer dem Bräutigam selbst habe sich so etwas herausnehmen können.
Theudelinde wird also 584 langobardische Königin. Aber die Ehe dauert nur sechs Jahre; dann stirbt Authari. Als Witwe plant Theudelinde wahrscheinlich, nach Bayern zu ihrem Vater zurückzukehren. Es kommt aber anders, denn weil »die Königin Theudelinde den Langobarden so sehr gefiel«, schreibt der Chronist Paulus Diaconus (725/30–800),
»erlaubten sie ihr, die königliche Würde zu behalten, und schlugen ihr vor, sie möge denjenigen von allen Langobarden, den sie sich wünsche, zum Manne erwählen, freilich jemanden, der das Reich wohl regieren könne. Jene aber beriet sich mit klugen Leuten und wählte sowohl sich zum Manne als auch dem Volk der Langobarden zum König den Herzog Agilulf von Turin. […] Als er zu ihr kam, ließ sie nach einigen Worten Wein bringen. Nachdem sie zuerst getrunken hatte, gab sie die zweite Hälfte Agilulf zu trinken. Dieser nahm den Becher, und als er der Königin ehrfürchtig die Hand geküsst hatte, da errötete diese und sagte lächelnd, der solle ihr nicht die Hand küssen, dem es zukomme, ihr den Kuss auf den Mund zu geben. Und sogleich […] eröffnete sie ihm die Neuigkeit über ihre Ehe und das Königtum. Was weiter? Mit großer Freude wurde die Hochzeit gefeiert. […] Schließlich wurde noch eine Volksversammlung der Langobarden abgehalten, und Agilulf wurde im Mai bei Mailand von allen zum König erhoben.«
Eine charmante Geschichte! Auch wenn wahrscheinlich Agilulf in Wirklichkeit zuerst die Macht ergriffen und dann als zusätzliche Legitimation die Witwe seines Vorgängers geheiratet hat. Theudelinde mischte dann nachhaltig in der Politik mit, korrespondierte selbstständig mit Papst Gregor dem Großen und leitete es in die Wege, dass die Langobarden von der veralteten arianischen Konfession zum Katholizismus überwechselten.
Machen wir einen Sprung ins 12. Jahrhundert. Eleonore (oder wie sie selbst sagte »Alienor«) ist die Tochter Herzog Wilhelms X. von Aquitanien und, da es keine Brüder gibt, auch die Erbin dieses großen Herzogtums im Südwesten Frankreichs. Dem Vater gelingt es, sie mit dem nachmaligen König Ludwig VII., zu verheiraten. Dieser Gedanke ist ebenso kühn wie glücklich: Er sichert Eleonore den Besitz des Herzogtums und bedeutet für den König eine beträchtliche Machterweiterung.
Das junge Paar – Ludwig zählt 17, Eleonore 15 Jahre – passt vom Alter her zusammen, aber das ist auch das Einzige, was bei ihnen zusammenpasst. Um nicht missverstanden zu werden: Aus der Ehe gehen mehrere Kinder hervor. Aber von Charakter und Lebensgefühl her sind beide grundverschieden. Ich erinnere mich aus dem Französischunterricht in der Schule an den Satz: Le roi était une sorte de moine couronné, la reine était frivole. (›Der König war eine Art gekrönter Mönch, die Königin war leichtfertig‹.) Ludwig ist eigentlich gar nicht als König vorgesehen, denn er hat einen älteren Bruder, und er fühlt sich im Kloster St. Denis, wo er von dem berühmten Abt Suger erzogen wird, auch sehr wohl. Dann aber stirbt der ältere Bruder auf höchst groteske Weise: Er reitet durch Paris, als sein Pferd vor einem frei herumlaufenden Schwein scheut und ihn abwirft. So muss Ludwig die Rolle des Kronprinzen und später Königs übernehmen.
Was das Schulbuch der ausgehenden Adenauerzeit als »Frivolität« bezeichnete, äußert sich heute in Ausdrücken wie »Königin der Troubadoure«. Ihr Vater und Großvater waren bedeutende Dichter gewesen, auch Eleonore hat sich sicher so besingen lassen, was ihrem frommen Ehemann nicht unbedingt gefallen mochte.
Wie dem auch sei, als König Ludwig VII. sich 1146 dem 2. Kreuzzug anschließt, befindet er es für gut, seine Frau mit ins Heilige Land zu nehmen. Unterwegs kommt es zur Krise, und die Königin verlangt die Trennung ihrer Ehe mit der vorgeschobenen Begründung, sie seien zu nah miteinander verwandt. Die Heimfahrt vom Kreuzzug erfolgt schon auf gesonderten Schiffen und Routen; der Papst versucht die Ehe noch einmal zu retten, erreicht aber nur eine vorübergehende Versöhnung. Schließlich fällt am 21. März 1152 die Entscheidung für die Auflösung der Ehe.
Die eigentliche Demütigung für Ludwig VII. steht aber noch bevor: Zwei Monate später, am 18. Mai 1152, heiratet Eleonore erneut, und zwar Herzog Heinrich von der Normandie, der dann 1154 König von England wird. In diese Ehe bringt Eleonore auch ihr Herzogtum Aquitanien mit ein. Was das geopolitisch bedeutet, zeigt ein Blick auf die Karte:
Die neue Ehe ist ein Zweckbündnis zwischen einem Mann und einer elf Jahre älteren Frau, Zuneigung ist nicht vorgesehen und stellt sich auch nicht ein. Da zwischen der Trennung Eleonores von Ludwig VII. und der Heirat mit Heinrich II. nicht einmal zwei Monate lagen, dürfen wir davon ausgehen, dass der Coup bereits vorher eingefädelt war. Aus der Ehe gehen dennoch acht Kinder hervor, darunter die späteren englischen Könige Richard Löwenherz und Johann Ohneland. Wenn wir zu diesen acht Kindern noch einige hinzurechnen, die so bald nach der Geburt starben, dass sie keine Spuren in den Quellen hinterließen, so ergibt sich, dass Eleonore in den fünfzehn ersten Jahren ihrer Ehe mit Heinrich II. praktisch ununterbrochen schwanger war. Man erwartete das von einer mittelalterlichen Königin, aber es begründet auch, warum sie politisch in dieser Zeit kaum hervortritt.
1173 bricht in der königlichen Familie ein Konflikt aus, der die Söhne veranlasst, nach Frankreich zu Ludwig VII. zu fliehen. Auch Eleonore will fliehen, wird aber unterwegs aufgegriffen, von ihrem Ehemann gefangengesetzt und anderthalb Jahrzehnte lang interniert. Erst als Heinrich 1189 stirbt und ihr Lieblingssohn Richard Löwenherz König wird, kommt sie frei.
In diese Zeit fällt auch die Geschichte von Fair Rosamund, Lady Jane de Clifford. Sie ist die Maitresse Heinrichs II. Fremdzugehen war für einen damaligen König nicht ungewöhnlich; Heinrichs Großvater hatte 20 uneheliche Kinder. Statt in dieser Weise à la carte zu leben, war eine feste Maitresse – später sagte man: eine maîtresse en titre – dann doch besser, sofern diese nicht versuchte, die rechtmäßige Königin auch juristisch zu verdrängen und den König selbst zu heiraten. Im Falle der Fair Rosamund kommt es nicht so weit. Die Sage will wissen, Heinrich habe seine Geliebte im Palast von Woodstock (10 km nordwestlich von Oxford) versteckt und, um sie vor Eleonore zu schützen, den Zugang in Form eines Irrgartens anlegen lassen. Natürlich ist das für Eleonore kein Hindernis, und sie kann ihre 10 bis 15 Jahre jüngere Rivalin stellen – ein beliebtes Motiv für Historienmaler. Ob es das Labyrinth von Woodstock wirklich gegeben hat, ist unklar; der dortige Palast geht aber tatsächlich bis ins frühe 12. Jahrhundert zurück. Mit dem legendären Woodstock in den USA und dem dortigen Festival von 1969 hat er aber nichts zu tun.
Insgesamt hatte Eleonore also wenig Zeit, sich als Königin der Troubadoure besingen zu lassen, und vielleicht waren die Jahre ihrer Ehe mit Ludwig VII. doch die glücklichere Zeit ihres Lebens.
Nachbemerkung: Obwohl Eleonores Ehe mit Ludwig VII. getrennt wurde, stammen kurioserweise alle folgenden französischen Könige von ihr ab (die englischen sowieso), und zwar über ihre Enkelin Blanca, die einen Enkel Ludwigs VII. heiratete.
Wer an die mittelalterliche Kaiserherrlichkeit, an Ruhm und Glanz des Heiligen Römischen Reiches, an eine vom Rittertum dominierte Epoche denkt, dem kommt zuerst Kaiser Rotbart in den Sinn, der noch dazu einen so schönen Beinamen trägt. Der Historiker muss hier ein wenig den Spielverderber geben, denn ganz so ritterlich war sein Verhalten gar nicht, und Rechtsbrüche und faule Kompromisse waren ihm keineswegs fremd.
Aber fangen wir einmal mit dem Positiven an. Wir wissen nämlich ganz gut, wie er aussah und im persönlichen Umgang auf andere wirkte. Acerbus von Morena, ein Italiener in Diensten des Kaisers, also ein Augenzeuge, hat ihn in seiner Chronik beschrieben:
»Der Kaiser war von mittlerer Größe und schöner Gestalt. Er hatte ein weißes Gesicht und errötete leicht. Die Haare waren fast gelb und gekräuselt. Sein Antlitz war heiter, sodass es aussah, als wolle er ständig lachen. Er hatte weiße Zähne und schöne Hände. Er geriet nur selten in Zorn und war von rascher Auffassungsgabe.«
Wir vermissen natürlich den roten Bart, aber vielleicht hat er sich den ja erst später wachsen lassen. Ein feuerroter Bart zu strohblonden Haaren: Das ist genetisch denkbar und ergibt ein prachtvolles Bild. Und natürlich müssen wir uns vorstellen, dass er schwäbischen Dialekt sprach.
Barbarossas Wahl zum deutschen König 1152 ist ein Kuhhandel (unfreundlich ausgedrückt) bzw. ein kluger politischer Kompromiss (positiv formuliert) zwischen den beiden wichtigsten Adelsfamilien der Zeit, den Staufern und den Welfen. Diese liegen im Streit, seit die Staufer 1138 den Welfen nicht nur die Königswürde weggeschnappt, sondern auch noch ihre beiden Herzogtümer Sachsen und Bayern aberkannt haben. Barbarossa ist vom Vater her Staufer, von der Mutter her Welfe, also beiden Seiten genehm. Die Regierung lässt sich gut an, und Friedrich erhält auch 1155 problemlos die Kaiserkrone, aber die norditalienischen Städte sind eine effektive Herrschaft des Kaisers in Italien nicht mehr gewöhnt, und so zieht sich durch seine ganze Regierungszeit der Konflikt mit ihnen, der teils sehr gewaltsam ausgetragen wird; aber die Einzelheiten wären ermüdend.
Dazu kommt aber noch eine Krise des Papsttums. 1159 werden zwei Päpste gewählt, die Exponenten zweier Parteien im Kardinalskollegium sind. Der eine (Viktor IV.) will mit Barbarossa zusammenarbeiten, der andere (Alexander III.) pocht hingegen auf die Unabhängigkeit des Heiligen Stuhls. Die Wahl ist eine dramatische Szene, bei der die beiden Kandidaten vor aller Augen mit den Fäusten auf einander losgehen und sich den Purpurmantel von den Schultern reißen. Barbarossa erkennt natürlich Viktor an. Welche Wahl die rechtmäßige war, ist bis heute ungeklärt; schließlich gewinnt Alexander 1176 dadurch die Oberhand, dass er seine Gegner überlebt.
1184 steht Barbarossa auf der Höhe seiner Macht und hält in Mainz einen Hoftag ab, der die Zeitgenossen derart beeindruckt hat, dass er sogar in Ritterromanen erwähnt wird. Danach bleibt eigentlich nur noch die Apotheose: ein Kreuzzug ins Heilige Land. Er beginnt für Barbarossa 1189 und endet 1190 mit dem Tod des Kaisers, aber mehr dazu später.
Doch Barbarossa ist damit nicht aus der Geschichte verschwunden. Er hat sich nur zurückgezogen und wartet im Kyffhäuser darauf, in Zeiten höchster Not zurückzukehren und Deutschland zu retten (auch wenn sein roter Bart inzwischen weiß geworden ist und durch den Tisch wächst).
Eleonore von Aquitanien wurde quasi in die Politik hineingeboren und hat als Politikerin Wirkungen erzielt, die weit über ihre Lebenszeit hinausgingen. Das ist bei Hildegard von Bingen sowohl anders als auch gleich. Dass sie Einfluss auf die Politik nehmen würde, war ihr wahrlich nicht in die Wiege gelegt worden, ist aber doch geschehen, wenn auch auf ganz anderem Wege als bei der hochgeborenen Prinzessin. Aber das Mittelalter ist eine vielgestaltige Zeit, die uns immer wieder durch Ereignisse überrascht, auf die man nicht im Traum von selbst kommen würde. Hildegard ist vor allem als heilkundige Frau bekannt, und als solche hat sie heute noch oder wieder ihre Anhänger. Weitaus wichtiger ist sie aber als Mystikerin – man kann auch sagen: als Seherin oder Prophetin. Und daraus leitet sich dann ihre Rolle in der Politik ab.
Zunächst aber ein paar biographische Angaben: Hildegard ist 1098 geboren und stammt aus einer Grafenfamilie. 1106 tritt sie ins Kloster Disibodenberg ein, wo sie 1136 zur Äbtissin gewählt wird. 1141 erlebt sie das, was sie als ihre Berufung zur Prophetin bezeichnet, d. h. sie hat von diesem Zeitpunkt an Visionen, die sie niederschreibt. So etwas ist damals nicht ganz ungefährlich, besonders für eine Frau. Deshalb bemüht sie sich um kirchliche Anerkennung. Ihr wichtigster Förderer ist dabei Bernhard von Clairvaux, der geistige Vater des Zisterzienserordens. Schließlich bestätigt 1148 Papst Eugen III. die göttliche Herkunft ihrer Visionen; da der Papst dem Zisterzienserorden entstammt, findet Bernhard bei ihm ein offenes Ohr.
Der äußere Lebensweg Hildegards bringt 1151 zunächst die Gründung des Klosters Rupertsberg, dann 1165 die Gründung des Klosters Eibingen. Bei der Weihe des Klosters Rupertsberg wird in Anwesenheit des Mainzer Erzbischofs das von Hildegard verfasste Mysterienspiel Ordo virtutum aufgeführt, in dem die Tugenden, verkörpert durch 16 Nonnen, mit dem Laster Streitgespräche führen; die Rolle des Teufels muss ein Mann spielen, der Sekretär der Äbtissin. Von 1158 bis 1171 unternimmt sie – und das ist nun wirklich außergewöhnlich – Reisen, um Predigten zu halten. Sie ist meines Wissens die einzige Frau im Mittelalter, die öffentlich predigte. 1179 stirbt sie.
Hildegards medizinisches Hauptwerk heißt Causae et curae, ›Ursachen und Heilverfahren‹. Darin geht es aber weniger um das, was man heute gerne »Hildegard-Medizin« nennt, sondern überwiegend um Frauen- und Geburtsheilkunde. Es war im Mittelalter durchaus üblich, dass sich Schwangere für die Niederkunft in ein Kloster begaben, vor allem, wenn Komplikationen zu fürchten waren.
»Gegen Haarausfall. Wenn einem jungen Menschen die Haare auszufallen beginnen, nimm Bärenfett und ein wenig Asche von Weizenstroh, mische dies miteinander und reibe damit seinen ganzen Kopf ein, vor allem dort, wo die Haare auf seinem Kopf auszufallen beginnen. Danach soll er diese Salbe auf seinem Kopf lange nicht abwaschen. Die Haare, die noch nicht ausgefallen sind, werden durch diese Salbe angefeuchtet und gekräftigt, sodass sie lange Zeit nicht ausfallen werden.«
Genauso spannend ist aber die Rolle Hildegards als Politikerin – oder sagen wir besser: als politische Beraterin. Diese Beratung erfolgt in der Regel brieflich, d. h. die Prophetin sendet den Herrschern ihrer Zeit Mahnschreiben, in denen sie gar nicht zimperlich mit den Mächtigen ihrer Zeit umgeht. Dabei kann sie inhaltlich sehr deutlich werden, so etwa, wenn sie einem Papst Trägheit vorwirft und dass er sein hohes Lebensalter als Vorwand für Untätigkeit vorschütze. Direkte Anweisungen gibt sie Barbarossa im Schisma von 1159, als der Kaiser ihrer Meinung nach den falschen Papst unterstützt; wir hörten eben schon davon.
Amüsanterweise hat Hildegard auch eine Geheimsprache und eine Geheimschrift erfunden.
Wer diesem Papst persönlich gegenübertrat, war zunächst angenehm überrascht: eine Gestalt von passender Körpergröße (nicht zu groß, nicht zu klein, so wie man das im Mittelalter liebte), wohlgeformte Gesichtszüge, denen die Härte des Alters fehlte, die sonst so vielen Päpsten zu eigen war, auffallend schöne Hände, auf die seine Angewohnheit, mit den Ringen an seinen Fingern zu spielen, sofort den Blick lenkte. Dieser positive Eindruck änderte sich aber schlagartig, sobald er den Mund öffnete: Nicht nur, dass ihm im Oberkiefer zwei Schneidezähne fehlten, er bediente sich auch einer anmaßenden und herausfordernden Sprechweise, und das sogar bei gottesdienstlichen Handlungen, so etwa beim Austeilen des Aschenkreuzes, bei dem ihm Schimpfworte wider seine politischen Gegner herausrutschten. Überdies glaubte man, dass dieser Mann seinen Vorgänger, den heiligen Papst Cölestin V., betrügerisch zum Rücktritt gezwungen habe.
Und damit sind wir schon auf die Lügenpropaganda seiner Gegner hereingefallen, denn es gibt keinerlei Beweise dafür, dass er seinen Vorgänger irgendwie betrogen hätte. Cölestin, ein ehemaliger Einsiedler, den die Kardinäle nur aus Verzweiflung gewählt hatten, weil sie sonst keine Mehrheit erzielen konnten, war mit dem Papsttum völlig überfordert (was ihm selbst schnell bewusst wurde) und trat freiwillig zurück. Bonifaz VIII. musste deshalb den Saustall ausmisten, den Cölestin und die Kardinäle hinterlassen hatten, und dabei trat er zwangsläufig vielen auf die Füße.
Aber er verstand es auch hervorragend, sich Feinde zu machen. Eine Hauptaufgabe seines Pontifikates sah er nämlich darin, seiner Familie, den Caetani, eine fürstliche Stellung zu verschaffen, und das ging nur zu Lasten der alteingesessenen Adelshäuser, vor allem der Colonna. Dazu nutzte er skrupellos die Möglichkeiten, die das Papsttum ihm bot, unter anderem durch einen förmlichen Kreuzzug gegen diese Familie. Der Erfolg gab ihm recht, zumindest vorerst: Der Hauptsitz der Colonna wurde erobert und dem Erdboden gleichgemacht, viele ihrer Besitzungen beschlagnahmt und den Caetani übertragen.
Aber die Anführer der Colonna gingen ins Exil und hetzten einen Gegner auf den Papst, dem er dann nicht gewachsen war, nämlich den französischen König Philipp IV. Ein eher nichtiger Anlass – es lohnt nicht, ihn hier näher auszuführen – wurde zu einer grundsätzlichen Auseinandersetzung über das Verhältnis von Kirche und Staat hochgeschaukelt. Bonifaz fasste die kirchlichen Ansprüche in schärfster Zuspitzung zusammen (das ist die berühmte Bulle Unam sanctam) und drohte, den König abzusetzen. Dieser verschaffte sich durch geschickte Propaganda die Rückendeckung der Bevölkerung, wobei er auch gefälschte Urkunden verwendete. Dann schickte er seinen Mitarbeiter Nogaret nach Italien, um das Problem praktisch zu lösen. Nogaret überfiel den Papst in Anagni und versuchte, ihn zur Abdankung zu zwingen. Das gelang aber nicht, und Bonifaz gab auch als Gefangener in der Sache nicht einen Millimeter nach. Er rief vielmehr seinen Entführern zu – die Worte sind so in der Umgangssprache überliefert –: Ec le cap, ec le col (›Hier ist der Kopf, hier ist der Nacken‹, zu ergänzen: schlag zu und töte mich, wenn du dich traust.) Nogaret traute sich nicht, aber Bonifaz brach psychisch zusammen und starb kurz darauf.
Sein zweiter Nachfolger, Clemens V., war weniger widerstandsfähig und verlegte die Kurie von Rom nach Avignon, wo die Päpste dann siebzig Jahre lang blieben.
»Schärfe deinen Geist, Schreiber! Eine schwere Arbeit harret deiner, wagst du es zu schildern den langsamen und langen Flug eines gewaltigen Adlers, der, töricht zugleich und klug, achtlos zugleich und sorgenvoll, träge zugleich und ungestüm, niedergeschlagen zugleich und heiter, kleinmütig zugleich und tapfer, unglücklich zugleich und glücklich, noch aufstieg, während ihm schon die Flügel versengt waren.«
Mit diesen Worten beginnt der Chronist Matthias von Neuenburg eine Generation nach dem Tode seines Helden seine Lebensbeschreibung Ludwigs des Bayern. Die Worte lassen etwas von der zwiespältigen Wirkung erahnen, die dessen Gestalt schon auf die Zeitgenossen ausgeübt hat.
Soeben ist 1313 Kaiser Heinrich VII. gestorben, und die Neuwahl des deutschen Königs steht an. Es gibt aber zwei Parteien und zwei Kandidaten, Herzog Ludwig von Oberbayern und Herzog Friedrich den Schönen von Österreich, die übrigens Jugendfreunde sind, weil sie gemeinsam in Wien am Hofe Rudolfs von Habsburg aufwuchsen. Von den sieben Kurfürsten stimmen fünf für Ludwig, vier für Friedrich. Das mathematische Kuriosum (5+4=7) entsteht dadurch, dass zwei Kurstimmen (Sachsen und Böhmen) doppelt abgegeben werden. Für Ludwig stimmen die Erzbischöfe von Mainz und Trier, der Markgraf von Brandenburg, König Johann von Böhmen und der Herzog von Sachsen-Lauenburg; für Friedrich stimmen der Erzbischof von Köln, der Pfalzgraf bei Rhein, der Herzog von Sachsen-Wittenberg sowie ein politisches Gespenst, Herzog Heinrich von Kärnten, der von 1307 bis 1310 König von Böhmen war, aber von dort vertrieben wurde. Es folgt, wie bei einer zwiespältigen Wahl üblich, der Wettlauf um die Krönung, aber auch dieser Schritt geht unentschieden aus.
Somit bleibt nur noch die militärische Entscheidung. 1315 liegen sich die Heere beider Könige vom 13. bis zum 15. März bei Speyer gegenüber; dann zieht Ludwig im Schutze der Nacht ab, ohne dass wir wissen, warum. Das Schauspiel wiederholt sich dreimal. Erst 1322, also fast acht Jahre nach der Doppelwahl, kommt es tatsächlich zu einer Schlacht bei Mühldorf/Erharting, die Ludwig gewinnt. Friedrichs Bruder Leopold ist mit Verstärkungen im Anmarsch, kommt aber nicht mehr rechtzeitig an, da die Mönche von Fürstenfeld den Boten, der zur Eile mahnt, abfangen. In der Schlacht gerät Friedrich in die Gefangenschaft Ludwigs, was dessen Sieg vollständig macht. Jedoch geben die anderen Habsburger den Widerstand nicht auf. Da Ludwig dieses Problem aber endlich lösen will, kommt es 1325 zu dem sonderbaren Vertrag der »Trausnitzer Sühne«: Ludwig lässt Friedrich ohne Lösegeld frei, gegen das Versprechen, auf die Krone zu verzichten und seine habsburgischen Brüder ebenfalls zum Verzicht zu bewegen. Sollte ihm dies misslingen, muss er in die Haft zurückkehren.
Und tatsächlich scheitert das Unterfangen, und Friedrich tritt vertragstreu zur Wiederverhaftung an. Das klingt wie ein anachronistisches Spiel mit Ritterehre und dergleichen, aber Ludwig verließ sich offenbar auf das Ehrenwort – ob in richtiger Einschätzung von Friedrichs Charakter oder im Gefühlsüberschwang einer herzzerreißenden Begegnung mit dem Jugendfreund, wissen wir nicht. Friedrich der Schöne hält also den Vertrag ein, und nun findet Ludwig eine auf den ersten Blick kuriose, tatsächlich aber sehr raffinierte Lösung: Er nimmt Friedrich zum Mitkönig an, es gibt in Zukunft also zwei gemeinsam regierende deutsche Könige. Das ist deshalb raffiniert, weil damit sowohl der habsburgische Widerstand neutralisiert als auch dem Papst die Möglichkeit genommen ist, die beiden Kontrahenten gegeneinander auszuspielen. Friedrich der Schöne spielt allerdings bis zu seinem baldigen Tode praktische keine Rolle.
Warum, so müssen wir uns ja fragen, hat sich überhaupt der Papst noch nicht zu Wort gemeldet, obwohl die Kurie seit mindestens einem Jahrhundert beansprucht, an der Königserhebung entscheidend mitzuwirken? Wahrscheinlich kommt Johannes XXII. der Streit der beiden Deutschen durchaus gelegen, denn so hat er freie Hand für seine Politik in Italien – die Wiederherstellung des Kirchenstaates als Voraussetzung für die Rückkehr der Kurie von Avignon nach Rom. Sobald Ludwig aber in Deutschland den Rücken frei hat, beginnt er in ganz traditioneller Weise, in Italien einzugreifen, und kommt so dem Papst in die Quere. Der erklärt jetzt, Ludwig sei ohne päpstliche Approbation gar nicht rechtmäßiger König, und eröffnet einen Prozess gegen ihn – kanonische Prozesse zu führen, war die Leidenschaft des 80-jährigen Papstes, zumal er dabei praktischerweise Ankläger und Richter in einer Person war. Da Ludwig sich nicht unterwirft, folgen Exkommunikation, Interdikt und Absetzung, letzteres nicht nur als König, sondern sogar in seiner ererbten Funktion als bayerischer Herzog – seitdem nennt die Kurie ihn nur noch Ludowicus Bavarus ille (›jener Bayer‹), wovon sich die uns geläufige Bezeichnung »Ludwig der Bayer« ableitet.
Darüber stirbt dann der Papst. Sein Nachfolger Benedikt XII. zeigt sich flexibler, aber es kommt auch unter ihm keine Versöhnung zustande. Clemens VI. schließlich, der auch sonst den Tiefpunkt des Avignoneser Papsttums darstellt, kehrt zu der kompromisslosen Politik Johannes’ XXII. zurück und versteigt sich zu Fluchorgien geradezu antiker Prägung.
»Es begegne ihm eine Fallgrube, die er nicht kennt, und so falle er hinein. Er sei verflucht beim Eintreten und verflucht beim Hinausgehn. Der Herr schlage ihn mit Wahnsinn und Blindheit und Raserei. Der Himmel sende Blitze über ihn. Der Zorn des allmächtigen Gottes und der heiligen Petrus und Paulus, deren Kirche er gewagt hat und wagt, nach Kräften zu verwirren, entbrenne in Zeit und Ewigkeit gegen ihn. Der ganze Erdkreis kämpfe gegen ihn, die Erde öffne sich und verschlinge ihn lebendig. Alle Elemente seien gegen ihn. Seine Wohnung werde verlassen, und die Verdienste aller dort ruhenden Heiligen sollen ihn in Verwirrung stürzen, und sie sollen in diesem Leben ihre offene Rache an ihm vollziehen, und seine Kinder sollen aus ihrer Wohnstatt geworfen werden und vor seinen Augen in die Hände ihrer verderblichen Feinde fallen.«
Auf der anderen Seite ist Ludwig auch nicht gerade zimperlich. Er zieht 1327/8 gegen den Willen des Papstes nach Italien, empfängt in Rom »aus den Händen des römischen Volkes« die Kaiserkrone, erklärt aus kaiserlicher Vollgewalt Johannes XXII. für abgesetzt und lässt einen Gegenpapst wählen, der allerdings keinen Anhang findet. Aber Ludwigs Politik ist, wie wir schon aus dem Munde Matthias’ von Neuenburg hörten, oftmals schwankend und inkonsequent. So betreibt er auch eine aggressive Hausmachtpolitik, die ihm seine Anhänger entfremdet. Deshalb gelingt es schließlich dem Papst, einen Gegenkönig gegen ihn aufzustellen: Markgraf Karl von Mähren, den späteren Kaiser Karl IV. Die Auseinandersetzung mit diesem ist voll im Gange – und es spricht einiges dafür, dass Karl militärisch gescheitert wäre –, als Ludwig überraschend am 11. Oktober 1347 auf der Bärenjagd einen Herzanfall erleidet und stirbt. Zu diesem Zeitpunkt ist er seit über zwei Jahrzehnten im Kirchenbann.
Wir wissen nicht, wo sich Ludwigs Seele befindet. Man könnte dazu Dante zitieren, der in der Commedia sagt, die göttliche Barmherzigkeit sei stärker als der Fluch der Prälaten. Ludwigs Körper hat allerdings unter der Exkommunikation zu leiden, denn ihm steht deshalb eigentlich kein christliches Begräbnis zu. Aus dem Kloster Fürstenfeld, wo er zunächst aufbewahrt wird, wird er wieder entfernt – vielleicht, weil die dortigen Zisterziensermönche päpstliche Sanktionen fürchten – und nach München gebracht. Dort liegt er zunächst in der Friedhofskapelle der Frauenkirche, dann seit 1364 in der Frauenkirche selbst, wo das Grab mehrfach verschoben wird, bis es auf dem heutigen Platz anlangt.
Papst Benedikt XIII. regierte vom 1724 bis 1730. Er war eine nichtssagende Persönlichkeit, die den Anforderungen des Amtes kaum gewachsen war. Aber allein dadurch, dass er die Ordnungszahl »XIII.« wählte, erklärte er einen Vorgänger, dem er intellektuell nicht das Wasser reichen konnte, zum Gegenpapst: Pedro de Luna, Papst von 1394 bis 1422.
Pedro wird um 1342/3 geboren. Das ist die Zeit, als die Päpste jahrzehntelang nicht in Rom und auch nicht anderswo in Italien residieren, sondern in Avignon, bis Gregor XI. 1377 nach Italien heimkehrt. Gregor stirbt indes schon 1378, und so findet die Neuwahl in Rom statt. Aber nach den 70 Jahren in Frankreich sind fast alle Kardinäle Franzosen, und die Römer fürchten zu Recht, der neue Papst könne wieder an die Rhône zurückkehren. Deshalb stellen sie sich vor dem Konklave auf und rufen in Sprechchören: Romano lo volemo, o almanco Italiano! (›Wir wollen einen Römer zum Papst, oder wenigstens einen Italiener.‹) Schließlich halten sie es nicht mehr aus und stürmen das Konklave. Die Kardinäle fliehen in Todesangst in die Engelsburg. Unter diesen Kardinälen ist auch Pedro de Luna.
Grausame Ironie der Geschichte: Zu diesem Zeitpunkt war die Wahl schon erfolgt, und zwar die Wahl eines Italieners, des Erzbischofs von Bari, Bartolomeo Prignano. Er nennt sich Urban VI. und lässt keinen Zweifel daran: Er ist in Rom und wird auch in Rom bleiben. Aber dann beginnt er sich seltsam zu benehmen. Aus einem freundlichen älteren Herrn wird ein blindwütiger Tyrann, der jedermann vor den Kopf stößt – bis heute weiß niemand, was in ihm vorgegangen ist. Ein halbes Jahr nach der Wahl wird es den Kardinälen zu viel. Sie erklären, die Wahl sei unter Zwang erfolgt und deshalb ungültig, Urban sei also gar nicht Papst, und wählen dann einen anderen Kardinal zu Papst Clemens (VII.). Warum sie erst jetzt handeln, nachdem sie Urban sechs Monate lang anerkannt haben, begründen sie nicht, doch das macht die Neuwahl illegal.
Urban denkt gar nicht daran, seine Absetzung zu akzeptieren, und so gehen die beiden Päpste aufeinander los, wobei ihnen jedes Mittel recht ist. Clemens’ Versuch, Urban zu fangen und als Ketzer verbrennen zu lassen, misslingt; im Gegenteil: Er muss Italien verlassen und schlägt seinen Sitz in – na wo wohl? – in Avignon auf. Die meisten Kardinäle, darunter auch Pedro de Luna, folgen ihm. Damit ist ein Schisma entstanden, eine organisatorische Kirchenspaltung, mit zwei Päpsten, zwei Kardinalskollegien, zwei Kurien, zweifacher Finanzbelastung der Kirche, und im Laufe der Zeit auch oft zwei Bischöfen in den einzelnen Diözesen.
Nun wird vier Jahrzehnte lang versucht, das Schisma zu beenden, aber erfolglos. Warum nicht, als einer der konkurrierenden Päpste stirbt, den überlebenden Papst allgemein anerkennen, wie das in der Vergangenheit schon mehrmals funktioniert hat (etwa 1138 und 1180)? Viermal, 1389, 1394, 1404 und 1406, bietet sich diese Chance, aber die Herren in Rom und vor allem in Avignon wollen ihr (vermeintliches) Recht durchsetzen. Einer der schärfsten Hardliner in Avignon ist Pedro de Luna, und das bringt ihm im Herbst 1394 die Wahl zum Papst ein: Benedikt (XIII.). An kreativen Ideen, das Schisma zu beenden, fehlt es nicht. So wird Benedikt über vier Jahre lang (1398–1403) im Papstpalast in Avignon belagert, aber er hält durch, obwohl er durch einen Kanonenschuss verletzt wird, und kann schließlich fliehen. Auch eine Konferenz in Genua 1408, auf der die beiden Konkurrenten miteinander diskutieren sollen, bleibt erfolglos, weil Benedikt, der übers Meer anreist, und Gregor XII., der auf dem Landweg kommt, »wie ein Wassertier und ein Landtier ihr Element nicht verlassen wollen«, wie die Zeitgenossen spotten. (Der Witz ist weniger harmlos, als er klingt, denn in der Apokalypse kommen zwei Bestien vor, eine aus dem Meer und eine vom Lande. Die Päpste werden also mit apokalyptischen Untieren verglichen.)
1409 schließlich wird es den Kardinälen zu viel: Die Herren beider Seiten tun sich zusammen und berufen gemeinsam ein Konzil nach Pisa ein. Dieses erklärt beide Päpste für abgesetzt und wählt einen neuen Papst, Alexander V. (der bald stirbt und durch Johannes [XXIII.] ersetzt wird). Aber die beiden bisherigen Päpste nehmen ihre Absetzung nicht hin und behalten eine, wenn auch sehr kleine, Anhängerschaft. So gibt es jetzt statt bisher zwei Päpsten nicht einen, wie erhofft, sondern deren drei. 1414 folgt ein neues Konzil mit noch größerer Beteiligung als in Pisa, diesmal in Konstanz, auf dem Johannes eine Bestätigung seiner Rechte erwartet. Aber es kommt anders: Das Konzil setzt alle drei Päpste ab und wählt einen neuen: Martin V. Und diesmal klappt es: Johannes (XXIII.) und Gregor XII. aus Rom knicken ein und treten zurück.
Nur Pedro de Luna hält an seinem Papsttum fest. Er flieht auf die uneinnehmbare Inselfestung Peñíscola bei Valencia und zeigt sich allen Kompromissvorschlägen unzugänglich. Er allein sei der rechtmäßige Papst, und da er inzwischen der einzige Kardinal sei, der noch an der Wahl Urbans VI. teilgenommen hatte, müsse er wohl am besten wissen, was damals geschehen sei. Und in dieser Überzeugung stirbt er schließlich, politisch bedeutungslos geworden, im Spätherbst 1422. Auf den Gedanken, dass man unter Umständen im höheren Interesse auch auf ein wohlerworbenes Recht verzichten muss, scheint er nie gekommen zu sein.
Nachbemerkung: Warum ist eigentlich noch niemand auf die Idee gekommen, über Pedro de Luna eine Oper zu schreiben? Eine Rahmenhandlung auf dem Felsennest von Peñíscola, in der der alte Papst sich erinnert; das Konklave von 1378, in dem von hinter der Bühne die Sprechchöre zu hören sind; die Belagerung in Avignon; die beiden Konzilien – all das wäre optisch und musikalisch ein überaus vielversprechender Stoff.
Heinrich IV. ist eine Gestalt, die schon ihren Zeitgenossen unheimlich war, und das gilt im Grunde bis heute. Er war ein Stehaufmännchen, das sich selbst nach den bittersten Niederlagen und Demütigungen immer wieder aufraffte und das vor allem, den Zeitgenossen besonders fremdartig, immer das Unerwartete tat, wie sich noch zeigen wird.
Heinrich lebt seit dem Tod seines Vaters unter der Vormundschaft der Kaiserinwitwe Agnes, es kommt jedoch zu einem Staatsstreich. Heinrich wird in Kaiserswerth bei Düsseldorf auf ein Schiff entführt, aber der 13-jährige Knabe springt in den Rhein und versucht, schwimmend zu entkommen. Wer hätte das gedacht, dass der junge König einfach über Bord springt?
Als Heinrich IV. dann volljährig wird und selbst zu regieren beginnt, sieht er sich erst einmal einem Aufstand in Sachsen gegenüber, den er aber niederwerfen kann. Auch dabei spielt das Unerwartete eine Rolle: Heinrich taucht plötzlich auf der Südseite des Harzes auf, den er auf direktem Wege durch das Gebirge durchquert, während alle Welt glaubt, er werde brav außen herum ziehen und viel länger brauchen. Gebirge und Wald waren bis ins 18. Jahrhundert Orte des Schreckens, die man nach Möglichkeit mied. Erst im 19. Jahrhundert kamen spinnerte Engländer auf die Idee, freiwillig auf die Berge hinaufzuklettern. Insofern war das Rendezvous Heinrichs IV. mit Rübezahl wirklich unerwartet.
Der König ist noch im Hochgefühl seines Sieges über die aufständischen Sachsen, als der große Konflikt mit Gregor VII. beginnt. Da hier auch aufseiten des Papstes viel Persönliches mitspielt, müssen wir ihn zunächst etwas näher betrachten. Gregor VII., mit bürgerlichem Namen Hildebrand, ist ein fanatischer Vertreter der Kirchenreform des 11. Jahrhunderts, die von ihm und seinen Mitarbeitern bis zu der Vorstellung gesteigert wird, eigentlich müssten alle Kleriker wie Mönche leben. Diese Sicht auf die Kirche führt dazu, dass er jegliche Einmischung von Laien in kirchliche Fragen als »Simonie« ausschalten will. Umgekehrt nimmt er aber die Rechte der Kirche in weltlichen Angelegenheiten in weitestem Umfange in Anspruch, also ein ganz asymmetrisches Verhalten, wie es für Fundamentalisten charakteristisch ist. Der deutsche Episkopat bekommt, und zwar durchaus zu Recht, den Eindruck, in Rom werde unter dem Vorwand der Simonieabwehr jede Anschuldigung geglaubt, und zwar besonders dann, wenn dadurch Bischöfe gemaßregelt werden können.
In dem Konflikt zwischen Kaiser und Papst treffen also zwei dämonische Persönlichkeiten aufeinander, der unheimliche Heinrich IV. und der fanatische Gregor VII., der selbst von seinen eigenen Anhängern als »heiliger Satan« charakterisiert wird.
Die Auseinandersetzung entzündet sich an einem Streit eher nebensächlicher Bedeutung und gipfelt zunächst in einem vorwurfsvollen Brief des Papstes vom 8. Dezember 1075. Dieses Schreiben trifft am 1. Januar 1076 in Goslar ein. Es setzt Heinrich in heftige Erregung. Eine Synode in Worms am 24. Januar 1076, auf der u. a. Erzbischof Liemar von Bremen, den Gregor als »Simonisten« suspendiert hat, das Wort führt, erklärt Gregor als Papst für abgesetzt. Ein Manifest macht dies aller Welt kund. Es endet nach vielen Vorwürfen, u. a. der Behauptung, dass Gregor VII. unrechtmäßig Papst geworden sei, mit den Worten: »Ich, Heinrich, durch die Gnade Gottes König, sage dir zusammen mit allen meinen Bischöfen: steige herab, steige herab!«
Tatsächlich verlief Gregors Wahl nicht ganz nach Vorschrift, sondern der Trauergottesdienst für seinen Vorgänger lief aus dem Ruder und ging unversehens in die Wahl des Nachfolgers über, aus der in ganz tumultuarischer Weise Gregor VII. hervorging. So etwas hielt man übrigens im Mittelalter grundsätzlich für möglich: Der Heilige Geist konnte direkt in den Wahlvorgang eingreifen und alle Paragraphen beiseite wischen.
Das Wormser Schreiben trifft am 14. Februar 1076, am ersten Tag der Fastensynode, in Rom ein und wird verlesen. Die Erregung ist groß; die Boten werden misshandelt, der Papst selbst muss sie schützen. Am folgenden Tag antwortet Gregor, indem er Heinrich für exkommuniziert und abgesetzt erklärt und seine Untertanen und Vasallen vom Treueid gegenüber dem König löst.
Die Wirkung dieses Schrittes ist eine ungeheure. Exkommuniziert worden waren Könige schon öfter, aber eine Absetzung hatte noch kein Papst gewagt. Als wie unerhört und einmalig dies empfunden wurde, zittert noch ein Jahrhundert später im Bericht Ottos von Freising nach, der schreibt: »Wieder und wieder lese ich die Geschichte der römischen Könige und Kaiser, aber ich finde (vor Heinrich) keinen einzigen unter ihnen, der vom römischen Papst […] abgesetzt worden wäre.«
Wir hörten vorhin, dass Heinrich IV. auch in Deutschland durchaus umstritten war. Deshalb muss er jetzt erleben, wie dieselben Bischöfe, die ihn zu seinem forschen Brief an den Papst gedrängt hatten, ihm zusammen mit den weltlichen Fürsten in den Rücken fallen und von ihm verlangen, sich binnen Jahresfrist vom Bann zu lösen, andernfalls sie einen neuen König wählen würden. Mehr noch: sie setzen diese Ankündigung sofort in die Tat um und erheben den Grafen Rudolf von Rheinfelden zum Gegenkönig. Außerdem laden sie den Papst ein, nach Deutschland zu kommen.
Wie reagiert Heinrich IV.? Wieder einmal anders als gedacht. Gregor bricht 1077 nach Norden auf, aber kurz bevor er den Ort erreicht, an dem ihn eine Delegation der deutschen Fürsten abholen soll, vernimmt er die Schreckenskunde, Heinrich habe mit Heeresmacht die Alpen überschritten und ziehe gegen Rom. Gregor sucht sofort auf der quasi uneinnehmbaren Burg Canossa Schutz. Seine Überraschung steigt aber noch, als er erfährt, dass Heinrich nicht in kriegerischer Absicht zu ihm komme, sondern als reuiger Sünder, um die Absolution zu erlangen. Der Papst sträubt sich heftig dagegen, muss dann aber nachgeben und Heinrich lossprechen.
Wer war nun Sieger und wer Besiegter in Canossa? Heinrich hat erfolgreich den Priester in Gregor gegen den Politiker ausgespielt, aber er hat auch die bisherige grundsätzliche Position, dass Kaiser und Papst auf gleicher Ebene stehen, um des taktischen Vorteils willen aufgegeben.
Es folgt die Auseinandersetzung mit dem Gegenkönig in Deutschland, der Heinrich nach drei Jahren in einer Schlacht unterliegt. Bei dieser Schlacht wird Rudolf von Rheinfelden die rechte Hand abgeschlagen; an dieser Verletzung stirbt er. Die rechte Hand: das heißt jene Hand, mit der er einst König Heinrich die Treue geschworen hat! Wenn das kein Gottesurteil war! (Die abgeschlagene rechte Hand ist makabrerweise heute noch in mumifizierter Form im Domschatz von Merseburg vorhanden.) Aber der Papst unterstützt die Gegner Heinrichs IV. nicht so, wie sie es erwarten. Erst drei Jahre nach Canossa ringt er sich 1080 zu einer energischeren Haltung durch, indem er Heinrich zum zweiten Male exkommuniziert.
Die Wirkung ist viel schwächer als beim ersten Mal, und Heinrich reagiert auch ganz anders. Er zieht nach Italien, aber diesmal nicht als reuiger Sünder, sondern an der Spitze seiner Truppen. Außerdem setzt er den Papst erneut ab und lässt an seiner Stelle einen anderen zum Papst wählen, einen der höchsten Kirchenfürsten Italiens, den Erzbischof Wibert von Ravenna, als Papst Clemens (III.). Das so entstandene Schisma wird bis zum Tode dieses Papstes nicht geheilt. 1082 stehen Heinrich und sein Papst vor Rom, das er aber nicht erobern kann. Im nächsten Jahr versucht er es erneut; wieder vergeblich. 1084 gelingt dann aber die Besetzung der Stadt. Clemens (III.) wird als Papst inthronisiert und erteilt Heinrich die Kaiserkrönung. Gregor ist dagegen in die Engelsburg geflohen. Er steht praktisch allein da, weil auch fast alle Kardinäle auf die Seite des Kaisers übertreten. Gregor ruft schließlich die Normannen aus Süditalien zu Hilfe, die Rom erobern und dabei in das Trümmerfeld verwandeln, das wir heute noch sehen. Dieser Vandalismus macht Gregor so unbeliebt bei den Römern, dass er mit den Normannen die Stadt verlassen muss und bald darauf im Exil stirbt.
Aber auch Heinrich IV. findet kein gutes Ende. 1105 zwingt ihn sein eigener Sohn Heinrich V. zur Abdankung. Am 7. August 1106 stirbt er dann, nach Auffassung der Partei Gregors VII. in der Exkommunikation.
Der Konflikt zwischen Heinrich und Gregor wurde überdies von einer publizistischen Auseinandersetzung begleitet, die selbst heutige Entgleisungen in den Schatten stellt. So lesen wir etwa in der um 1135 geschriebenen Legende des Passauer Bischof Altmann (eines bedingungslosen Anhängers Gregors):
»König war in jener Zeit Heinrich IV. […], schon als Knabe zu dieser Würde erwählt. Mangelnde Erziehung ließ seine Wollust und Genusssucht erstarken. […] Kaum hatte er die Schwelle der Jugendzeit überschritten, ließ er sich blindlings von seinen Leidenschaften treiben wie ein Ross oder ein Maulesel, vernachlässigte die Obsorge für das Reich, diente dem Gaumen, frönte der Ausschweifung, verschmähte die königliche Milde, übte Willkür und Gewalt. Die freie Herrin, die Kirche, zwang er wie eine Magd unter das Joch der Knechtschaft. […] Das allgemeine Jammern und Klagen veranlasste Papst Gregor, einen in Leben und Lehre wahrhaft apostolischen Mann, den genannten Heinrich, der nicht regierte, sondern alles ruinierte [non regnans, sed ruinans], zur Verantwortung vorzuladen. Als sich dieser aber zu erscheinen weigerte, belegte er ihn mit dem Kirchenbann. […] In der Folge wurde Gregor […] mit Waffengewalt aus Rom verjagt und die Herde Christi von reißenden Wölfen zerstreut. Wikbert, ein Ketzer und höchst unflätiger Mensch, bemächtigte sich des Apostolischen Stuhles, entweihte die hohepriesterliche Würde und wurde zum Schandfleck für das ganze Volk und Reich. Welch ein Verbrechen!«
Benzo von Alba, ein fanatischer Gegner Gregors, schreibt dagegen um 1085:
»Mönche und Weiber zwingen Bischöfe zur Flucht, als ob Herkules sie verfolgte. Mönche, sage ich; aber was für Mönche? Durch Meineid übel beleumundete, durch die Schändung von Nonnen beschmutzte. […] Als es ihm [Hildebrand] schließlich gefiel, dass der Mann aus Lucca, den er Papst Alexander genannt hatte, verschwinden sollte, ließ er den Leibarzt kommen, damit dieser beim Aderlass die Trennung von Leib und Seele herbeiführe. Und so geschah es. Er selbst läuft unentwegt auf den Plätzen auf und ab und lässt dem Geldverteilen die Zügel schießen. […] Er wird erhöht, der Dämon wird gekrönt, der Mönch besteigt mit der Tiara das Kapitol. O Schande über alle Schande, o Schmerz größer als der Todesschmerz, dass dieser Frevler, Schänder, Meineidige, Mörder, ja sogar Papstmörder, aussätzig an Körper und Seele, Magier und Ketzer so mit den Edelsteinen des heiligen Petrus geschmückt wird. […] Bedenke: Wer Sünde tut, ist Knecht der Sünde. Wer das Werk des Teufels tut, ist Knecht des Teufels. Und so wurde diese falsche Mönchskutte zum Vorkämpfer des Teufels. Sein Fluch ist daher nichts, da er selbst verflucht ist und ein Lügner, wie der Vater der Lüge von Anfang an.«