In meiner Jugend war es üblich, dass die Tanten ihre 5-jährigen Nichten und Neffen fragten: »Na, freust du dich schon auf die Schule?« Im Mittelalter gab es diese Frage nicht, denn nur ein sehr kleiner Teil der Bevölkerung ging überhaupt in eine Schule. Die Landbevölkerung fiel ganz aus, und auch von den Adligen wurden keineswegs alle Kinder in dieser Weise ausgebildet, wobei die Mädchen eine größere Chance hatten als die Jungen, die doch eher Ritter werden sollten. Grundkenntnisse im Lesen und Schreiben waren aber durchaus erwünscht; ein Sprichwort sagte: Rex illitteratus quasi asinus coronatus (›Ein König, der nicht lesen kann, ist wie ein gekrönter Esel‹). Eine künftige kirchliche Karriere begann natürlich immer mit dem Besuch der Klosterschule.
Aber theoretische Überlegungen helfen nicht weiter. Schauen wir uns stattdessen an, wie es um die Lese- und Schreibfähigkeit der deutschen Könige bestellt war. Die Merowingerkönige konnten alle lesen und schreiben; sie waren zwar barbarisch und wild, aber (in antiker Tradition) gebildet. Pippin, der erste Karolinger, war Analphabet; deshalb konnte er seine Urkunden nicht unterschreiben, wie das bislang üblich war, sondern setzte nur ein Kreuz. Von Karl dem Großen berichtet Einhard (770–840), er habe im Alter versucht, »seine Hand an das Formen der Buchstaben zu gewöhnen«, aber mit geringem Erfolg: »Was Karlchen nicht lernt, lernt Karl nimmermehr.« Aber dabei ging es, was meist übersehen wird, um die schönen neuen Buchstaben der »karolingischen Minuskel«, also um Kalligraphie, nicht um das Lesen und Schreiben überhaupt. Und deshalb beweist Karls berühmtes Monogramm auch nicht, dass er Analphabet gewesen sei; es ist ein vorwiegend religiöses Zeichen, nämlich ein ausgestaltetes Kreuz, das sich auch auf seinen Münzen findet.
Auch die späteren Könige konnten lesen und schreiben. Für Otto den Großen gibt es einen direkten Quellenbeleg. Sein zeitgenössischer Bewunderer Widukind von Corvey schreibt:
»Er besaß einen wunderbaren Verstand. Denn nach dem Tode der Königin Edith [= unter dem Einfluss seiner zweiten Frau, der Kaiserin Adelheid] erlernte er, der zuvor davon keine Ahnung hatte, die Schrift soweit, dass er Bücher flüssig lesen und verstehen konnte.«
Heinrich II. und Philipp von Schwaben waren hochgebildet, denn sie wurden als künftige Bischöfe erzogen. Auch Otto II. wurde literarisch erzogen, war aber stinkfaul und renitent. Von Otto III. und Heinrich IV. sind sogar handgeschriebene Zeilen überliefert. Wolfram von Eschenbach – kein König, aber Verfasser mehrerer Ritterepen mit Zehntausenden von Versen – kokettiert im 13. Jahrhundert mit der Behauptung, er könne nicht lesen und schreiben, aber das muss man wohl nicht ernst nehmen. Umgekehrt leitet Hartmann von Aue seinen Armen Heinrich (um 1190/95) mit den Worten ein: Ein ritter sô gelêret was, / daz er an den buochen las.
Aber stellen wir uns vor, wir seien ein siebenjähriges Kind, zu dem der Vater sagt: »Morgen bringen wir dich ins Kloster, damit du in die Schule gehst.« Was erwartet uns dort? Zunächst müssten wir die beiden Grundtugenden der Klosterschule verinnerlichen, nämlich Stillsitzen und Auswendiglernen – ein mitunter durchaus schmerzlicher Lernprozess, denn das Abzeichen des Lehrers ist nicht von ungefähr die Rute. Inhaltlich erwartet uns der Elementarunterricht: Lesen, Schreiben, Singen und Rechnen. Wir lernen zunächst nur das Lesen, das Schreiben folgt erst geraume Zeit später (also ganz anders als heute). Das alles dauert etwa drei oder vier Jahre. Dann entscheidet sich, ob es mit dieser »Grundschule« sein Bewenden hat oder ob wir weiterführenden Unterricht erhalten. Wir sind dann etwa zehn Jahre alt. Allzu viel hat sich also bis heute nicht geändert.
Nur eine kleine Gruppe von uns erhält nun den Unterricht in den septem artes liberales, den ›sieben freien Künsten‹. Diese sind 1. (lateinische) Grammatik, 2. Rhetorik, 3. Dialektik (oder Logik), 4. Arithmetik, 5. (theoretische) Musik, 6. Geometrie (= Erdkunde), 7. Astronomie. Zum Grammatikunterricht gehört auch die Lektüre der lateinischen Schriftsteller, allerdings weniger, um sie inhaltlich kennenzulernen, sondern um sie gnadenlos grammatisch durchzuhecheln. Im frühen Mittelalter las man vorwiegend die spätantiken christlichen Autoren, die heute niemand mehr kennt (und das ist auch gut so), etwa seit dem 12. Jahrhundert aber stattdessen immer mehr die antiken Autoren wie Vergil, Horaz, Sallust oder Ovid. Letzterer war besonders beliebt, und seine Werke Ars amatoria oder auch Remedia amoris (Liebeskunst bzw. Heilmittel gegen die Liebe) usw. waren oft in mehreren Exemplaren in der Klosterbibliothek vorhanden. Eine etwas seltsame Lektüre für weltabgewandte Mönche und fromme Klosterschwestern … Offiziell wurden die Texte natürlich auf die Liebe der Seele zu Gott gedeutet, aber ob da nicht auch die Sehnsucht nach den verbotenen Früchten mitspielte?
Nebenbei: Die lateinische Grammatik, wie sie von der Spätantike bis ins 18. Jahrhundert gelehrt wurde (das Standardwerk war der kleine Donat, der nicht zufällig als eines der ersten Bücher von Gutenberg gedruckt wurde, noch vor dem Prachtwerk der 42-zeiligen Bibel), kennt nicht nur Maskulinum, Femininum und Neutrum, sondern auch ein genus commune, das Männer und Frauen gleichermaßen umfasst.
Wer reiche Eltern hatte oder ein Stipendium ergatterte, konnte seine Ausbildung seit dem 13. Jahrhundert an einer Universität fortsetzen. Dort vervollkommnete er – Frauen waren nicht zugelassen – zunächst seine Kenntnisse der artes und machte einen Abschluss als magister artium. Dann konnte ein Studium der Medizin oder der Juristerei (weltliches und/oder kirchliches Recht) oder der Theologie folgen, dessen Krönung der Erwerb des Doktortitels bildete.