Wenn abends die Sonne untergeht, wird es kalt auf der Burg. Dann sammelt sich die Burgmannschaft, sofern sie nicht zum Wachdienst eingeteilt ist, in dem einzigen Raum, der beheizt werden kann, der Kemenate der Frauen. Außer der Wärme gibt es dort noch eine andere Annehmlichkeit: Es wird vorgelesen. Wenn ein durchreisender Dichter zur Verfügung steht, ist das gut, denn es hindert den Burgherrn daran, zum hundertsten Male seine Heldentaten auf dem Kreuzzug zu erzählen. Ansonsten ist es üblich, dass das Burgfräulein aus einem Buch vorträgt. Das ist absolut normal und wird in einigen Quellen ganz beiläufig als etwas Selbstverständliches erwähnt.
Was dort vorgelesen wird, ist nicht unbedingt die allererste Literatur, sondern eher Unterhaltsames und Spannendes, mit phantastischem Einschlag und zu erwartenden Verwicklungen und am Schluss einem Happy End – also etwa das, was heute im Fernsehen als Telenovela zu sehen ist: Lindenstraße ante litteram. Zu den Romanen, die vorgelesen werden, gehören auch diejenigen, die wir heute als die Hauptwerke der mittelhochdeutschen Literatur kennen. Es gibt aber zum Beispiel auch einen Roman, in dem ausschließlich Turniere geschildert werden.
Etwas aus dem Rahmen fällt der in Deutschland bekannteste Text, das Nibelungenlied, denn es hat ja kein fröhliches Ende. Es beginnt mit den berühmten Versen: Uns ist in alten mæren wunders vil geseit / von helden lobebæren, von grôzer arebeit, [...] –
»Uns wird in alten Erzählungen viel Wunderbares berichtet von berühmten Helden, großer Mühsal, von glücklichen Tagen und Festen, von Tränen und Klagen und vom Kampf tapferer Recken könnt Ihr jetzt Erstaunliches erfahren.«
Die Story selbst handelt von Liebe und Ehe und Betrug und Mord und Rache für den Mord und ist besonders am Schluss ausgesprochen blutrünstig; christliche Werte werden nicht vermittelt.
In vielen Romanen kommt der sagenhafte König Artus vor, der die Ritter seiner Tafelrunde mit Namen wie Iwein, Erec usw. ausschickt, damit sie ehrbare Jungfrauen aus Lebens- oder anderen Gefahren erretten, an ritterlicher Tugend wachsen und Minnedienst verrichten. Gewöhnlich läuft das so ab, dass der Ritter zunächst bei dieser Aufgabe versagt. Dann werden ihm von seiner Dame oder auch am Artushof die Leviten gelesen, und er macht es bei einer zweiten Runde dann richtig. Natürlich ist auch am Artushof selbst nicht alles tugendgold, was glänzt: So hat Lanzelot, der beste Freund des Artus, eine Liaison mit der Königin Ginover, und der Seneschall des Königs, Keie, ist ein zänkischer Kotzbrocken.
Zwei Romane sind bemerkenswert. Der eine ist der Parzival Wolframs von Eschenbach (wir erwähnten ihn im zweiten Kapitel), in dem es nicht um Minnedienst geht, sondern in hochgradig theologischer Weise um die Erlösung von Schuld und um den Heiligen Gral. Er dürfte das Verständnisniveau der Burgknappen weit überstiegen haben. Der Dichter hat das offenbar selbst empfunden und deshalb am Ende noch ein kleines Lustspiel angehängt, die Geschichte von Elsa und Lohengrin: Parzivals Sohn Lohengrin eilt als Gralsritter einer verleumdeten Dame zu Hilfe, eben Elsa von Brabant, die er durch einen Zweikampf vom Vorwurf sexueller Vergehen reinigt und heiratet. Bedingung für Hilfe und Ehe ist aber, dass sie ihn nie nach seinem Namen fragt, denn als Gralsritter darf er seine Identität nicht enthüllen. Elsa schafft es aber auf die Dauer nicht, ihre Neugier in Zaum zu halten, und fragt Lohengrin doch nach seinem Namen. Daraufhin muss er sie verlassen; optisch wirkungsvoll zieht er an Bord eines Schwanes von dannen.
Das genaue Gegenteil zum Parzival ist die Geschichte von Tristan und Isolde, die Gottfried von Straßburg zu seinem Tristan verarbeitet hat. Der Romanheld ist eigentlich die Frucht einer verbotenen Liebe: Sein Vater Riwalin ist bereits ein erwachsener Ritter, der aber selbst merkt, dass es ihm noch an den charakterlichen Fähigkeiten des vollkommenen Ritters mangelt. Deshalb geht er nach Cornwall zum Hof des Königs Marke, um durch dessen Vorbild diese Fähigkeiten weiter auszubilden.
Es kommt aber anders, denn er verliebt sich in die Schwester des Königs, Blanscheflur, die ›weiße Blume‹, die er schwängert und dann mit ihrer Zustimmung entführt, was auch in der Realität gar nicht so selten geschah. Aber kurz bevor das Kind zur Welt kommt, stirbt Riwalin im Kampf, und auch die Mutter haucht kurz nach der Geburt ihr Leben aus; auch das ein häufiger Vorgang. Jedoch gibt der treue Marschall Riwalins das Kind als Sohn seiner eigenen Frau aus, die dazu eine Schwangerschaft simuliert und dann zusammen mit ihrem Mann den kleinen Tristan aufzieht (auch das ist durchaus realitätsnah).
Auf einigen recht dramatischen Umwegen kommt Tristan später ebenfalls an den Hof König Markes, der ihn beauftragt, seine Braut Isolde aus Irland abzuholen. Es kommt erneut, wie es kommen muss: Tristan und Isolde verlieben sich unsterblich ineinander. Trotzdem findet die Ehe zwischen ihr und König Marke statt, gleichzeitig läuft aber die ehebrecherische Beziehung zu Tristan weiter. König Marke ahnt, was vorgeht, erlangt aber nie wirkliche Gewissheit, und als ehrbarer Herrscher verurteilt er sie nicht auf den unbewiesenen Verdacht hin. (Nicht alle mittelalterlichen Herrscher waren so selbstbeherrscht: Der bayerische Herzog Ludwig II. ließ seine erste Ehefrau 1256 auf einen bloßen Verdacht hin köpfen.) Dieses Szenario – unbewiesener Verdacht – wird mehrmals durchgespielt; einmal muss Isolde sogar einen Reinigungseid leisten, den sie durch einen juristischen Trick besteht, obwohl sie in Wirklichkeit schuldig ist. Am Schluss aber kommen die beiden liebenden Ehebrecher durch ein Missverständnis ums Leben, weil jeder glaubt, der andere habe den Tod gefunden, und daraufhin selbst nicht mehr weiterleben will. Ein klassischer Schluss, den wir schon in der Antike bei Pyramus und Thisbe finden oder später bei Romeo und Julia.
Statt Rittergeschichten kann man sich auch historische Themen vornehmen. So gibt es zum Beispiel die Nachdichtung von Vergils Aeneis durch Heinrich von Veldeke (entstanden zwischen 1180 und 1188). Dabei ist amüsant zu sehen, wie der antike Stoff ins mittelalterliche Milieu hinübergleitet, etwa wenn abwechselnd »Gott« oder »die Götter« angerufen werden oder der antike Hades zur christlichen Hölle mutiert. Die Hochzeitsfeier zwischen Aeneas und Lavinia vergleicht Heinrich mit dem Mainzer Hoftag Friedrich Barbarossas von 1184. Der Text ist auch deshalb witzig, weil der Dichter seinen antiken Kollegen offenbar nicht mehr recht ernst nimmt. Ganz am Schluss hören wir:
»›Eineide‹ heißen die Bücher, / die Virgilius darüber geschrieben hat, / von dem uns die Geschichte überliefert ist / (und) der schon seit vielen Jahren tot ist. / Wenn er nicht gelogen hat, so ist wahr, / was Heinrich danach verfaßt hat.«
Natürlich hat kaum jemand von uns diese Romane gelesen (obwohl es mittlerweile zuverlässige Nacherzählungen gibt), sondern wir kennen sie hauptsächlich als Vorlage für die Opern von Richard Wagner. Allerdings sind sie dort oft verzerrt, umgedeutet und miteinander kontaminiert.
Eine Wagneroper, für die es keinen mittelalterlichen Roman, kein Versepos als Vorlage gibt, sondern nur ein spätmittelalterliches Lied, ist die Geschichte vom Tannhäuser. Dieser Minnesänger, von dem es auch Texte in der Manessischen Liederhandschrift gibt, gerät in die Venusgrotte, eine Art antikes Edelbordell, das sich irgendwie ins Mittelalter gerettet hat. Er verfällt der Anziehungskraft von Frau Venus und leistet ihr sogar einen Eid, sie niemals gegen ihren Willen zu verlassen. Dann aber rührt sich sein Gewissen, denn er lebt bei ihr ja in der Todsünde, und er verlässt sie doch, um nach Rom zu ziehen und sich dort vom Papst von seinem Eid lösen und von der Sünde lossprechen zu lassen. Der Papst – er ist ausdrücklich als Urban IV. (1261–1264) bezeichnet – erklärt aber, Tannhäusers Sünde sei so schwerwiegend, dass er ihn nicht lossprechen könne. Wie der Hirtenstab, den er in der Hand trägt, nicht mehr ausschlagen und blühen könne, so unmöglich könne der Tannhäuser Gottes Vergebung erlangen. Der Tannhäuser reist verzweifelt ab, aber am dritten Tag geschieht das Wunder. Auf dem Stab sind tatsächlich neue Blüten aufgebrochen. Das Lied deutet abschließend an, zwar nicht der Tannhäuser, wohl aber der Papst sei wegen seiner hartherzigen Haltung der ewigen Verdammnis verfallen. Dieser Schluss fehlt bei Wagner; dort ist es stattdessen die heilige Elisabeth von Thüringen, die den Minnesänger erlöst.
Natürlich gibt es seit der Zeit der Romantik etliche Schauspiele und im 20. Jahrhundert auch Filme über diese Stoffe. Am bekanntesten und aufwendigsten sind das dreiteilige Drama über die Nibelungen von Friedrich Hebbel von 1861 und der zweiteilige Stummfilm von Fritz Lang von 1924, Und dann haben sich auch noch Sportler, zum Beispiel ehemalige Hammerwerfer, in der Filmrolle des Siegfried versucht. Und zum Schluss noch etwas ganz anderes: König Artus und seine Tafelrunde, Lanzelot, Ginover und der Gral haben auch das Interesse englischer Komiker auf sich gezogen, die dann als Ritter der Kokosnuss über die Leinwand ziehen.