10. KAPITEL
Die Männer, die Anna wie in einem Schraubstock hielten, hatten sich Tücher vors Gesicht gebunden, um sich unkenntlich zu machen. Doch während sie sich weiter verzweifelt wehrte, glaubte sie, in einem der Angreifer ganz deutlich Johann zu erkennen. Doch es war noch so dunkel in der Schankstube, dass sie bei dem Handgemenge nicht viel sehen konnte. Sie keuchte, schrie und biss, schlug um sich, bis einer der Männer ihren Kopf packte und ihn mehrmals mit schmerzhaften Stößen nach hinten auf den Tisch schlug. Anna schwindelte, sie war plötzlich ganz benommen und alles drehte sich um sie. Wie betäubt, nur das Dröhnen in ihren Schläfen spürend, lag sie eine Weile da, während einer der drei ihren Rock hochschob und schnaufend ihre Schenkel auseinanderpresste. »Lass mich zuerst!« Die undeutliche Stimme hinter dem Tuch vor dem Mund gehörte zweifellos Johann, der anscheinend das einfordern wollte, was er sich schon lange in seinen schmutzigen Fantasien ausgemalt hatte. Anna bäumte sich auf, doch sie spürte, dass sie gegen die Übermacht der Männer nichts ausrichten konnte, ohne dass sie ihr Leben gefährdete. Sie schloss die Augen und biss die Zähne zusammen. Die Annahme, dass sie noch Jungfrau war, schien den ehemaligen Hausdiener besonders zu reizen. Sie spürte, wie sich seine Hände gierig und zielbewusst unter ihr Leibchen und
über ihren Körper schoben. Als sie die Augen öffnete, blickte sie direkt in das schweißnasse Gesicht ihres Peinigers. Das Tuch, das sein Gesicht verhüllen sollte, war heruntergerutscht, und sie erkannte das Gesicht Johanns, dessen aufgerissene dunkle Augen vor Lust fast aus den Höhlen traten. Mit einem Aufschrei versuchte Anna, sich mit ihrer ganzen Kraft auf die Seite zu wälzen. Doch Johanns Komplizen, die ihm wohl oder übel den Vortritt lassen mussten, waren auf der Hut. Sie stießen sie auf den Tisch zurück und hielten sie fest. Johann öffnete mit einem grunzenden Laut seine Hose und glotzte mit entgleisten Zügen auf die hilflos Daliegende herab. »Das hättest du nicht gedacht, kleine Wildkatze, oder? Jetzt werde ich dich zähmen. Wenn nicht freiwillig, dann eben mit Gewalt. Und jetzt wollen wir mal sehen, ob es mir nicht gelingt. Ich möchte, dass du um Gnade bittest.«
Anna schrie vor Schmerz auf, als er nach diesen Worten rücksichtslos in sie eindrang. Vor ihren Augen tanzten bunte Funken. Sie wünschte sich, in Ohnmacht zu fallen, doch sie blieb bei Bewusstsein. Zum Glück dauerte ihre Pein nicht lange, denn Johann ließ bald von ihr ab. Doch jetzt drängten sich seine beiden Kumpane vor, schmutzige, ungewaschene Gesellen, die nach Schweiß und Schnaps stanken, und wollten ebenfalls ihren Anteil. Anna wandte den Kopf zur Seite und erbrach sich. Johann hatte sich inzwischen erholt und warf sich nach den beiden anderen noch einmal über sie. So ging es eine Zeit lang weiter fort. Längst hatte Anna alle Gegenwehr aufgegeben, zitternd, schlaff und halb bewusstlos vor Angst lag sie da. Wogen des Schmerzes, verbunden mit Ekel und Scham, schlugen über ihr zusammen. Ihr war plötzlich, als stünde sie neben sich und schaute dem Geschehen fassungslos zu. Sie wünschte sich den Tod, dann würde dieses Unheil, diese Qual endlich ein Ende haben. Nach einer Zeitspanne, die ihr wie eine Ewigkeit vorkam, hatten die drei endlich genug. Wie eine
leblose Puppe ließen sie Anna auf dem Tisch liegen und verschwanden, ohne sich weiter um sie zu kümmern. Erst nach einer endlosen Weile rutschte sie mühsam vom Tisch und kroch auf dem Boden bis zum Wassereimer in der Ecke und versuchte, aus der Schöpfkelle zu trinken. Alle Glieder taten ihr weh, ihre Kleidung war beschmutzt und zerrissen. Inneres Grauen schüttelte sie wie im Fieber.
Ein Geräusch ließ sie zusammenfahren. Ihre Qual schien noch nicht vorbei zu sein, denn Johann, ihr Peiniger, kam noch einmal zurück. Er hatte die Schnapsflasche gefunden, die sie in ihrem Bündel versteckt hatte. »Diebin!«, schnaubte er voller Zorn, ohne auf ihren Zustand zu achten. »Du stiehlst ja wie ein Rabe.« Er stellte die Flasche auf ihren Platz zurück und starrte wütend auf Anna, die wie ein Häufchen Elend auf dem Boden kauerte. »Steh auf«, befahl er. »Und bring deine Kleider in Ordnung. Gleich kommen die ersten Gäste. Und merk dir vor allem eins: Mund halten! Sonst bist du beim nächsten Mal richtig dran.« Wie zur Bestätigung beugte er sich zu ihr hinab, legte ihr drohend die Hände um den Hals und drückte kurz zu. Anna keuchte, doch er ließ sie rechtzeitig los und zog sie hoch, bis sie, schwach und schwankend, auf den Beinen stand. »Hör mir jetzt gut zu: Wenn du tust, was ich sage, geschieht dir nichts. Und zu niemandem ein Wort darüber. Du wirst sehen, mit der Zeit gefällt es dir ganz gut, es mit mehreren Männern zu treiben.« Er lachte meckernd. »Das war nur der Anfang. Du wirst es noch besonders genießen, wenn ich zu dir komme, das verspreche ich.« Er sah sie mit selbstgefälliger Miene an. »Und denk daran: Widerstand ist zwecklos. Weglaufen wird dir nichts nützen – ich finde dich! Wenn du nicht spurst, dann erzähle ich den Gendarmen, was du mir alles gestohlen hast. Das bringt dich für Jahre hinter Gitter …«
Anna konnte in diesem Moment nicht anders – sie spuckte Johann plötzlich mitten ins Gesicht. »Sie Untier!«, keuchte sie.
»Ich werde Ihrer Helena alles erzählen, ich …«, sie schluchzte laut auf, »und dann können Sie meinetwegen die Gendarmen holen …«
Johanns Grinsen erlosch urplötzlich. Er wischte sich den Speichel von der Wange. Dann hob er die Hand und schlug wütend und ziellos auf Anna ein, die die Hände schützend vors Gesicht hielt. Schließlich hielt er atemlos inne. »Du meinst wohl, irgendjemand würde einer Hure wie dir etwas glauben?« Er versetzte ihr einen weiteren Hieb ins Gesicht. »Überleg es dir gut, ob du Püppchen etwas erzählst. Dann werden zehn Männer kommen, die sich mit dir vergnügen – so lange, bis du mich irgendwann auf den Knien um Gnade bittest.« Um seinen Worten Nachdruck zu verleihen, versetzte er ihr einen neuen Hieb, der sie zu Boden stürzen ließ. »Entscheide dich, Schätzchen. Aber vergiss nicht, die Schänke heute pünktlich aufzusperren! Ich komme am Abend wie immer und hole die Einnahmen.« Als Anna den Kopf mit den tränenblinden Augen hob, war Johann schon aus der Tür.
Sie wusste nicht, wie lange sie danach wie zerschmettert am Boden gelegen hatte, ohne einen klaren Gedanken fassen zu können. Ihr Körper schien überall wund zu sein, ihre Lippe blutete und sie fühlte sich elend wie noch nie in ihrem Leben. Schmerz und Wut über die Demütigung hatten eine Art Stumpfheit und Hoffnungslosigkeit in ihrer Seele hinterlassen, sodass es eine ganze Weile dauerte, bis ein kleiner Rest Lebensmut wieder in ihr erwachte. Es klopfte am Ausschank. Längst hatte sie die Schänke wieder aufsperren müssen, denn die ersten Arbeiter kamen schon in aller Frühe, vor dem Dienst. Schließlich raffte sie sich auf und zog sich an einem Tisch hoch. Ihr geschundener Körper gehorchte ihr kaum, alle Glieder taten ihr weh. Schleppenden Schrittes holte sie die blecherne Waschschüssel aus dem kleinen Verschlag, in dem sie schlief, und goss das restliche Wasser hinein, das sie am Vortag
vom Brunnen geholt hatte. Dann begann sie sich zu waschen und auch ihre Kleidung notdürftig zu reinigen. Sie betrachtete die roten Flecke und Kratzspuren an ihrem Körper in der Spiegelscherbe, ihre verweinten und verquollenen Augen, aus denen immer noch die Tränen flossen, die geschwollene Lippe. Darauf kämmte sie ihre kurz geschnittenen Haare glatt zurück und sah sich nach ihrem Bündel um, das offen und wie verloren auf dem Boden lag. Sie wusste nur eins: Sie musste fort, so schnell wie möglich und ohne auch nur eine Minute Zeit zu verlieren. Johann würde sie weiter quälen. Und wenn sie nicht tat, was er sagte, würde er die Gendarmen auf sie hetzen und Anzeige erstatten, weil sie ihm angeblich sein Geld gestohlen hatte. Man würde sie ins Gefängnis stecken. Jetzt gab es nur noch eins: zu verschwinden – dorthin, wo er sie nicht finden konnte.
Ihr Plan, sich als Soldat unter falschem Namen bei der preußischen Armee zu melden, nahm jetzt klare Formen an und schien ihr unausweichlich. Ab jetzt würde sie sich Anton nennen, Anton, vormals Schankgehilfe. Und sie würde mit allen Fasern ihres Wesens Anton sein, so gehen wie er, denken und kämpfen wie er, das schwor sie sich. Das einzige Problem war nur noch die Kleidung, um sich einschreiben zu lassen; ein Hemd, eine Hose und eine Jacke. Papiere hatte sie keine – aber die konnten ihr ja auch gestohlen worden sein. Sie sank auf einen Stuhl nieder, immer noch schwach und innerlich zitternd. Konnte sie sich in dieser Verfassung den Soldatenwerbern präsentieren? Sie musste sich jetzt stark zeigen, kräftig. Erst als immer ungeduldiger und heftiger an die Durchreiche des Ausschanks geklopft wurde und die Gäste im Vorbeigehen sogar lauthals ihren gewohnten Anteil forderten, raffte sie sich auf und riss sich zusammen. Egal, wie es endete, sie musste das Wagnis eingehen. Sie nahm die Flasche Schnaps wieder aus dem Regal und verstaute sie erneut in ihrem Bündel. Leise, auf Zehenspitzen
und sich mehrfach nach allen Seiten umsehend, verließ sie in gebückter Haltung die Schänke durch die niedrige Pforte des Seitenausgangs.
Draußen war es kalt. Dicke Schneeflocken fielen langsam und stetig vom Himmel, der grau und undurchdringlich wirkte. Amalie fröstelte in ihrem mit rosa Seide gefütterten Umhang. Sie ließ den Bediensteten noch ein paar Scheite in das heruntergebrannte Kaminfeuer werfen und den Sessel näher an den Kamin schieben. Eine heiße Bouillon auf einem Stövchen stand auf dem Tischchen neben ihr, an der sie von Zeit zu Zeit nippte. Müde und matt von der durchwachten glücklichen Nacht, die unter Kosen und süßen Zärtlichkeiten so schnell verflogen war, konnte sie sich des Gefühls der Einsamkeit nicht erwehren. Sie hasste das schlechte winterliche Wetter, das den Geliebten auf dem Weg zu ihr in vielerlei Hinsicht gefährdete. Aber welches Glück, wenn er dann endlich da war – und welche Traurigkeit beim Abschied! Lange konnte sie danach nicht einschlafen und tausend Sorgen gingen ihr durch den Kopf. Im Geiste sah sie ihn in halsbrecherischem Tempo über die gefrorenen Wege galoppieren, die Gefahr nicht beachtend, dass die Beine seines Pferdes auf dem eisigen Untergrund ausgleiten und ihn zu Fall bringen könnten. Sie fürchtete, dass die Wachen ihn entdecken und melden würden. Und sie hoffte, dass er beim Appell rechtzeitig wieder in der Garnison war, damit man keinen Verdacht schöpfte. Es gab nun schon so viele Mitwisser, die man nur mit genügend Dukaten zum Schweigen und zum Wegschauen bringen konnte. So unendlich viele Hindernisse für ihre Liebe türmten sich vor ihr auf, die immer höher wurden, je öfter sie zusammen waren. Und nach jedem Abschied wurde ihre Sehnsucht nach ihm größer.
Ihre Tage verliefen jetzt monoton, erfüllt von Müdigkeit und von der Vorfreude und dem Warten auf die kommende Nacht und dann von den ekstatischen Stunden voller Liebe und Leidenschaft. Aber so konnte es nicht ewig weitergehen, das wusste sie im tiefsten Innern. Deshalb hatte sie nach langen Zweifeln und qualvollem Zögern jetzt endlich einen Entschluss gefasst. Ob er richtig oder falsch war, danach fragte sie nicht. Aber es musste etwas geschehen, bevor es zu spät war. Sie würde mit ihrem Bruder, dem König, sprechen. Ihre gemeinsamen Jugendjahre beschwören, in denen sie den schlimmsten Kummer seines Lebens miterlebt hatte: die Hinrichtung seines geliebten Freundes Katte, mit dem er damals dem tyrannischen Vater entflohen war. Nachdem man die beiden gefasst hatte, zwang der König seinen Sohn, die Bestrafung mit anzusehen. Er hatte ihm gedroht, dass ihm das gleiche Schicksal blühen würde, wenn er nicht gehorche. Nach diesem schrecklichen Erlebnis hatte Friedrich ihr seine Gefühle anvertraut, seinen Wunsch, nicht mehr leben, alles hinwerfen zu wollen. Sie hatte ihn getröstet, ihn ermutigt, an seine hohe Aufgabe, die des Thronfolgers, zu denken. Dem grausamen Vater zu verzeihen. Friedrich würde nun auch ihre Situation verstehen, denn er konnte nicht wirklich ihr Unglück, ihre Isolation wollen. Sicher gab es irgendeinen offiziellen Weg, den sie und ihr Geliebter gehen konnten, um sich für immer zu vereinigen. Es musste jetzt einfach eine Lösung gefunden werden, bevor der Skandal da war, der Klatsch überhandnahm. Am Nachmittag würde sie sich zu ihrem Bruder kutschieren lassen, zu einer ihm in diesen sorgenvollen Zeiten mühsam abgerungenen persönlichen Privataudienz. Es schien ihr, als hätte Friedrich durch den neuen Krieg, den er führen musste, einen Teil seiner heiteren Sorglosigkeit eingebüßt – als habe der erneute Kampf um Schlesien diesmal stärkere Spuren hinterlassen. Der mangelnde Rückhalt der Verbündeten, die vielen Gefallenen, unter ihnen
nahe Vertraute und Freunde, hatten ihn tief betrübt. Ganz zu schweigen von den Tausenden, die desertiert waren. Und wofür das alles – diese blutigen, verbissenen Kämpfe? Zwar hatte Friedrich Schlesien behalten können, aber auch keinen Meter Land mehr. Er wollte es nicht zugeben, aber es machte ihm sichtlich zu schaffen, ließ ihn Tag und Nacht darüber grübeln, wie es nun weitergehen solle. Vielleicht war der Moment nicht allzu günstig, jetzt von so etwas Privatem wie von ihrer Liebe zu Trenck zu sprechen. Aber es ging ja auch um ihr Leben, ihr Glück, ihre Zukunft! Amalie schob rigoros alle Bedenken beiseite. Sie hoffte auf Friedrichs Güte, mit der er ihr, seiner jüngsten und liebsten Schwester, noch nie etwas hatte abschlagen können.
Aber es gab auch noch einen anderen, wichtigen Grund, endlich Klarheit zu schaffen. Sie war in einem Zustand, der nicht mehr lange verborgen bleiben konnte. Beklommen strich sie über den sanften Hügel, der ihren Bauch kaum sichtbar wölbte, und starrte in die züngelnden Flammen. Ihr Bruder musste einsehen, dass es nur noch eine einzige Lebensform für sie gab. Eine Heirat mit ihm – mit dem Freiherrn Friedrich von der Trenck, seinem Adjutanten und Gardeoffizier, der auch seinem Herzen sehr nahe stand. Sie legte ihre Stickarbeit, mit der sie sich ablenken wollte, nach einer Weile wieder fort, weil ihre Finger zu sehr zitterten. Die Zeit tröpfelte in zähen Minuten dahin. Amalie erhob sich von ihrem Sessel, klingelte und ließ sich von der Zofe ankleiden. Die Röcke ihres nachtblauen Taftkleides mit Spitzen an Hals und Handgelenken raschelten, als sie voll innerer Erregung zum Fenster ging und in das Schneegestöber hinaussah. Die wärmende weiße Pelzstola war von ihren Schultern geglitten, doch sie bemerkte es nicht einmal. Ihr Mittagessen, dessen Geschmack sie kaum wahrnahm, brachte sie bis auf ein paar Gabeln kaum herunter. Dann endlich war es so weit. Die Kutsche fuhr vor, um sie von Montbijou
zum Großen Schloss zu bringen. Sie eilte hinaus und lief die Treppen so schnell hinunter, dass die Zofe ihr kaum folgen konnte, die ihr einen Mantel um die Schultern legen wollte. Amalies blasse Wangen färbten sich rosig, als die Pferde anzogen und sie sich wie schon so oft die Worte zurechtlegte, die sie Friedrich sagen wollte. Alles würde gut werden. Warum machte sie sich überhaupt solche Sorgen? Ihr Bruder war ihr immer zärtlich zugeneigt und wohlgesinnt gewesen. Gemeinsam hatten sie sich oft gegen den strengen Vater verschworen. Friedrich würde gnädig sein, auch weil Trenck ihn an seinen ehemaligen unglücklichen Freund Katte erinnerte. Er hatte es ihr selbst einmal gesagt.
Der dunkle Schatten des Großen Schlosses tauchte nur zu bald aus dem feuchten Nebel auf, der den Tag verhüllte. Amalie verließ zögernd die Kutsche. Ihr Herz klopfte schnell und in unregelmäßigen Schlägen, als sie die Treppen zu den Appartements ihres Bruders hinaufstieg.
Friedrich saß gedankenverloren an seinem Schreibtisch und grübelte anhand von Karten mit strategischen Plänen darüber, wie er den Feind im nächsten Feldzug überraschen und überwältigen konnte. Seine beiden Hunde, elegante Windspiele, streckten sich zu seinen Füßen aus. Alkmene hatte sich ganz dicht an seine Knie geschmiegt, Biche lag vor dem Kamin und genoss die Wärme der züngelnden Flammen. Diktierte und bereits unterzeichnete Briefe Friedrichs an den russischen Zaren, den König von Frankreich, an England und Schweden lagen bereit und warteten darauf, dass sein Sekretär die Wortwahl noch einmal überflog. Er sah flüchtig auf, als Amalie eintrat, und man merkte, dass ihr Besuch ihm in diesem Moment nicht gerade gelegen kam. Doch er bezwang sich, legte die Feder fort und blickte ihr höflich entgegen. »Amélie, ma chère sœur«, er fiel in die französische Sprache, die sie unter sich gebrauchten. »Je suis ravi de vous voire, vous êtes belle comme un rayon de soleil.«
Amalie war nicht in der Stimmung, seine Komplimente zu erwidern. »Fritz – ich muss mit dir über etwas sehr Wichtiges sprechen«, platzte sie gleich heraus. »Etwas Persönliches. Es liegt mir sehr am Herzen.«
Friedrich runzelte leicht die Stirn. »Etwas Persönliches? Du siehst ja, ich bin im Moment mit ganz anderen Dingen beschäftigt. Wir haben hohe Verluste in der Schlacht gehabt – meine treuesten Leute sind gefallen.« Er musste seine Bewegung verbergen und starrte über Amalie hinweg in die Luft. »Und dann die Niederlage bei Prag, das wir so mühsam erobert hatten.« Er schlug mit der Faust auf den Tisch. »Der Teufel soll die feindlichen Österreicher holen, die trotz des einbrechenden Winterwetters in ihren Positionen geblieben und nicht abgezogen sind! Maria Theresia scheint in ihrem Trotz, Schlesien wiederzuerobern, alles aufbieten zu wollen, was in den Kräften der österreichischen Armee steht. Und so muss ich meine Truppen wieder in die Stellungen schicken, bevor die Österreicher uns in den Rücken fallen. Dabei sind meine Kassen leer …«
»Fritz – nur eine Minute!«, bat Amalie mit Tränen in den Augen. »Hör mir zu, was ich dir zu sagen habe. Es geht um meine Zukunft, mein Glück …«
Der König unterbrach sie. »Ja, darüber wollte ich mit dir schon lange reden, Amélie. Ich finde, du solltest deinen Widerstand aufgeben und dich bald verheiraten. Ich denke die ganze Zeit darüber nach, welch günstige Allianz wir mit den verbündeten Ländern noch schließen könnten. Gerade jetzt brauchen wir dringend Unterstützung. Es wäre ungeheuer wichtig für mich – für unser Land.«
»Genau das ist es, worüber ich vorhatte mit dir zu sprechen.« Amalie war bei diesen direkten Worten vor innerer Erregung blass geworden. Ihre Augen flackerten. »Ich wollte dir sagen, dass ich niemals aus Staatsgründen heiraten will – sondern nur aus Liebe.«
»Aus Liebe? Was soll denn das heißen?« Friedrichs Miene verdüsterte sich. »Was meinst du damit?«
»Ich … ich möchte deine Erlaubnis einholen, den Mann meines Herzens heiraten zu dürfen …«
Amalie konnte nicht weitersprechen, denn Friedrich war aufgesprungen. Sein Gesicht war bleich geworden, seine Lippen schmal. Er holte tief Luft. »Das kann ich nicht zulassen.« Sein Ton wurde jetzt hart und bestimmend. »Die Schwester des Königs von Preußen sollte sich nicht von sentimentalen Gefühlen leiten lassen. Es stünde ihr besser an zu gehorchen – eine Allianz einzugehen, die dem preußischen Staat nützlich wäre.«
Amalie presste eigensinnig die Lippen zusammen und schüttelte den Kopf. Die Empörung darüber, dass man in dieser Weise über ihren Kopf hinweg entscheiden wollte, ließ ihre Angst verfliegen. »Das wird nie geschehen!«
»Du hast wohl jemand ganz Bestimmten im Sinn, Amélie. Und wer soll das sein, zum Teufel?« Der König ging mit auf dem Rücken verschränkten Armen auf und ab. Seine Stiefeltritte klangen knarrend und unheilvoll durch den Raum. »Sprich! Ich habe nicht ewig Zeit für solche Kinkerlitzchen!«
»Kinkerlitzchen?« Empörung stieg in Amalie auf. »Das sagst ausgerechnet du? Hier geht es um mein Leben – nicht um Staatsgeschäfte! Mein Auserwählter ist nicht irgendwer! Du kennst und schätzt ihn.«
»Sein Name! Sprich endlich!«, grollte Friedrich, der dicht vor Amalie stehen geblieben war. »Wer ist es?«
Eine bedeutungsschwere Pause trat ein. Dann murmelte Amalie die verhängnisvollen Worte. »Der Freiherr von der Trenck. Ich liebe ihn. Und er liebt mich.« Ängstlich und abwartend sah sie zu ihrem Bruder auf. Der König verharrte wie vom Donner gerührt. Dann stiegen Flammen des Zorns in sein Gesicht und ließen es glutrot werden. »Der Trenck?
Mein Gardeoffizier und Adjutant? Ausgerechnet er – er hat es gewagt«, stieß er nach einer Weile zwischen den Zähnen hervor, »sich dir zu nähern? Dieser Schurke, dieser Hundsfott …« Er vollendete den Satz nicht, drehte sich auf dem Absatz um und nahm wieder an seinem Schreibtisch Platz. Seine Miene war eisig geworden. »Niemals«, stieß er hervor. »Nicht er. Niemals. Er ist weit unter deinem Stand, Amélie. Eine Prinzessin aus dem Hause Preußen – das hat er sich wohl gut ausgedacht. Schlag ihn dir aus dem Kopf. Besser heute als morgen.«
»Aber …«, begann Amalie hilflos. Die Tränen stiegen ihr in die Augen, obwohl sie sie gewaltsam zurückdrängte, und ihre Kehle zog sich zusammen. »Ich dachte immer, du schätzt seine Verdienste, du … du … könntest ihn befördern, zum Marschall ernennen, zum Herzog vielleicht …«
»Schweig! Ich will nichts mehr davon hören und nicht mehr darüber reden. Er hat mich hintergangen, das ist ganz klar. Er wird die Folgen spüren und du hast meine Entscheidung zu akzeptieren.«
Amalie sprang auf. »Du kannst mich nicht zwingen! Ich werde nie einen anderen heiraten als ihn!« Sie stampfte wütend mit dem Fuß auf. »Er liebt mich und ich ihn!«
»Dann kannst du meinetwegen eine alte Jungfer werden. Aber der Trenck und du – das passt nicht zusammen. Das hat er sich wohl gut ausgedacht – dir heimlich schöne Augen zu machen.« Friedrich mied Amalies Blick, die ihn jetzt zornblitzend ansah.
»Er weiß nichts davon – dass ich mit dir über ihn spreche. Und was würdest du sagen, wenn ich es gewesen wäre, die ihm schöne Augen gemacht hätte?«
Friedrich schwieg eine Weile, auf der Stirn eine steile Falte des Unmuts. »Das wäre eine große und unverzeihliche Dummheit«, murmelte er schließlich. »Aber jetzt basta«, er schlug mit der Hand auf den Tisch, sodass seine beiden
Windspiele erschrocken aufsprangen, »es ist ausgeredet. Ich will davon nichts mehr hören. Und ich verbiete dir, mir noch einmal von dem Trenck in dieser Weise zu sprechen. Er wird mit Konsequenzen rechnen müssen. Und nun zu dir. Wenn du absolut nicht heiraten willst, um deinem Land zu helfen, biete ich dir, wie schon einmal gesagt, die Möglichkeit, Äbtissin im Kloster Quedlinburg zu werden. Dort hast du sehr gute Einkünfte und brauchst dir bis an dein Lebensende keine Sorgen mehr zu machen.«
»Ich gehe nicht ins Kloster.« Amalie verlor ihre mühsam aufrechterhaltene Beherrschung und brach in Tränen aus.
»Brauchst du ja nicht«, Friedrich sah sie nicht an, »hier geht es nur um die Form, um deine Zukunft, für die ich als dein Bruder sorgen muss. Auch wenn du Äbtissin bist, kannst du im Schloss wohnen bleiben oder jederzeit hingehen, wohin du willst. Daran werde ich dich niemals hindern. Aber eine solche Mesalliance eingehen – das kommt nicht infrage, solange ich lebe. Es wäre ein Skandal.«
»Aber warum … warum bist du überhaupt gegen mich und Trenck?« Sie schluchzte laut auf. »Er war dir doch immer besonders teuer. Der
Matador de la jeunesse prussienne
! Du hast ihn in den höchsten Tönen gelobt, immer von seinem Mut, seinem Geist und seiner Treue gesprochen.«
»Ich habe mittlerweile Gründe, an seinem Charakter zu zweifeln.« Friedrich zog die Stirn noch stärker zusammen. »Er ist ein Verräter – er spielt ein doppeltes Spiel! Ich habe gewisse Dinge über ihn erfahren und warte nur auf den Augenblick, an dem ich ihn überführen kann. Und darauf, dass er gesteht.«
»Trenck ein Verräter?«, rief Amalie entsetzt aus. »Was soll er denn gestehen? Das ist eine Lüge, eine infame Intrige. Man verleumdet ihn. Er liebt und verehrt dich über alles, Fritz! Du bist sein Idol! Er setzt sein Leben für dich ein, für sein Vaterland,
für die preußische Armee. Wie kannst du nur so etwas von ihm denken!«
»Du verteidigst ihn, weil du unwissend und verblendet bist. Auf diese Weise hat er auch mich hinters Licht geführt. In Wahrheit macht er gemeinsame Sache mit seinem Vetter Franz von der Trenck, dem österreichischen Pandurenoberst. Ich habe erfahren, dass dieser ihn in seinem Testament als Haupterben eingesetzt hat. Sie haben Briefe gewechselt. Das ist Hochverrat.«
»Aber vielleicht ist das alles ganz harmlos. Er kann vielleicht nichts dafür, dass ihn der Vetter zum Erben eingesetzt hat. Überhaupt glaube ich solchen Gerüchten nicht. Man neidet Trenck nur seine Favoritenrolle, ist eifersüchtig auf die Vorzüge, die er genießt!« Amalies Stimme klang jetzt tränenerstickt. »Eifersüchtig auf meine Liebe! Man will ihn verderben.«
»Nichts da. Ich habe Beweise!«, sagte der König trocken. »Ein Brief von seinem Vetter! Er wurde abgefangen. Eine eindeutige Sache. Bisher habe ich noch nichts unternommen und ihn nur wegen seiner Unpünktlichkeit unter Arrest gestellt. Ich warte darauf, was er auf diesen Brief antwortet, und lasse ihn vorerst beobachten. Sein Verhalten wird ihn entlasten oder auffliegen lassen.«
»Du hast ihn unter Arrest gestellt?«, stieß Amalie entsetzt hervor. »Wann?«
»Heute Morgen. Er kam mehrfach zu spät zur Parade.« Friedrich beugte sich vor. »Ein paarmal habe ich es ihm durchgehen lassen. Aber jetzt …« Sein schmales Gesicht war bleich und ernst, seine Nase trat spitz hervor und sein Rücken war gekrümmt wie unter einer schweren Last. »Und nun lass mich bitte in Frieden. Ich habe wichtigere Dinge zu bedenken, als mich mit deinen Liebesangelegenheiten zu befassen.«
»Du bist grausam geworden, Fritz. So grausam wie einst unser Vater«, sagte Amalie mit erloschenem Blick und schleppendem Tonfall.
»Der preußische Staat verlangt eine harte Hand. Ohne die werden wir in der Welt nicht weiterkommen. Ich bin von Feinden umgeben, und ich habe es mir zum Ziel gesetzt, Preußen unter meiner Herrschaft einen Namen zu machen.« Friedrichs Ton war jetzt schneidend, seine Stimme glasklar. Seine kühlen blauen Augen schweiften in eine unbestimmte Ferne, in der er die Zukunft zu sehen schien. »Preußen muss groß werden – an Bedeutung gewinnen. Das ist mein Ziel, an dem ich arbeite. Und jetzt lass mich bitte allein, teure Schwester.«
»Ist das dein letztes Wort?«, fragte Amalie mit leiser Stimme und trat auf ihren Bruder zu, der unbeweglich am Schreibtisch verharrte. »Auch wenn … gewisse Umstände … einen Skandal verursachen könnten?« Sie legte die Hand an ihre Taille.
Wie vom Blitz getroffen, hob Friedrich den Kopf. Wieder schoss das Blut in seine Wangen. »Gewisse Umstände? Du meinst …« Er stockte. »Dass du dich so weit vergessen hast? Dass du … und der Trenck …« Er vollendete den Satz nicht und fiel in tiefes Nachdenken. »Wie konntest du nur!« Seine Augen blitzten, blau, gletscherkalt und vorwurfsvoll.
Amalie sagte kein Wort und erwiderte nur den frostigen Blick des Bruders.
»Wie weit bist du?« Der Ton seiner Stimme klang jetzt beherrscht und beinahe gleichgültig.
»Ich weiß es nicht genau! Aber ich will das Kind um jeden Preis behalten. Es ist das Pfand unserer großen Liebe.«
»Red keinen Unsinn. Dieser Bastard wäre eine Blamage, ein Skandal des preußischen Königshauses, von dem die Geschichtsbücher sprächen.« Seine Stimme wurde laut. »Unser Name würde in den Schmutz gezogen. Voilà! Die Schwester des Königs von Preußen ist eine Hure. Sie bekommt ein Kind von einem Offizier der Leibgarde ihres Bruders, des Königs!« Er lachte spöttisch auf. »Einem Verräter am preußischen Staat, der mit dem Feind, den Österreichern, gemeinsame Sache machen
will.« Er zog die Luft tief in die Lunge. »Sei doch vernünftig, Amélie! Ich schicke dir meinen Arzt. Er ist ein fähiger Mann und wird schon Rat wissen.«
Amalie war, als lege sich ein schwerer Stein auf ihr Herz. »Ich will das nicht. Und ich bin keine Hure …«
»Du wirst tun, was ich sage. Ich bin der König und habe zu entscheiden.«
»Fritz – ich flehe dich an, ich bitte dich!« Amalie fiel auf die Knie, der Stoff ihrer weiten Röcke breitete sich wie eine Blume um sie aus. »Zerstör nicht mein Leben deines falschen Ehrgeizes wegen. Du opferst mich … und Trenck!«
»Pah!«, der König stieß verächtlich die Luft durch die Nase aus, »opfern ist hier das falsche Wort. Es trifft eher auf meine tapferen Soldaten und engen Freunde zu, die für Preußen gekämpft und ihr Leben dabei verloren haben. Ich versichere dir, dein Trenck hat unzählige andere Liebschaften, von denen du nichts ahnst. Die ganze Garnison spricht davon. Er gefällt den Frauen, und das weiß er auch sehr gut. Er führt dich an der Nase herum. Sein Ehrgeiz lässt ihn nach den Sternen greifen.«
»Nein, nein«, Amalie wurde von Konvulsionen geschüttelt, »das ist nicht wahr!«
Der König fasste ihren Arm und half ihr auf. »Viens, chère Amélie«, er gebrauchte ihren französischen Kosenamen beinahe zärtlich, »schlaf eine Nacht darüber. Die Zeit wird kommen, wo du einsiehst, dass ich recht hatte. Dass diese Liebe eine Verirrung deines Herzens war.«
Amalie sah ihn mit verweinten Augen an. War das wirklich ihr geliebter Bruder – oder ein völlig Fremder, dessen Kälte sie abstieß? »Du darfst Trenck nichts tun, versprichst du mir das? Lass ihn frei.«
Der König stieß einen tiefen Seufzer aus. »Wir werden sehen. Ich will nur Gerechtigkeit. Und darin bin ich unbeugsam.« Er betätigte die Glocke auf seinem Schreibtisch und der
Diener erschien. Amalie hob stolz den Kopf. Noch würde sie sich nicht unterkriegen lassen. Es war noch nicht aller Tage Abend. Niemals würde sie auf ihre Liebe verzichten! Es musste noch eine andere Lösung geben, wenn Friedrich so eigensinnig war. Flucht! Und wenn es sein musste, auch nach Österreich! Sie würde Trenck begleiten. Wohin er sie führte – und sei es, zu seinem Vetter, dem Pandurenoberst.