14. KAPITEL
In den vielen Briefen, die die verzweifelte Amalie neben großzügigen Geldgeschenken an Trenck durch vertrauenswürdige Mittelsmänner an die Festung Glatz sandte, war nichts von den Problemen zu lesen, denen sie sich nun gegenübersah. Nichts von ihrer Schwangerschaft, aber auch nichts von der Unterredung mit ihrem Bruder, dem sie notgedrungen die volle Wahrheit gestanden hatte. Sie schrieb Trenck auch nichts davon, wie König Friedrich reagiert hatte, und noch weniger von dem unheilvollen Verdacht des Verrates, den dieser wegen seines Pandurenvetters gegen ihn hegte. Sie wollte warten, bis er wieder in Freiheit war – bis die Wogen sich geglättet hatten. Dann würde sich schon alles klären. Sie kannte Trencks hitziges Temperament, sein sensibles Ehrgefühl, und sie hatte Angst, er würde seinen Unmut in die Welt hinausposaunen, auf Rache sinnen und Friedrich weiter verstimmen. Dieser hatte ihr versprochen, dass Trenck zur Abschreckung nur ein Jahr in Festungshaft bleiben sollte und dann wieder frei wäre. Amalie schöpfte daraus die Hoffnung, dass Friedrich seine Meinung ändern würde, wenn er sah, dass sein Verdacht haltlos war. Ein Jahr würde schnell vorbeigehen. Und dann wären Trenck und sie wieder zusammen und könnten besprechen, was zu tun war und wie ihre Zukunft aussehen sollte. Trotz allem hatte sie ein
ungutes Gefühl, ihren Geliebten so lange in Gefangenschaft zu wissen. In ihren Briefen forderte sie ihn zur Geduld auf, besänftigte ihn mit Liebesschwüren und versuchte, ihre brennende Sehnsucht und ihre Sorgen zu mäßigen. Den Leibarzt ihres Bruders, der wiederholt mit einer Hebamme erschienen war, um einen Abbruch der Schwangerschaft vorzunehmen, hatte sie unsanft zurückgewiesen. Dieses Kind zu töten, das sie als den Höhepunkt ihrer Liebe ansah, brachte sie einfach nicht übers Herz. Sie liebte es schon jetzt zärtlich. Niemals würde sie es vergessen können und ihr Leben lang daran denken, dass es einst dagewesen war. Ihre Schwangerschaft war bei der mädchenhaften Schlankheit ihres Körpers unter den weiten Röcken zwar leicht zu verbergen, aber es war nicht zu übersehen, dass sie weiter fortschritt. Vorausschauend hatte sie sich, sehr zum Unmut ihres Bruders, mit den Einzelheiten der Geburt befasst, die nach ihrem Wunsch im Kloster Quedlinburg unter der Obhut der dortigen Nonnen und der jetzigen Oberin stattfinden sollte. Eine Bauernfamilie, die unter dem Siegel der Verschwiegenheit das Kind in Pflege nehmen sollte, war durch Mittelsmänner bereits gefunden. Der Platz war gut bezahlt, und sie würde das Recht haben, ihr Kind zu sehen, wann immer sie wollte. Und es eines Tages zu sich zu holen, wenn Friedrich gegen Trenck milder gestimmt wäre und sie beide endlich vereint sein würden. Aber das stand noch in den Sternen und war keineswegs gewiss.
»Soll ich die Kerzen anzünden, Hoheit?« Die treue Dienerin Rosa hatte, ein Tablett in der Hand, fast geräuschlos das im Dämmerlicht liegende Zimmer im Schloss betreten, dem die hellblauen Tapisserien, die weißbestickten Vorhänge und die zierlichen Möbel einen fast mädchenhaften Anstrich gaben.
Amalie saß, in eine Decke gehüllt, in ihrem Sessel vor dem Kamin und sah gedankenvoll den züngelnden Flammen zu. Auf ihrem Schoß lag ein Brief Trencks, eng beschrieben, den sie wieder und wieder im Schein der Glut gelesen und geküsst hatte.
Die Dienerin, die zugleich ihre engste Vertraute war, stellte eine Tasse Kräutertee und eine silberne Zuckerdose auf das runde Tischchen neben ihr. Sie wiederholte ihre Frage. Amalie schreckte aus ihrer Versunkenheit hoch. »Ja, Rosa, zünde sie bitte an.«
Sorgenvoll und mitleidig betrachtete die Dienerin das blasse Gesicht der Prinzessin unter dem sorgfältig gepuderten Haar, während sie ein paar Scheite im Kamin nachlegte. Wie ein Wetterleuchten zuckte es von Zeit zu Zeit in Amalies Zügen auf und sie legte des Öfteren die Hand auf ihren gerundeten Bauch unter der Decke.
»Geht es Ihnen nicht gut?«, wagte Rosa schließlich zu fragen, während sie Kerze für Kerze des silbernen Kandelabers auf dem runden Tisch entzündete.
»Nein, ehrlich gesagt, heute geht es mir nicht besonders«, antwortete Amalie mit leiser Stimme. »Es ist … so ein komisches Gefühl. Aber das hat nichts zu bedeuten. Nach der Ansicht des Arztes habe ich noch einen ganzen Monat Zeit.«
»Oh, man weiß nie. Sie sollten vielleicht doch lieber vorzeitig nach Quedlinburg aufbrechen und Euch in die Obhut und Pflege der Nonnen begeben. Ihr wisst doch, dass dort schon alles vorbereitet ist, für … für das Ereignis.« Rosa schwieg verlegen.
»Ich möchte hier sein, wenn Trenck entlassen wird«, beharrte Amalie. Unter ihren Augen lagen tiefe Schatten. »Und nicht in Quedlinburg.« Ein eigensinniger Zug trat auf ihr Gesicht, der an ihren Bruder erinnerte. »Der König hat mir erst kürzlich versprochen, dass er Trenck bei guter Führung eher freilassen wird. Und das kann jeden Tag sein.«
»Sie müssen aber auch an sich denken, Prinzessin«, insistierte die Dienerin.
Amalie nahm ein paar Schlucke des Kräutertees, der für einen guten Schlaf sorgen sollte. Das Kind in ihr bewegte sich unruhig. Wenn nur dieser ziehende Schmerz nicht wäre, der sie
heute Abend immer wieder in einigen Abständen quälte. Aber nach den Berechnungen des Leibarztes war ihre Zeit noch nicht gekommen.
»Es ist alles für die Abreise vorbereitet«, die treue Dienerin gab nicht auf, »Sie müssten nur in die Kutsche steigen.«
»Ich bleibe hier. Trenck könnte vielleicht morgen schon frei sein. Ich muss ihn sehen, mit ihm reden …«, sagte Amalie mit fester Stimme, die plötzlich mitten im Satz abbrach. Ein schneidender Schmerz schoss auf einmal durch ihren Körper. Sie krümmte sich leicht und spürte, wie etwas Nasses zwischen ihren Beinen herabrann. Sie tastete danach und versuchte, sich zu erheben. Wieder kam der Schmerz, der sie in der Mitte zu teilen schien. Sie stieß einen leisen Schrei aus.
Die Dienerin starrte sie entgeistert an, doch dann fasste sie sich. »Himmel hilf!«, rief sie. »Es ist so weit. Ich hole Hilfe. Die Hebamme …«
»Schweig!« Amalie presste die Lippen zusammen. »Du wirst niemanden holen. Das sorgt nur für Aufsehen. Ich habe es mir überlegt. Sag sofort dem Kutscher Bescheid. Wir fahren zum Kloster Quedlinburg. Es sind nur ein paar Stunden, wenn wir uns beeilen.«
»Aber Herrin, Sie werden sich unglücklich machen. Sie können doch in Ihrem Zustand keine Reise mehr unternehmen …«
»Ich kann und ich muss!« Amalie stützte sich schwer auf ihre Dienerin. »Wenn ich hierbliebe, gäbe es einen Skandal. Stütz mich. Wir werden am Haus der Kramerin, der Hebamme, vorbeifahren. Man sagt, sie sei die Beste ihres Metiers. Sie soll uns begleiten und mit ihrem Rat helfen.« Sie schloss die Augen und rang bei dem Krampf, der sie erfasste, kurz nach Luft. »Hörst du nicht, Rosa?«, stieß sie dann hervor. »Beeil dich! Wir fahren – auf der Stelle. Vielleicht habe ich doch nicht mehr so viel Zeit, wie der Arzt mir gesagt hat.« Sie raffte ihr weites grünseidenes Hauskleid und ging vorsichtigen Schrittes zur Tür.
»Aber … wie soll das gehen?« Rosa folgte ihr, hilflos die Hände ringend. »Es wird dauern, bis wir bei der Kramerin sind. Ihr wisst doch, dass sie am Stadtrand haust …«
»Wir werden sie gleich mitnehmen«, entschied Amalie, noch eine Spur blasser als zuvor. »Sie wird mich auf der Fahrt betreuen. Ich kann nicht in Schloss Montbijou bleiben. Hier ist man nicht auf eine Geburt vorbereitet. Und meine Mutter darf auf keinen Fall etwas von meinem Zustand erfahren.«
»Ich habe es ja gleich gesagt«, jammerte Rosa und knetete verzweifelt ihre Schürze. »Warum sind Sie nicht schon vorher zum Kloster gefahren?«
Amalie antwortete nicht und ergriff ihren mit Pelz gefütterten Umhang. Dann ging sie zum Schreibtisch zurück und warf mit zitternden Fingern ein paar kurze Worte auf das Papier, das darauf lag, faltete und versiegelte es und setzte einen Namen darauf. »Das ist für Trenck! Es soll ihm übergeben werden, falls mir … etwas zustoßen sollte.«
Rosa eilte im Laufschritt hinaus und weckte einen der Diener, der dem Kutscher dringend Bescheid sagen sollte. Dann holte sie aus ihrem Zimmer die bereits gepackte Tasche mit den Reiseutensilien, legte noch einen Stapel wärmende Decken dazu und ließ einen Proviantkorb herrichten. Ungeduldig warteten die beiden Frauen, dass die Kutsche vorfuhr. Endlich hörte man draußen das Rollen der Räder und das Schnauben der Pferde.
»Komm«, sagte Amalie hastig und zog Rosa mit sich. Rasch stiegen sie in die Kutsche und die Pferde galoppierten los. »Wir werden sehr früh am Morgen dort sein, das ist eine günstige Zeit für die Ankunft. Dann wird alles gut.« Zuversichtlich drückte Amalie die Hand der treuen Dienerin, der vor Aufregung Tränen in den Augen standen.
Die Fenster des von Wind und Wetter abgenutzten kleinen Häuschens der Hebamme waren dunkel, als die Kutsche am Gartentor anhielt. »Wer da?« Misstrauisch und verschlafen
äugte der Mann der Kramerin, eine Nachtmütze auf den Kopf, aus dem Fenster. Die prächtige vierspännige schwarze Kutsche mit den goldenen Emblemen schien ihm zu dieser nächtlichen Stunde mehr als ungewöhnlich.
»Deine Frau, die Hebamme, wird gebraucht«, rief der Kutscher vom Bock. »Weck sie gefälligst – sie soll ihre Sachen mitnehmen und gleich herauskommen. Meine Herrin braucht sie.«
Der Mann, ein einfacher Bauer, gewohnt, dass man seine Frau zu allen möglichen Zeiten und auch in der Nacht alarmierte, drehte sich wortlos um und rief etwas ins Zimmer hinein. Nach einer Weile erschien sein Kopf erneut in der Fensteröffnung, und er meldete mürrisch: »Sie ist gerade von einer Geburt zurückgekehrt und ziemlich müde. Könnt ihr nicht eine andere Hebamme rufen?«
»Nichts da. Wir brauchen nur sie – und niemanden sonst. Sag ihr, sie hat der Prinzessin Amalie versprochen, jederzeit für sie da zu sein. Und sie wird gut bezahlt werden. Im Voraus.« Rosa streckte zur Bestätigung die Hand mit einem Geldbeutel aus dem Fenster, in dem es verführerisch klirrte. »Zwanzig Golddukaten – und später noch zehn dazu.«
»Die Prinzessin Amalie?« Dem Bauern blieb bei diesem Angebot der Mund offen stehen. »Ja – das ist wohl etwas ganz anderes …«, er besann sich, »wir wollen Ihre Hoheit selbstverständlich nicht lange warten lassen. Einen Moment noch!« Er kehrte ins Zimmer zurück und öffnete nach einer kleinen Weile dienernd und ehrerbietig die Tür. »Meine Frau kommt sofort. Wollen Eure Hoheit vielleicht einen Moment in unserer bescheidenen Behausung warten, bis alles vorbereitet ist?«
»Nicht nötig.« Rosa war aus der Kutsche gestiegen. Sie blieb an der Schwelle der Tür stehen. »Wir sind in größter Eile!«, rief sie ins Zimmer hinein. »Mach schon, Kramerin, es ist dringend. Du musst mit uns nach Quedlinburg fahren.«
Im Hintergrund schlurfte die Hebamme herbei, sie knöpfte im Gehen ihren Rock zu und glättete die vom kurzen Schlaf zerzausten Haare. »Wohin? Nicht ins Schloss?«, fragte sie überrascht.
»Nein, nach Quedlinburg, zum Kloster.« Die Dienerin zuckte die Schultern. »Die Herrin wünscht es so.«
Die Hebamme zog die Augenbrauen hoch und griff ohne ein weiteres Wort nach einem kleinen Koffer in der Ecke, der ihr Handwerkszeug enthielt. »Nun, dann bin ich bereit.« Sie hüllte sich in ihr Umschlagtuch, wies auf den Beutel mit Golddukaten und nickte ihrem Mann bestätigend zu. Rosa übergab ihm das Geld und bemerkte, wie sich dessen zuvor noch mürrisches Gesicht jetzt zu einem wohlwollenden Grinsen verzog.
»Ihr müsst meiner Herrin beistehen«, drängte Rosa und zog die Hebamme in die Kutsche, »mit allen Mitteln, die Ihr habt. Ich bin in großer Sorge. Es ist allerhöchste Zeit. Ich fürchte, die Geburt hat bereits begonnen.«
»He, Trenck, was machst du denn da?« Die raue Stimme klang laut und provozierend. Der Angesprochene fuhr zusammen und ließ vor Schreck die Feile fallen, mit der er gerade dabei war, die Eisenstäbe seines Fensters im Zimmer der Festung Glatz durchzusägen.
»Lass doch die dummen Späße, Piaschky!«, sagte Trenck erleichtert, als er den Freund erblickte, der heute Wache hatte. Er wischte sich den Schweiß von der Stirn, hob die Feile auf, versteckte sie hinter einem losen Mauerstein und schloss das Fenster. Leutnant Piaschky grinste verschwörerisch. »Ich wollte nur mal sehen, wie du reagierst«, sagte er. »Wie weit bist du überhaupt?« Er inspizierte das Fenster mit den herausgetrennten Eisenstäben. »Zwei musst du auf jeden Fall noch herausbrechen,
sonst bleiben wir beim Durchkriechen im Fenster stecken«, sagte er und setzte die Eisen, so gut es ging, wieder in ihre vorherige Position ein.
»Sei froh, dass ich dir nicht vor Schreck einen Streich verpasst habe.« Trenck zeigte auf den Mauervorsprung über dem Fenster, auf dem, für Uneingeweihte unsichtbar, sein Degen versteckt war.
»Dann müsstest du sehen, wie du allein durchkommst.«
»Dann lass ich dich lieber leben!« Trenck zwinkerte ihm zu. »Ich brauche dich. Ohne deine Kontakte, deine Verbindung zu den Offizieren hier in der Festung wäre ich aufgeschmissen.«
»Mach dir keine Sorgen. Meine Freunde, die jetzt auch die deinen geworden sind, halten alle dicht. Jedenfalls solange du so großzügig wie bisher die Dukaten fließen lässt.« Er grinste. »Nein, im Ernst. Das sind alles ehrliche Kerle, die hier für ein Spottgeld nicht gerne und nicht ganz freiwillig Dienst tun. Sie kennen am eigenen Leib die Ungerechtigkeit.«
Trenck nickte. Er war mit den meisten wachhabenden Offizieren im Einklang. Aber von der geplanten Flucht wussten sie nichts. Das war nur mit Fähnrich Reitz, Leutnant Piaschky und dem schon lange im Kerker lebenden Rittmeister von Manger ausgehandelt. Sie alle hatten sich bereit erklärt, mit ihm zu fliehen. Manger, der seinem zehnjährigen Arrest entgehen wollte, Piaschky, weil er unzufrieden mit seinem Sold und Quartier war, und Reitz, weil er, wie er sagte, den Dienst in der dunklen und zugigen Festung hasste.
»Schluss jetzt mit den Späßen – kommen wir zur Sache. Ich denke, ich schaffe es heute noch, die beiden restlichen Stäbe durchzusägen. Sie bleiben dann locker in ihrer Halterung, als wenn nichts wäre. Um zwölf Uhr, im Schutz der Nacht, geht es los und wir können endlich fliehen. Wir müssen nur die Nerven behalten, wenn wir uns, einer nach dem anderen, durch dieses
Fenster zwängen. Alles muss langsam und geräuschlos vor sich gehen, bis wir am Boden sind.«
»Was ist mit dem Seil?« Piaschky sah ihn fragend an. »Hält es auch ganz sicher? Die Höhe ist schließlich beachtlich.« Er warf einen kurzen Blick hinunter in den schwindelerregenden Abgrund.
»Klar, das Seil ist bombenfest. Ich habe es mit den Lederriemen aus meinem Felleisen verstärkt und sorgfältig mit Garn umwickelt. Dafür habe ich mein ganzes Bettzeug und meine Socken geopfert.«
»Das Bettzeug brauchst du dann ja nicht mehr«, witzelte der Leutnant. »Du wirst bald in einem weichen Daunenbett schlafen.« Er gab der Wache einen Wink, das Essen zu bringen. »Lasst uns erst mal zu Tisch gehen – wir müssen uns doch vorher noch ordentlich stärken und etwas Mut antrinken.«
»Aber nicht zu viel«, warnte Trenck. »Sonst verlierst du gleich den Halt und stürzt am Seil hinunter.«
Verschiedene Schüsseln wurden jetzt hereingetragen, auf denen gebratene Hühner und feine Gemüse lagen, die köstlich dufteten. Der Leutnant ordnete die Teller und Gläser, die schon bereitstanden, auf dem langen Eichentisch, der mehreren Personen Platz bot. Zu guter Letzt stellte er noch etliche Flaschen dunklen Burgunders und fruchtigen Weißwein dazu. Die Wache hatte erst vor Kurzem den Befehl bekommen, Trenck wieder alles zu gestatten, was zu seinem Wohlbefinden nötig war. Und so war es eine Gewohnheit geworden, dass er jeden Tag in seiner geräumigen und bequemen Zelle große Tafel für sich und die Offiziere hielt.
»Eigentlich hast du es ja hier wirklich nicht schlecht«, Piaschky betrachtete die üppigen Speisen, »alle Annehmlichkeiten, gutes Essen, Bücher, Schreibzeug – und letzte Woche durftest du mit den Offizieren sogar heimlich auf die Jagd gehen.«
»Ach, aber was nützt mir das alles?« Trenck sah finster vor sich hin. Scharfe Falten bildeten sich auf seiner jugendlichen Stirn. »Das ist doch alles nichts. Man hat mir die Ehre abgeschnitten, hält mich seit einem halben Jahr mit Gewalt gefangen. Und ich weiß immer noch nicht, warum.«
»Kannst es dir ja wohl denken«, bemerkte Piaschky zweideutig. »Aber wie auch immer – du hast ja recht. Der ganze Luxus nützt uns hier drin nichts. Wenn wir raus sind, steht uns die ganze Welt offen. Du bist ein wohlhabender Mann. Eine hohe Frau sorgt für dich – dein reicher Vetter hat dich als Erben eingesetzt. Was willst du mehr? Wozu sich hier unnötig schikanieren lassen, wenn es ganz andere Möglichkeiten gibt?«
»Der Teufel soll diese Festung holen!«, stieß Trenck hervor. »Ich muss endlich raus – ich halte es nicht aus, dauernd eingesperrt zu sein und nicht zu wissen, wie lange noch.«
»Ganz meine Meinung. Und ich hoffe, du legst bei deinen Freunden ein gutes Wort für uns ein, wenn du erst frei bist. Damit wir einen guten Posten bekommen. Aber jetzt lass uns erst mal besprechen, wie die Flucht genau ablaufen soll.« Der Leutnant setzte sich auf seinen Stuhl, goss dunklen Burgunder ein und nahm gleich einen tiefen Schluck. Er reichte Trenck ein Glas und sah ihn erwartungsvoll an. »Wir sollten den Plan noch einmal ganz allein durchgehen, bevor die beiden anderen kommen. Du hast gesagt, um zwölf geht es los?«
»Vielleicht doch lieber etwas später. Besser um zwei Uhr, wenn ich die restlichen Eisenstäbe ganz sicher geschafft habe. Das wäre dann auch nach der letzten Zimmerkontrolle.« Trencks Gesicht hatte sich belebt, und man sah ihm an, dass er in Gedanken alles noch einmal abwägte.
»Um zwei Uhr also.« Der Leutnant nickte. Geschickt verteilte er die Servietten und das Besteck. »Hast du auch bedacht, dass der Graben fünfzehn Klafter tief und das Seil lang genug sein muss?«
»Was denkst du eigentlich?« Trenck sah ihn vorwurfsvoll an. »Hältst du mich für einen Pfuscher? Ich bin mir meiner Sache ganz sicher.«
»Bedenk auch, dass wir den Wall noch überklettern müssen, wenn wir glücklich unten gelandet sind. Die öffentliche Senkgrube ist dann das letzte Hindernis. Das wird sicher nicht so einfach. Wir müssen da direkt hindurch, mitten durch die stinkende Brühe.«
»Unangenehmer Gedanke. Wird aber wohl nicht allzu tief sein. Mit unseren hohen Stiefeln schaffen wir das leicht.« Trenck wischte lässig die Bedenken des Offiziers beiseite.
»Und dann die Brustwehr des Außenwalls. Dort stehen Schildwachen.« Der Leutnant sah ihn fragend und fast ein wenig ängstlich an.
»Wir springen hinüber, direkt über die Palisaden. Mit den Schildwachen werden wir schon fertig. Wir sind schließlich zu dritt. Und bewaffnet.«
Leutnant Piaschky nickte. »Ja, ich sehe, du hast alles gut durchdacht.« Der Duft des Bratens stieg jetzt verlockend und unwiderstehlich in seine Nase und sein Magen knurrte laut. »Wenn du nichts dagegen hast, fange ich schon mal an, bevor die anderen kommen.« Er breitete die Serviette auf seinen Knien aus und riss einen knusprigen Hähnchenflügel aus dem goldbraunen Braten.
»Iss nur«, forderte Trenck ihn auf. »Aber trink nicht zu viel, sonst fällst du mir tatsächlich noch aus dem Seil. Oder du stolperst über den Wall.«
»Keine Sorge. Mensch, manch anderer armer Teufel würde dich trotzdem um dein gutes Leben hier in der Festung beneiden«, bemerkte Piaschky mit vollem Mund. »Essen und Trinken vom Feinsten, ein Zimmer wie der Wohnraum eines Fürsten. Und vor allem genügend Geld …« Er begann, eines der goldbraun gebratenen Hühner sorgfältig zu zerteilen.
»Unsinn. Der Wohnraum eines Fürsten, wie du dich ausdrückst, ist ein normales Zimmer. Und es ist vergittert. Ich bin ein Vogel im goldenen Käfig«, fiel ihm Trenck ins Wort. »Das macht mich ganz verrückt. Soll ich etwa mein ganzes Leben hier verbringen? Mit Nichtstun und mich fett fressen? Nein danke!« Er trank das Glas mit dem schweren Burgunder in einem Zug aus. »Die Ungewissheit nimmt mir die Lebensfreude. Alles revoltiert in mir gegen diese ungerechte Behandlung. Ich sitze hier ohne Prozess, ohne Anklage und ohne Ehre. Und ich pfeife auf ein Gnadengesuch!«
Der Leutnant lachte und biss herzhaft in eine kross gebratene Hühnerkeule. »Ja, das ist wohl nicht einfach. Aber alle, die wir hier Dienst tun, fühlen uns ähnlich. Das ganze Wachpersonal, die Offiziere eingeschlossen. Man hat uns wegen irgendeines Vergehens in die Zitadelle zwangsversetzt. Schlecht bezahlt, miserabel untergebracht und, was das Schlimmste ist, von allen vergessen. Es ist wirklich kein Zuckerlecken, so seine Pflicht dem Vaterland gegenüber zu erfüllen.«
»Ich weiß, dass jeder Offizier, der hier Dienst tut, etwas auf dem Kerbholz hat. Zu viele Duelle, Spielen, Schuldenmachen oder chronisches Händelsuchen. Das Übliche eben, was in der preußischen Armee nicht erlaubt ist. Aber Ihr seid frei, ich nicht. Ich sitze unschuldig!«
»Unschuldig! Das denkt hier jeder von sich. Aber einige von uns sind wirklich in Ordnung«, beschwichtigte ihn Piaschky. »Findest du nicht?«
Trenck nickte. »Ja, das ist wahr. Ich habe hier viele Freunde gefunden. Aber alle wollen sie hier weg.«
»Tja, weil sie wie ich von einer großen Zukunft geträumt haben.« Piaschky wischte sich mit der Serviette den Fleischsaft vom Kinn. »Und dann findet man sich auf dem Boden der harten Wirklichkeit wieder.« Er hielt den Hühnerschenkel ein wenig von sich weg. »Meine Illusionen sind verweht, und ich
glaube, dass es mir überall in der Welt besser gehen wird als in diesem feuchten alten Kasten.« Er sah von seinem Teller hoch. »Hast du wirklich keinen Appetit?«
Trenck schüttelte den Kopf. »Ich bin etwas nervös. Hoffentlich klappt alles so, wie wir es uns vorstellen. Lass uns noch mal alles durchgehen. Punkt zwei Uhr, nach dem letzten Wachumgang, kommst du also mit Reitz und Manger in mein Zimmer. Ich habe die Wache des Rittmeisters bestochen, seine Zelle offen zu lassen, weil wir noch zusammen Karten spielen wollen und es spät werden kann. Er hat versprochen, ein Auge zuzudrücken.«
»Dieser Manger gefällt mir irgendwie nicht. Ein komischer Typ«, gab Piaschky zu bedenken. »Warum willst du ihn unbedingt mitnehmen?«
»Er ist ein armer Kerl«, sagte Trenck mitleidig. »Man hat ihm zehn Jahre aufgebrummt und er kann dabei nur vier Reichstaler monatlich verzehren.«
»Ich mache mir nur Sorgen wegen der Schildwachen am Wall. Was ist, wenn die uns zu dritt kommen sehen? Die können wir nicht bestechen. Sie werden Alarm schlagen.«
»Lass sie ruhig. Ich halte sie mit meinem Degen in Schach. Bis sie sich dann von ihrem Schrecken erholt haben, sind wir längst über alle Berge. Die Grenze zu Böhmen ist ja nicht weit. Wir müssen dann nur noch über den Fluss. Hoffentlich hält das Eis. Es hat noch nicht allzu stark gefroren.« Nachdenklich trank Trenck das dritte Glas Burgunder, ohne einen Bissen zu sich zu nehmen.
»Ich weiß eine Furt«, warf Piaschky ein, der sich jetzt das schmackhaft eingelegte Gemüse mit Behagen in den Mund schaufelte. »Aber jetzt iss doch endlich was«, forderte er Trenck auf. »Wer weiß, wann wir wieder etwas zwischen die Zähne bekommen. Der Koch im
Roten Hahn
, wo du dein Essen bestellst, versteht seine Sache wirklich ausgezeichnet.«
Die Tür ging jetzt auf und vier der wachhabenden Offiziere in Begleitung des Rittmeisters von Manger traten ins Zimmer. Manger, ein bleicher und knochendürrer Mensch, schielte gierig auf den Wein und die dargebotenen Köstlichkeiten. Lachend und lärmend setzten sich die Angekommenen zu Tisch und griffen gleich ordentlich zu. Trenck nahm nur wenig, denn er war nicht ganz bei der Sache. Immer wieder kreisten seine Gedanken um den Plan. Erst vor ein paar Tagen hatte ihm der Platzmajor Doo, ein böser, eifersüchtiger Mann, kurz und bündig mitgeteilt, dass er nicht hoffen dürfe, bald freizukommen. Der König habe dem Kommandeur der Festung mitgeteilt, der Trenck sei ein übler Verräter und gehöre lebenslang in Haft. Diese Aussage, ob wahr oder nicht, hatte Trencks Blut wieder neu in Wallung gebracht, ihn bis ins Mark getroffen und seine Fluchtabsichten verstärkt. Man warf ihm also Verrat vor. Wegen eines harmlosen Briefes an seinen Vetter? Hätte er ihn lieber doch nicht geschrieben! Doch jetzt war es für Reue zu spät.
»Eine hervorragende Tafel!« Einer der Offiziere, ein gewisser Roeder, erhob sich und prostete ihm zu. »Auf Sie, Trenck – und auf die Liebe!« Er schwankte leicht und goss das Glas Wein wie Wasser in seine Kehle. »Wenn man Sie so ansieht, könnte man glatt neidisch werden. Den Arrest sitzen Sie doch auf einer Arschbacke ab. Aber dann – wenn Sie draußen sind«, er schnalzte bedeutungsvoll mit der Zunge, »da wartet Ihr Schätzchen auf Sie, eine der schönsten und höchsten Frauen des Landes. Und ihr Pandurenvetter wirft Ihnen sein Geld nach …«
»Schweigen Sie!« Trenck war aufgesprungen. Aufsteigende Röte färbte sein Gesicht. »Was sind das für Lügen? Das ist nicht wahr. Ich habe noch nie einen Heller von meinem Vetter angenommen!«
»Na, na.« Roeder glotzte ihn herausfordernd an und kaute schmatzend. »Uns können Sie es doch ruhig sagen. Wir
schweigen wie ein Grab.« Die anderen Offiziere, sichtlich angeheitert, klatschten lachend Beifall.
»Wer behauptet, ich nähme das Geld meines Vetters in österreichischen Diensten, der stelle sich mir zum Duell!« Trenck, in Wut geraten, schob den Tisch von sich, dass die Gläser umfielen. Er riss dem Offizier den Degen von der Seite. »Wiederholen Sie das, und ich durchbohre Sie auf der Stelle!« Roeder sprang auf und wich zurück. Er war blass geworden. »Geben Sie mir meinen Degen zurück. Sie haben kein Recht darauf.«
Piaschky trat an die Seite Trencks und flüsterte ihm ins Ohr: »Mäßige dich! Du machst unseren Fluchtplan kaputt. Wir wollen doch keinen Verdacht erregen. Und erst recht keinen Unmut.«
In diesem Moment trat Platzmajor Doo, der nicht an der Mahlzeit teilgenommen hatte, ins Zimmer. »Was ist denn das für ein Lärm?« Er stellte sich zwischen die beiden Kampfhähne und visierte Trenck, der noch Roeders Degen in der Hand hielt. Rasch zog er seine Pistole. »Ein Aufstand, wie ich sehe. Trenck, ich arretiere Sie für heute Nacht in einer geschlossenen Zelle. Da können Sie Ihren Mut ein wenig abkühlen. Auch wenn Sie hier alle Freiheiten genießen, so haben Sie doch nicht das Recht, einem Offizier den Degen zu entreißen.«
Trenck warf den Degen zu Boden und senkte den Kopf. Das Blut brannte in seinen Adern vor Empörung. Die Leidenschaft hatte ihn wieder einmal übermannt. Roeder hatte ihn provoziert, und er hatte sich zu einem übereilten Schritt hinreißen lassen. Jetzt musste er seinen Plan wieder verschieben, sich erneut in nervenzehrender Geduld üben. Piaschky und Reitz sahen einander an und schüttelten entmutigt die Köpfe.
Rittmeister von Manger zögerte einen Moment, dann wechselte er einen Blick mit dem Platzmajor und gab ihm einen Wink. Major Doo verließ die Tafel, der Rittmeister folgte ihm
und sprach draußen lebhaft auf ihn ein. Die anderen Offiziere verharrten eine Weile in betretenem Schweigen, bevor sie sich einer nach dem anderen in rascher Eile verabschiedeten. Der Platzmajor hielt Piaschky und Reitz draußen auf und ließ sie von den Wachen festnehmen.
Trenck war allein im Zimmer geblieben und spürte förmlich den Hauch drohender Gefahr, die auf ihn zukam. War Manger ein Verräter? Wenn ja, sollte er dann die Flucht in diesem Moment allein wagen? Unter einem Vorwand, etwas zu holen, in sein Zimmer gehen, die letzten Eisenstäbe rasch herausbrechen und sich am vorbereiteten Seil herablassen? Er zögerte. Da trat Major Doo in Begleitung zweier Wachleute wieder ein. Sein entschlossenes Gesicht, das einen zynischen Zug hatte, verriet nichts Gutes. Die Wachen packten Trenck, der sich heftig wehrte, und legten ihm Eisenfesseln an.
»Ab in die Strafzelle im hinteren Teil der Festung«, befahl der Platzmajor.
»Was soll das?«, schrie Trenck aufgebracht. »Was habe ich denn jetzt schon wieder getan?« Er bäumte sich in seinen Fesseln auf.
»Das wissen Sie wohl selbst sehr gut. Rittmeister von Manger hat mir Ihren Plan verraten, mit dem Sie heute entfliehen wollten. Wir haben die lockeren Eisenstäbe entdeckt, das Seil, das Sie versteckt haben. Aber aus Ihrer Flucht wird leider nichts werden. Und Ihre Komplizen werden es noch bereuen, beide Augen zugedrückt zu haben.« Er lachte höhnisch. »Ich werde dem König sofort Meldung über Ihren ständigen Ungehorsam, Ihre Widersetzlichkeit und Ihre Fluchtabsichten machen.«
Trenck knirschte hörbar mit den Zähnen. »Dieser Hundsfott Manger! Verräter! Charakterschwein! Und ich habe ihn gefüttert, ihm Geld gegeben – hatte Mitleid mit ihm.«
»Rittmeister von Manger bekommt für seine Ehrlichkeit Gnade und wird sofort in Freiheit gesetzt.« Der Major blies
sich vor Wichtigkeit förmlich auf. »Der Verräter sind Sie selbst, Trenck! Sonst hätten Sie nicht gemeinsame Sache mit dem größten Feind Preußens gemacht, dem österreichischen Pandurenoberst. Dafür sitzen Sie ja hier in der Festung.«
Trenck riss jetzt wie ein Wahnsinniger an seinen Fesseln. »Gemeinsame Sache? Wie oft soll ich es noch sagen! Das ist eine verdammte Lüge!«
Der Platzmajor stieß Trenck vor sich her, einen engen, schmutzigen Gang entlang, an dessen Ende ein düsteres Verlies lag, das nur von einer Art Schießscharte erhellt war. Der Boden war mit Stroh bedeckt und Ratten und Asseln huschten umher. Trenck sah entsetzt in dieses menschenunwürdige Loch, in das Major Doo ihn jetzt hineinschob. »Das haben Sie nun von Ihrem Hochmut, Trenck. Es geschieht Ihnen gerade recht.« Voller Genugtuung versetzte er ihm noch einen groben Rempler, mit dem er tiefer in die Zelle hineinstolperte. Trenck warf ihm einen wilden Blick zu, und als die Tür aus harter Eiche hinter dem Major zufiel, hämmerte er mit seinen gefesselten Händen hilflos gegen das Holz.
»Aufpassen, Trenck. Sonst legen wir Ihnen auch noch ein hübsches Halseisen an!« Die Stimme des Platzmajors durch das Guckfenster hallte höhnisch von den nackten Wänden wider, an denen die Feuchtigkeit herabrann.
Trenck stöhnte auf und ließ sich auf den blanken kalten Stein fallen, der als Sitzgelegenheit diente. Eines Tages würde er sich an diesem bösartigen Mann rächen. Und an dem Rittmeister von Manger, diesem verlogenen, falschen Bastard, diesem Spion! Das also war der Dank für seine Gutmütigkeit! Die eisernen Handschellen wogen schwer und schnitten tief in seine Handgelenke. Hatte er eine solche Behandlung verdient? Jetzt war alles zunichte gemacht – ade, ihr Fluchtpläne, du Traum von Freiheit und Glück. Er sank in sich zusammen,
ohne Hoffnung und von einem Weinkrampf der Enttäuschung geschüttelt.
Die Kutsche rumpelte in schnellem Tempo über das regennasse Pflaster und die aufgeweichten Wege. Man hatte Prinzessin Amalie auf der Rückbank auf weiche Kissen gebettet und es ihr in dem engen Gefährt so bequem wie möglich gemacht. Von Zeit zu Zeit stöhnte sie schmerzvoll auf und krümmte sich zusammen. Die Hebamme, die ihr beistand, zog ein ernstes Gesicht. Würde man es wirklich noch bis zum Kloster schaffen? Eine flüchtige Untersuchung, die sich bei der voluminösen Garderobe der Prinzessin und der Enge in der Kutsche als äußerst schwierig erwies, hatte ihr gezeigt, dass die Geburt unmittelbar bevorstand. Sie kramte in ihrem Koffer mit Instrumenten, Tiegelchen und Tränken und suchte nach lindernden Mitteln. Doch mehr, als die Kreißende zu stützen, ihr gut zuzureden und ihr aus sedierenden Kräutern bestehende Tropfen zu verabreichen, konnte sie in dieser Lage auch nicht tun. Ein wehenförderndes Mittel wagte sie ihr nicht zu geben, denn eine Geburt während der Reise wäre mit zu großen Umständen und Gefahren verbunden. Amalie litt sichtlich unter dem Geruckel der Kutsche, den Stößen durch die unebenen Wege, denen sie in ihrem Zustand hilflos ausgeliefert war. Doch trotz allem trieb sie den Kutscher mit schwacher Stimme zur Eile an, und der peitschte die schweißnassen Pferde zu ständigem Galopp. In dem engen Gefährt, das sich außer ihr noch die Dienerin Rosa, die Hebamme und eine weitere Kammerfrau teilten, war die Luft stickig. Angewärmte Ziegelsteine, die man aus einem Gasthaus geholt hatte, hielten Amalie so warm, dass ihr der Schweiß in Bächen über die Stirn rann. In Magdeburg machten sie an einer Poststation kurze Rast und wechselten die Pferde.
Rosa öffnete den in aller Eile gepackten Picknickkorb, doch nur der Kutscher und die Hebamme bedienten sich von den mitgebrachten Speisen, Würsten und Pasteten. Amalie verweigerte jeden Bissen und fühlte sich auch nicht dazu imstande, die Kutsche zu verlassen. Die Wehen kamen nun in immer kürzeren Abständen, und sie stöhnte und atmete heftig. Die Hebamme riet dringend, ein Quartier zu suchen, denn sie bekam plötzlich Angst vor einer möglichen Geburt in der engen Kutsche, wo weder genug Platz noch heißes Wasser oder genügend Tücher zur Verfügung standen. Doch Amalie widersetzte sich heftig, irgendwo haltzumachen. Sie wollte es unbedingt noch bis zum Kloster schaffen, wo man auf alles vorbereitet war. Es war ein Wettrennen gegen die Zeit, aber das Schutz und Hilfe versprechende Ziel war nun nicht mehr allzu weit. Der Kutscher jagte die Pferde und die Kutsche rollte in einem gewagten Tempo vorwärts.
Rosa sah aus dem Fenster in die dunkle Nacht hinaus. Sie fürchtete sich und spürte ihr Herz unruhig klopfen. Auf der Chaussee huschten Bäume und Sträucher wie unheilvolle Schatten vorüber. Der Wind fauchte Regenschwaden gegen die Kutsche. Sie konnte ihrer Herrin nicht helfen, nur beten und beschwichtigend auf sie einreden. Innig flehte sie zu Gott, dass sie bald Quedlinburg erreichen würden und alles gut würde.
Amalie selbst war von beispielloser Tapferkeit. Sie biss in ihr Taschentuch und versuchte, ihre Schreie zu unterdrücken, wenn die Wehen sie überrollten.
Doch dann kam, was kommen musste. Das Kind wollte zur Welt. In voller Fahrt bäumte sich Amalie mit einem langen, durchdringenden Schrei ein letztes Mal auf, stemmte unwillkürlich die Beine gegen die Kutschenwand und presste mit ganzer Kraft. Die beiden Frauen kamen ihr zu Hilfe und riefen dem Kutscher zu, er möge um Gottes willen anhalten. In dunkler Nacht stand man nun auf der Straße, ohne Licht, ohne weitere
Hilfe. Der Mond trat ein wenig hinter den Wolken hervor und sandte seinen vagen weißen Schimmer auf die beinahe gespenstische Szenerie. Die Hebamme hatte die Kutschentür geöffnet, um Platz zu gewinnen. Der Wind fegte in Böen Regenschauer hinein, die die Insassen nässten, doch keiner nahm Notiz davon. Beherzt schlug die Hebamme Amalies elegantes Reisekleid aus hellblauem Taft bis zur Taille hoch, riss Unterröcke und Wäsche herab. Schon sah sie, wie das Köpfchen des Kindes sich ganz von selbst den Weg aus dem Schoß seiner Mutter bahnte. Ein Schwall von Blut und Wasser schoss gleichzeitig mit hinaus und tränkte den Stoff des Kleides und die Kissen mit dunklen Flecken. Rosa verfolgte gebannt das Geschehen und vergaß für einen Augenblick ihre Angst. Zum Glück ließ der Regen etwas nach, und frische, kühle Luft kam herein. Erschöpft von der Anstrengung und mit fiebrigen Wangen fiel Amalie nun wie ohnmächtig in die Kissen auf der Kutschenbank zurück. Wie die Hebamme beunruhigt feststellte, hatte das überaus kräftige Kind, das sofort zu schreien begann, seine Mutter bei seinem Eintritt ins Leben gefährlich verletzt.
»Ein Junge, Hoheit!«, rief Rosa enthusiastisch aus und betrachtete das krähende schleimbedeckte Wesen, das ihr wie ein Wunder erschien, mit staunenden Blicken. Amalie antwortete nicht. Zuvor noch erhitzt und glühend vor Anstrengung, war sie plötzlich von fahler Blässe. Ohne eine Regung lag sie da, nur ihre geschlossenen Augenlider flatterten ein wenig. Besorgt beugte sich Rosa über sie und tätschelte ihr die Wange, um sie zu sich zu bringen. »Es ist ein Junge, wohlauf und gesund«, wiederholte sie so oft, bis Amalie die Augen öffnete.
»Ein Junge?« Die Andeutung eines Lächelns verschönte ihr eingefallenes Gesicht augenblicklich. »Trenck wird sich freuen, einen Sohn zu haben.« Sie versuchte, den Kopf zu heben. »Sind wir immer noch nicht am Kloster?«
Rosa schüttelte stumm den Kopf und sah zu der Hebamme hinüber, die den Jungen abgenabelt hatte und ihn, so gut es ging, in das wärmende Umschlagtuch der Prinzessin wickelte. Sie war ganz in die Versorgung des Kindes vertieft.
»Geduldet euch noch eine Stunde, Hoheit«, sagte Rosa an ihrer Stelle. »Bald sind Sie in Sicherheit.«
Amalie sah mit einem zärtlichen Ausdruck auf das verrunzelte Wesen, das man ihr nun in den Arm legte. »Du sollst Wilhelm heißen, Wilhelm Friedrich, nach meinem Vater.« Eine Welle von Glück durchströmte sie, als das schmatzende, suchende Mündchen des Kleinen zart ihren Hals berührte. »Du hast schon Hunger«, flüsterte sie. »Keine Sorge, wir werden eine ordentliche Amme für dich finden.« Von einer plötzlichen Schwäche erfasst, gab sie das Kind wieder an Rosa zurück. Die Hebamme bereitete gerade ein Tränklein, in das sie viele Ingredienzien rührte, die sie ihrer geheimnisvollen Tasche entnahm. Die Nachgeburt machte ihr Sorgen, denn die Prinzessin blutete unentwegt und nässte die untergelegten Tücher.
Rosa nahm den Kleinen und drückte ihn wie etwas Kostbares und Zerbrechliches sanft an ihre Brust.
»Weiter«, befahl die Prinzessin jetzt mit schwacher Stimme. »Schließt die Türen! Wir müssen zum Kloster.« Im selben Moment erschauerte sie und begann am ganzen Körper zu zittern. Die Hebamme verlangte jetzt eilig nach weiteren Tüchern, um das Blut aufzufangen, das so ungewöhnlich stark floss. Amalie deutete auf ihren Unterrock. »Hier, zerreiß ihn ruhig!«
Zögernd riss Rosa den mit Brüsseler Spitzen besetzten Unterrock in breite Streifen. Ihre Unruhe stieg. Wenn Prinzessin Amalie weiter so viel Blut verlor, würde die Lage kritisch werden. Wenn nur diese Fahrt endlich zu Ende wäre! Dabei war das Ziel jetzt so nahe. Doch eine Stunde war, an der Situation gemessen, lang, und sie mochte sich nicht vorstellen, was bis dahin alles passieren konnte. Auch die Hebamme, die die
Stoffstücke faltete und sie der Prinzessin zwischen die Schenkel schob, zog ein besorgtes Gesicht. Irgendetwas lief hier nicht wie gewöhnlich ab. Die Nachgeburt kam nicht. Und wenn es so weiterging, musste notfalls ein Arzt zurate gezogen werden.
Rosa starrte reglos in die beginnende Morgendämmerung, die alles in ein trübes Grau tauchte, auf den matschigen Weg und die wenigen Gehöfte, an denen man vorbeizog. Plötzlich gab es einen Ruck, ein Geräusch wie ein nachgebendes Brechen. Die Kutsche vollführte eine halbe Drehung und neigte sich leicht auf die Seite. Die Frauen, unsanft von ihren Plätzen gerutscht, stießen erschrockene Schreie aus. Dann stand der Wagen still, und man hörte nur das Ausschnauben der Pferde, die in vollem Lauf gestoppt hatten. Zweifellos war die Kutsche mit den Rädern in ein Loch geraten. Langsam und vor sich hin fluchend kletterte der Kutscher mit seiner regennassen Pelerine vom Bock. Seine raue Stimme ging den Insassen jetzt durch und durch. »Verdammt und zugenäht! Der Teufel soll die alte Kiste holen!« Das Fluchen des Kutschers ließ nichts Gutes ahnen. Entgeistert sahen sich die Frauen in der Kutsche an. War etwa die Deichsel gebrochen? Rosa fasste sich als Erste und stieg vorsichtig aus. Als sie ihren Schuh auf den Boden setzte, versank er fast im schlammigen, aufgeweichten Boden. Rasch zog sie ihn zurück. »Sind Sie verrückt, Mann, hier einfach anzuhalten?«, fauchte sie durch die geöffnete Kutschentür. »Was sollen wir hier? Hier ist kein Haus und kein Mensch.«
»Es tut mir sehr leid, meine Dame.« Der Kutscher bemühte sich um eine höfliche Wortwahl. »Glauben Sie etwa, dass das meine Absicht war?« Er schnaubte ärgerlich. »Wir sitzen leider fest. Ich sehe mir die Sache mal an, aber ich fürchte, wir haben einen Radbruch. Wenn das der Fall ist, muss ich erst mal die Pferde ausspannen. Dann wird mir wohl nichts anderes übrig bleiben, als ins Dorf zu gehen und Hilfe zu holen. Sie müssten
sich wohl oder übel hier gedulden, bis ich einen Wagner gefunden habe.«
»Aber das …« Rosa blieb die empörte Entgegnung im Halse stecken. Kalte Furcht griff ihr an die Kehle. Hier warten? Das war unmöglich, eine Katastrophe. Sie hob die Röcke an und stapfte mutig hinaus über den schlammigen und unebenen Boden, in dem ihre Schuhe immer wieder stecken blieben. Tatsächlich, der Mann hatte recht. Sie starrte auf die gebrochenen Speichen des Rades. Da war nichts zu machen. Der Kutscher hatte zwar zwangsweise den Grund ihrer fatalen Lage mitbekommen, doch ahnte er noch nichts von der Todesgefahr, in der sich die Prinzessin nun befand. Und es war in diesem Moment auch sinnlos, ihm alles erklären zu wollen. Leise seufzend warf Rosa einen Blick zu Amalie hinüber, die mit geschlossenen Lidern bleich und beinahe reglos vor Schwäche auf den Kissen lehnte. Das angstvolle Gesicht der Hebamme sprach Bände. Sie zuckte ratlos die Schultern und flüsterte Rosa zu: »Wir brauchen dringend einen Arzt, sonst kann ich für nichts garantieren. Hier ist meine Kunst zu Ende. Die Nachgeburt will sich nicht lösen und daher ist die Blutung so stark. Ich habe Ihrer Hoheit schon blutstillende Mittel gegeben, doch es hilft alles nichts.«
Rosa spürte, wie ihr bei dieser Nachricht trotz der kühlen Temperaturen der Schweiß ausbrach. Sie fühlte nackte Panik in sich aufsteigen. Was sollten sie jetzt bloß tun – mitten in der Einöde? Wenn Prinzessin Amalie starb? Hier gab es niemanden, den sie um Hilfe bitten konnten. Amalie ächzte leise und schlug die Augen auf. »Wann sind wir denn endlich da?«, fragte sie kaum hörbar.