17. KAPITEL
Seit man Amalie ihren kleinen Sohn fortgenommen hatte, lebte sie wie in einem Glaskasten. An ihren gesellschaftlichen Verpflichtungen, auch den Bällen und Maskenfesten, nahm sie nur auf Befehl ihres Bruders, des Königs, teil. Doch ihre Gedanken marterten sie Tag und Nacht. Sie war abgemagert, ihr Gesicht hatte den süßen, unbeschwerten Schmelz der Jugend verloren und ihre unschuldsvollen blauen Augen schienen in ihrem schmalen Gesicht noch größer geworden zu sein. Ein kaum sichtbarer Leidenszug hatte sich um ihren Mund gegraben, wie die Gravur eines unsichtbaren Meißels.
Jeden Tag setzte sie sich an ihren zierlichen Schreibtisch im Schloss Montbijou und schrieb Briefe an Trenck. Sie bezahlte Kuriere, die ihm die Post überbrachten, die immer mit genügend Geld versehen war. Es waren Unsummen, die sie für ihn ausgab, denn sie wusste, er musste seine Umgebung bezahlen, damit er es bequem hatte und es vielleicht irgendwann Hoffnung für ihn gab, sein Gefängnis zu verlassen. Ihre Schulden bezahlte der König, ohne zu fragen, wofür. Mittlerweile gab es nur noch eine einzige Freude für sie: sich wegzustehlen und ein paar Tage im Kloster zu verbringen, in der Gemeinschaft der verständnisvollen Nonnen, deren Äbtissin sie offiziell war und die um ihr Geheimnis wussten. Doch bevor sie fortfuhr, musste sie beim
König stets Urlaub erbitten, denn er wollte über jeden ihrer Schritte unterrichtet sein. In ihrer eigensinnigen Art versuchte sie einige Male, sich seinem Gebot zu widersetzen, doch der König war auf der Hut und ließ sie beobachten.
»Prinzessin, sind Sie so weit?« Ihre Zofe und Vertraute Rosa trat mit einer Reisetasche ein und riss sie aus den trüben Gedanken, denen sie ständig nachhing. »Die Kutsche wartet im Hof«, sagte sie und verließ diskret das Zimmer. Amalie rückte ihren Hut mit der Feder vor dem Spiegel noch einmal gerade, griff hastig nach ihrem Pelzumhang und eilte hinaus. Sie freute sich auf die Fahrt nach Quedlinburg. Dann würde sie täglich vom Kloster ins Dorf zu der Bauernfamilie fahren können, um ihren Sohn Wilhelm Friedrich endlich wieder im Arm zu halten. Der kleine Kerl schien sich prächtig zu entwickeln. Sie beruhigte sich mit dem Gedanken, dass er dort auf dem Land friedlich aufwachsen würde, im Kreise seiner vier Halbgeschwister, die die schöne, elegante Prinzessin mit großen Augen anstaunten, wenn sie aus der Kutsche stieg und ihnen Zuckerzeug mitbrachte. Sie hatte Trenck noch immer nichts von der Geburt seines Sohnes geschrieben, weil sie fürchtete, dass er etwas Unüberlegtes tun könnte, um ihn zu sehen. Das würde den König nur noch mehr gegen ihn aufbringen und sein Leben ernstlich gefährden.
Als sich Trencks Entlassung aus dem Gefängnis immer länger hinauszog und sie fürchtete, Friedrich würde ihn niemals freilassen, drängte sich ihr der Gedanke auf, mit ihm gemeinsam zu fliehen. Irgendwie, irgendwohin. Dann könnten sie beide zusammen mit dem kleinen Wilhelm Friedrich ins Ausland, nach Amerika oder nach China, fliehen und endlich glücklich sein. Sie hatte allerdings Zweifel, dass ihr ein solcher Schritt unter den gegebenen Umständen und ihrer unsichtbaren Bewachung allein gelingen würde. Jede Nacht grübelte sie über die Gründe, warum der König seinen einst geliebten
Gardeoffizier so lange mit seinem Hass und seiner Rache verfolgte. Friedrich war in seinen Ansichten immer human und menschlich gewesen – er hatte bei Regierungsantritt als Erstes die Folter abgeschafft und sich in mehr als einem Fall als milder Herrscher gezeigt, der verzeihen konnte. Geriet er nun seinem Vater, König Friedrich Wilhelm I., nach, dessen Strenge und Grausamkeit ihr als Kind manchmal unbegreiflich erschienen war?
Als sie den Fuß in die Kutsche setzte, stieg auch einer der Bediensteten unaufgefordert auf den Bock und nahm neben dem Kutscher Platz.
»Was soll das?«, rief Amalie entrüstet aus. »Was willst du? Verschwinde gefälligst. Ich brauche keinen Aufpasser.«
»Verzeihung, Hoheit! Ich handle nur auf Befehl des Königs. Er hat mir aufgetragen, ihn von einer Abreise Ihrerseits zu informieren. Er möchte Sie vorher unbedingt noch sprechen. Ich soll Sie in diesem Fall in sein Arbeitszimmer ins Stadtschloss begleiten.«
Amalie ballte hilflos die Fäuste unter ihrem eleganten rostroten Reisekleid. Sie beherrschte sich nur mit Mühe. »Nun gut, fahren wir los! Bringen wir es hinter uns.« Sie ließ sich seufzend in die Polster zurückfallen. Der nette und sanfte Bruder schien sich langsam zum Tyrannen zu entwickeln.
Friedrich sah nicht gleich auf, als sie vor ihm stand. Er schrieb mit gerunzelter Stirn weiter in seinen Akten, während Amalie ihren Zorn zu unterdrücken versuchte. Beherrscht grüßte sie und begann mit einer belanglosen Konversation. »Ich gratuliere Ihnen zu der glorreichen Schlacht, lieber Bruder. Zum Gewinn Schlesiens. Es war wohl nicht einfach, die Österreicher und Sachsen in dieser Überzahl zu schlagen.«
»Ja«, sagte Friedrich, während er sich in einer Akte Notizen machte und mit der Lupe die Landkarte visierte. »Aber ich fürchte, das Spiel ist noch nicht zu Ende. Gerade habe ich von
dem schwedischen Gesandten in Berlin die Nachricht bekommen, dass der Graf von Brühl heimlich einen weiteren Feldzug gegen mich vorhat. Prinz Karl wird mit seiner Armee nicht wie vorgesehen die Winterquartiere beziehen, sondern er plant, mich diesmal von drei Seiten zugleich anzugreifen. Es ist ja nicht schwer zu erraten, was er vorhat. Zuerst will er den alten Dessauer, meinen Feldmarschall, besiegen und mit einem weiteren Truppenteil auf Brandenburg losgehen. Und dann mit seiner Armee das Bobertal hinab in die Lausitz rücken. Also hätte ich von allen drei Seiten eine Armee vor mir. Auf jeden Fall muss ich ihm einen Strich durch die Rechnung machen. Koste es, was es wolle!« Er stützte den Kopf in die Hände und seufzte tief auf. »Welch ein Leben muss ich führen! Unsere Truppen sind erschöpft und fast ausgeblutet. Und wenn wir diesmal nicht siegen, dann …« Er vollendete den Satz nicht.
Amalie schwieg erbittert. Hatte Friedrich gedacht, sie würde ihn jetzt bedauern? Er hatte wie immer nur die Politik und den Krieg im Kopf und alles Persönliche war ihm anscheinend gleichgültig. Mit der Gewinnung Schlesiens hatte er einen Waldbrand der politischen Mächte entfacht. Und er wollte nicht nachgeben. Nach einer ganzen Weile, in der der König mit der Lupe gedankenvoll auf der Karte herumsuchte und ihre Anwesenheit anscheinend vergessen hatte, begann sie kühl: »Ich hoffe für uns alle, dass die preußische Armee trotz aller Widerstände siegen wird. Aber wollten Sie mich nicht noch sprechen, bevor ich nach Quedlinburg abreise?«
Ohne sie anzublicken, sagte er trocken und mit leichter Ironie: »Sehr lobenswert, dass Sie so oft zum Kloster hinausfahren, werte Schwester. Das fromme Leben bei den Nonnen scheint Ihnen zu gefallen.« Finster, ohne ein Lächeln, sah er ihr jetzt ins Gesicht.
»Ich brauche Luftveränderung«, Amalie hob die Nase so hoch wie möglich, »und sehe dabei nach dem Rechten. Ist das in meiner neuen Position als Äbtissin etwa verwunderlich?«
»Das nicht. Aber ich sage es dir geradeaus, Amélie. Deine Besuche bei einer gewissen Bauernfamilie passen mir gar nicht!«
»Und warum nicht?« Amalie fühlte, wie ihre Knie zu zittern begannen. Ihr Gesicht rötete sich.
»Deine Besuche erregen Aufsehen – und das möchte ich nicht. Man fängt an, über dich zu tuscheln und uns ins Gerede zu bringen.«
»Du willst mir wohl auch noch das Letzte an Lebensfreude nehmen«, platzte Amalie jetzt wütend heraus. Sie warf ihren Fächer zu Boden. »Lass mich endlich in Ruhe. Mit deiner angeblichen Fürsorge, deinem Beobachtungswahn. Kümmere du dich um deine Soldaten! Ich will mein Kind sehen und das Geschwätz der Leute ist mir herzlich egal …«
»Aber mir ist es nicht egal! Dann, wenn meine Untertanen meine Schwester eine Hure nennen!« Der König schlug auf den Schreibtisch, dass die Tinte spritzte.
Amalie erstarrte. »Du hast mich gerade … eine Hure genannt?«
»Wie sollte ich dich sonst nennen? Du hast nicht auf mich gehört, als ich dich gewarnt habe. Hast einen Bastard von einem Halunken in die Welt gesetzt, der ein Verräter, ein Schandmaul ist, von dem die Welt lieber nichts wissen sollte.« Der König hatte sich erhoben. Seine Augen glitzerten eisig und durchdrangen sie mit seiner Kälte. Amalie fühlte, wie die Knie unter ihr nachgaben. Tränen schossen ihr in die Augen. Sie ließ sich in einen Sessel fallen und drückte das Taschentuch an die Augen.
»Du bist nicht irgendwer, Amélie«, die Stimme des Königs klang nun etwas sanfter, »sondern die Schwester des Königs von Preußen. Die Welt schaut auf dich. Und deshalb hast du die Verpflichtung, meinen Landeskindern ein Vorbild zu sein.« Der
König erhob sich, ging im Zimmer auf und ab, und seine Stiefel brachten den Holzboden zum Ächzen.
Amalie sah mit verweinten Augen hoch. »Du kannst mich nicht zwingen, meinen Sohn nicht mehr zu sehen.«
»Doch, das kann ich! Ich befehle es dir sogar!« Der König hatte sich abrupt umgewandt und fixierte sie für einen kurzen Moment. Dann wandte er sich wieder ab, setzte sich an seinen Schreibtisch und begann, sich mit der Feder Notizen zu machen. Mit monotoner Stimme fügte er hinzu: »Und wenn du dich nicht fügst, werde ich Maßnahmen ergreifen!«
»Was für Maßnahmen? Willst du mich ins Kloster sperren, wie du Trenck ins Gefängnis gesperrt hast, oder was?« Amalie knetete ihr Taschentuch zwischen den Händen. »Aber dann wird die Welt erfahren, wie grausam du in Wirklichkeit bist.«
Als er nicht antwortete, richtete sie sich gerade auf. »Adieu! Ich habe heute den Frédéric meiner Kindertage verloren, den Poeten und Freigeist …« Ohne ihn noch einmal anzusehen, rauschte sie aus dem Zimmer, stieg in ihre Kutsche und befahl dem Kutscher loszufahren. Erst dann brach sie in Tränen aus und schluchzte hemmungslos vor sich hin.
»Wo bin ich?« Anna öffnete die Augen und sah verwirrt ins dämmrige Halbdunkel der einfachen Holzhütte. Sie lag auf dem Strohsack eines primitiven Holzbettes unter einer groben Rupfendecke. Ein seltsamer und herber Geruch nach Rauch und gekochten Kräutern erfüllte den Raum. Ihre Schmerzen waren verschwunden, doch sie fühlte sich sehr schwach und fror unablässig. Mit der Hand tastete sie nach ihren Kleidern und stellte zu ihrem Schrecken fest, dass sie im Hemd war. Unruhig ließ sie ihre Blicke durch den Raum wandern. Ihre Jacke und Hose nebst Stiefeln, Hut und Gewehr lagen neben ihr auf einem
wackligen Stuhl. Die Bandagen, mit der sie ihre Brust so flach wie möglich eingebunden hatte, hingen ganz unschuldig daneben. Das Zimmer war erfüllt von einem seltsamen Geräusch, das wie ein anhaltendes Quäken klang.
»Wo bin ich? Was ist passiert?« Anna hob den Kopf und sah die weißhaarige alte Frau, die sich kurz über sie beugte, mit einem ratlosen Ausdruck in den Augen an.
»Gute Frage.« Die brüchige, raue Stimme klang ein wenig spöttisch. »Ich hab dich im Wald aufgelesen, als ich nach Wurzeln und Pilzen gesucht habe. Dachte, du wärst ein verletzter Soldat – desertiert, was weiß ich. Dann habe ich festgestellt, dass du eine Frau bist. Dein Kind, das arme Würmchen, lag zwischen deinen Beinen.« Sie drehte ihren Kopf in eine Ecke des Zimmers, wo eine alte Wiege aus verfärbtem Holz stand, in der ein in Tücher gehülltes Etwas lag. »Ich habe es abgenabelt. Es ist ein Mädchen, gesund, aber ein wenig mager. Warum trägst du Männerkleider – gibst dich als Soldat aus?«
»Gib es mir!« Anna streckte die Arme aus. Die alte Frau nahm das Kind aus der Wiege und Anna drückte es an ihre Brust. Ein Glücksgefühl ohnegleichen durchdrang sie, als sie die samtige Haut der Kleinen berührte, die sich öffnenden rosigen und so winzigen Fingerchen streichelte. Die Augen des Kindes waren von einem tiefen Blau und ein dunkler Flaum bedeckte das zarte Köpfchen. In diesem Moment wusste sie, dass sie es niemals hassen könnte, auch wenn sie nicht wusste, wer von den abscheulichen Vergewaltigern sein Vater war.
»Warum trägst du Männerkleider?«, wiederholte die alte Frau ihre Frage. Sie nahm das Kind, das wieder ungeduldig zu schreien begann, steckte ihm einen mit Honig getränkten Tuchzipfel in den Mund und legte es wieder in die Wiege.
Anna schloss die Augen. »Aus einem ganz bestimmten Grund«, sagte sie schwach. »Ich hatte nichts zu essen und keine Bleibe. Da hab ich gedacht, das einfachste Mittel, meiner
Misere zu entkommen, wäre, mich rekrutieren zu lassen und unter die Soldaten zu mischen. Dass ich schwanger war, habe ich erst später gemerkt.«
»Na, du bist ja gut. Das nenne ich eine ausgefallene Idee – sich als Mann auszugeben. Hast dich dann wohl mit einem Soldaten oder Söldner eingelassen?«
»Nein«, protestierte Anna. »Nein, so war es nicht.« Sie versuchte, sich auf die Ellenbogen zu stützen. »Man hat mich … überfallen.« Sie schauderte bei dem Gedanken. »Es waren mehrere Männer. Ich konnte mich nicht wehren.« Sie ließ sich erschöpft auf ihr Lager zurücksinken. »Meine große Liebe war ein vornehmer Gardeoffizier. Aber für ihn war ich nichts – nur eine Gelegenheit, bei der er seine Langeweile vergessen konnte. Ich habe ihm nicht das Geringste bedeutet. Schließlich war ich vorher ja nur eine einfache Magd. Die Tochter einer Bettlerin. Eine, die man nimmt und dann gleich wieder vergisst.« Ein bitterer Zug trat auf ihr Gesicht.
»Du hättest ja trotzdem nicht gleich mit ihm schlafen müssen«, wandte die alte Frau ein.
»Ja, das sagt man so dahin. Als er mich umarmte, dachte ich, das wäre jetzt die Erfüllung all meiner Träume und Sehnsüchte. Ich konnte mich einfach nicht gegen meine Gefühle wehren. Sie haben mich einfach überwältigt …« Ein leises Lächeln stahl sich bei dieser Erinnerung auf die blassen Züge Annas. »Dann ist es eben geschehen. Es war ein gestohlenes Glück. Das könnt ihr wohl nicht verstehen.« Sie seufzte. »Ich war so verliebt! Und er … er sah so gut aus in seiner Gardeuniform! Schlank, hochgewachsen, mit eindrucksvollen blauen Augen. Alle liebten ihn – selbst der König.« Nach einer kurzen Pause fuhr sie fort: »Aber er ist nicht der Vater meines Kindes.«
Sie strich sich über die kurz geschnittenen, lockigen Haare und ließ ihren Blick durch den einfachen Raum der Holzhütte streifen, wie um sich wieder zu orientieren, wo sie sich überhaupt befand.
»Er ist nicht der Vater? Na gut, du musst es ja wissen. Übrigens verstehe ich dich. Ich war auch einmal jung und verliebt. Es ist immer das gleiche Spiel.« Die Alte verdrehte die Augen. »Schade, dass du nicht weißt, wer der Vater deines Kindes ist. Aber könntest du denn nicht einfach behaupten, es sei der Gardeoffizier gewesen? Er würde vielleicht für das Kind aufkommen – für es bezahlen und sorgen.« Sie sah Anna fragend an, während sie begann, energisch in einem dampfenden Topf zu rühren, der über dem Herd hing und begonnen hatte zu kochen.
Anna schüttelte schwach den Kopf und starrte an die Wand. »Nein – so etwas brächte nur Unglück. Ich liebe ihn viel zu sehr, um ihn zu belügen.«
»Liebe! Welche Verschwendung an jemanden, der dich nur ausgenutzt hat.« Die Alte lachte scheppernd auf. »Ich sag dir was: Liebe, die gibt es gar nicht. Sie ist nichts als Einbildung – eine Schimäre, die schnell wieder verfliegt.« Sie wrang ein Tuch in Wasser aus, legte es der vor Kälte erschauernden Anna auf den Leib und wickelte ein wollenes Tuch darüber. »Aber die Folgen bleiben, wenn die Gefühle verschwunden sind. Und die Reue. Eines Tages wirst du schon noch selbst darauf kommen.«
»Nein, ganz bestimmt nicht. Ich bereue vielleicht, dass ich in seinen Armen gelegen habe. Aber es war der glücklichste Moment meines Lebens, den ich nie vergessen werde.«
»Das bildest du dir doch nur ein.« Die Alte goss den dampfenden, grünlich schimmernden Inhalt des Topfes in eine Schale. »Du kannst einer alten Frau mit genügend Erfahrung ruhig glauben.«
»Erzählt mir davon. Was sind das denn für Erfahrungen?«, fragte Anna. »Und sagt mir vor allem, wer Ihr überhaupt seid.«
»Von meinen Erfahrungen erzähle ich dir lieber ein anderes Mal. Ich bin Mia, die Heilerin vom Wald. Man nennt mich auch die alte Kräuterfrau, ganz wie es dir beliebt. Vor dreißig
Jahren habe ich mich in die Einsamkeit zurückgezogen. Die durchziehenden Händler kennen mich – man bringt oft Verletzte oder Kranke zu mir. Auch manchen Söldner habe ich schon gesundgepflegt. Für fast jedes Übel gibt es ein Mittel, das mir zur Verfügung steht«, fügte sie beinahe prahlerisch hinzu. »Die Natur ist die beste Heilerin. Du kannst von Glück sagen, dass ich dich noch rechtzeitig gefunden habe.«
Anna versuchte sich an die letzten Stunden zu erinnern, aber alles, was sie noch wusste, war, dass sie sich, von unerträglichen Schmerzen gequält, vom Lager der Soldaten weg in den Wald geschleppt hatte. Ein Holzstück zwischen den Zähnen hatte ihr dazu gedient, nicht laut zu schreien. Niemand von der Fußtruppe der Infanterie sollte ja von ihrem Zustand etwas merken. Dann war es immer schlimmer geworden. Und plötzlich, nach einem nahezu unerträglich Druck in ihrem Bauch, der zu zerreißen drohte, musste sie das Bewusstsein verloren haben.
Die alte Frau verzog das knittrige, von scharfen Linien durchzogene Gesicht, während sie büschelweise getrocknete Kräuter auseinanderteilte, sie mit einem Bindfaden zusammenband und über den Herd hängte. »Du hattest viel Blut verloren. Dein Kind hatte sich die Nabelschnur um den Hals gewickelt. Als ich es befreite, schrie es, und ich merkte erst da, dass es noch lebte.«
»Ich dachte, ich müsste sterben«, seufzte Anna. »Und wenn, dann sollte man mich nicht finden.«
»Du wolltest wohl die Heldin spielen? Oder soll ich besser sagen
den Helden
!« Spöttisch sah die Kräuterfrau auf sie herab. Ihr weißes Haar umloderte wild ihren Kopf. Doch ihr Gesicht wies einen gutmütigen, beinahe mitleidigen Zug auf. »Ich hoffe, du hast genug Geld bei dir. Ganz umsonst kann ich dir leider nicht helfen. Ich muss schließlich auch leben.«
Anna zog ihre Uniform zu sich, die über einem Stuhl hing, griff in eine der Taschen und zog ein Stoffsäckchen hervor. Sie hatte etwas von ihrem Sold für Notfälle gespart, ein paar Gulden, Taler und Pfennige. Sie teilte die Summe und reichte sie der alten Mia, die sie kritisch besah. »Nicht allzu viel«, grummelte sie. »Aber wenigstens etwas, vorerst.« Sie steckte das Geld in ihre Tasche, ging zum Herd und nahm die eiserne Kelle zur Hand. Dann füllte sie etwas von der scharf riechenden Flüssigkeit im Kessel in eine Schale und stellte sie zum Abkühlen beiseite. »Ich kenne eine Menge Geschichten. Aber deine ist wohl ziemlich außergewöhnlich. Wenn du mal so alt bist wie ich, wirst du merken, dass wir Frauen nur Scherereien mit den Männern haben, mit denen wir uns einlassen – und mit dem, was man so Liebe nennt. Kinder, Krankheiten und Kummer folgen aufeinander. Und betrogen werden wir dann auch noch. Das ist unser Los.«
»Nein!«, rief Anna voller Leidenschaft aus. »Das ist sicher nicht immer so. Bei mir war es ganz anders. Es war mein Fehler!«
Leichtes Interesse und so etwas wie Neugier blitzten in den Augen der Alten auf. »Es steht wohl schlimmer um dich, als ich dachte.« Sie beugte sich vor, und ihre schmalen, fahlen Lippen verzogen sich zu einem sparsamen Lächeln. »Du liebst ihn wohl immer noch. Auch ich habe einmal geliebt. Hatte auch eine Tochter – sie wäre jetzt so alt wie du. Aber die ganze Sache ist nicht gut ausgegangen …« Ihre Stimme versagte, und ihr Blick, der in die Ferne ging, wurde traurig. Eine längere Pause entstand, in der sie sich aufraffte, das Kräutergebräu abseihte und in eine abgeschlagene Tasse goss. Sie schob Anna ein Kissen in den Rücken. »Trink das«, sagte sie in befehlendem Ton. »Es ist eine Mischung aus Frauenwurzel, Nelken, Zimt und Thymian. Dann wird es dir bald wieder besser gehen.«
Anna schnupperte misstrauisch an dem seltsam riechenden Getränk, dann nahm sie gehorsam einen kleinen Schluck. Sie verzog das Gesicht. »Das ist ja schrecklich bitter.«
»Es wird dir helfen. Du wirst anschließend gut schlafen können. Ich sehe, dass du Ruhe sehr nötig hast.«
»Meine Kameraden … sie werden denken, ich sei abgehauen, desertiert.« Anna goss den Trank auf einmal hinunter und schüttelte sich angewidert. »Man darf mich nicht finden. Auf Desertion aus der Armee steht Gassenlaufen.« Sie dachte an den armen Konrad, der diese Tortur nicht überlebt hatte.
»Lass sie ruhig suchen. Du bist hier sicher.«
»Ich will nicht mehr zurück.« Anna fühlte, wie ihre Lider schwer wurden. »Aber ich muss nach Glatz – zur Festung. Habe ich dir gesagt, dass er … dort im Gefängnis sitzt? Unschuldig natürlich. Er liebte die Prinzessin Amalie, die Schwester König Friedrichs, das war sein Fehler. Aber die Prinzessin kann ihm wahrscheinlich auch nicht helfen. Er ist allein, vom Unglück verfolgt. Niemand kümmert sich um ihn. Und wenn ich es nicht tue – dann wird er vielleicht im Gefängnis sterben.«
»Was ist denn das für ein Unsinn!«, murmelte die Kräuterfrau spöttisch. »Du glaubst doch nicht im Ernst, dass ausgerechnet du diesem Mann helfen kannst! Wenn ich es richtig verstanden habe, liebt dieser Offizier doch eine andere. Da bist du völlig überflüssig.« Sie schüttelte unwillig den Kopf. »Willst du dich etwa für ihn opfern? Noch nicht richtig auf den Beinen und schon neue Dummheiten im Sinn! Jetzt musst du erst einmal an dein Kind denken und nicht an solche Hirngespinste.« Sie schob die Decke über Annas Schultern und diese schloss gehorsam die Augen. Morgen – ja, morgen würde sie darüber nachdenken, was zu tun war. Und ob Mia vielleicht recht hatte.
Ungeduldig lief Trenck in seinem Kerker auf und ab und sann über die bevorstehende Flucht nach. Er wiegte sich in Sicherheit. Die Offiziere waren ihm gewogen, sein Quälgeist, der Platzmajor Doo, auf einen anderen Posten versetzt. An seinem Beispiel hatte er jedoch gelernt, dass es Verräter gab, Menschen, die ihm, von Neid zerfressen, nichts Gutes wollten und ihm bei König Friedrich durch falsche Berichte schadeten. Aber zum Glück hatte er sich bei der neuen Besatzung durch seine Redegabe, seinen unerschütterlichen Wagemut und nicht zuletzt durch seine Dukaten Freunde unter den Offizieren gemacht, die mit ihm ausbrechen wollten, um woanders ihr Glück zu suchen. Insgesamt waren es einhundertzwanzig Mann, die in der Zitadelle Dienst taten und die auf die Garnison im Ort Glatz verteilt waren. Sie alle waren höchst unzufrieden, namentlich mit ihrem Sold und mit ihrer Position, in der sie sich auf dem Abstellgleis fühlten. Einige waren zu träge, ihr Schicksal selbst bestimmen zu wollen, aber die meisten zeigten sich Feuer und Flamme für Trencks vorsichtig ausgearbeiteten Plan. Er hatte sorgsam darauf geachtet, dass keiner der beteiligten Offiziere vom anderen wusste und dass er mit ihnen im Komplott war. Vier Offiziere wechselten immer die Hauptwache ab, von denen er bereits drei auf seine Seite gezogen hatte. Unteroffizier Nikolai, ein entschlossener, leicht entflammbarer Charakter, mit dem er sich gut verstand, sollte der Anführer sein. Beim Wein am Abend wurden nun mit den wichtigsten Männern die Pläne zum baldigen Aufstand ausgearbeitet. Pistolen, scharfe Patronen, Säbel und Degen hatte Trenck im Ofenloch seiner Zelle deponiert. Der Plan war der, die nicht eingeweihten Bewacher in Schach zu halten, alle willigen Arrestanten zu befreien und gemeinsam über die Grenze nach Böhmen zu flüchten. Trenck fieberte unruhig dem Moment der Entscheidung und der Freiheit entgegen.
Doch dann, noch bevor man zur Tat schreiten konnte, kam die neue Enttäuschung. Wieder gab es einen Verräter. Der zu einer langjährigen Freiheitsstrafe verurteilte Kapitän von Damnitz, der in der Zelle die Aufrührer belauscht hatte, verpfiff dem Kommandanten das Vorhaben. Dieser erteilte sofort den Befehl, Unteroffizier Nikolai zu verhaften, die Kasematte streng zu bewachen und Trencks Zelle doppelt zu verschließen. Trenck, der von dem Verrat des Kapitäns als Erster erfahren hatte, konnte Nikolai trotz allem noch das Zeichen zum sofortigen Aufbruch geben und die Waffen herauslegen, bevor man ihn einschloss. Wenn alles schnell gehen würde, konnte man die Flucht noch schaffen. Nikolai reagierte auf der Stelle. »Zu den Waffen, Brüder!«, rief er. »Folgt mir!« Die eingeweihten Offiziere eilten ihm ins Stockhaus nach, nahmen die Pistolen und scharfen Patronen und drohten, die Wachhabenden, die keine Gewehre hatten, niederzuschießen. Dann versuchten sie in aller Eile, Trencks Kerkertür aufzusprengen, um ihn zu befreien. Doch die Zeit war zu kurz und das schwere Eisen gab nicht nach.
»Hilf mit, Fritz, spreng den Riegel von innen!«, rief Nikolai ihm durch die verschlossene Tür zu, die er immer noch mit aller Gewalt zu öffnen versuchte. Mit der Kraft der Verzweiflung, mit Fußtritten und Fäusten schlug Trenck von innen an den Riegel, weil er begriffen hatte, dass keine Zeit blieb, die versteckten Granaten aus dem Ofenloch zu holen und zu zünden. Doch die schwere Kerkertür widersetzte sich hartnäckig allen Versuchen, sie auf irgendeine Weise aufzustemmen. Schon hatten sich die eingeweihten Offiziere der Zitadelle zusammengetan und Nikolai musste in letzter Minute auf Drängen seiner Kameraden von seinem Vorhaben ablassen. Mit neunzehn Mann, die Gewehre im Anschlag, marschierten die Aufrührer zum Feldtor und zwangen den dortigen Unteroffizier mit seinen sechs Wachhabenden gewaltsam, sich ihnen anzuschließen.
Trenck blieb zurück. Inzwischen hatte er die heimlich versteckten scharfen Patronen aus dem Ofenloch geholt, und endlich, nach vielen vergeblichen Versuchen, war es ihm gelungen, das Schloss mit einer Granate zu sprengen. Mit einem vorsorglich versteckten Säbel stürzte er an den von ihren flüchtenden Offizierskameraden eingeschüchterten fassungslosen Wachen vorbei und rannte ihnen nach. Von Weitem sah er, wie das Feldtor sich gerade für Nikolai und seine Komplizen öffnete. Doch da stellte sich ihm plötzlich, und wie aus der Erde gestampft, ein mutiger Wachmann mit seinem Bajonett entgegen. Trenck warf sich mit aller Kraft auf ihn, und da wenig Zeit blieb, streckte er den Mann mit einem einzigen Hieb zu Boden. Doch schon tauchten zu dessen Verstärkung ein zweiter und ein dritter Wachmann auf, die gemeinsam auf ihn einschlugen. Trotz zahlreicher Verletzungen hieb sich Trenck mit dem Degen und der Kraft der Verzweiflung den Weg frei und rannte wie ein Wahnsinniger dem Feldtor zu, dessen Riegel noch nicht wieder vorgeschoben war.
Langsam fühlte Anna ihre Kräfte und damit auch ihre Lebensfreude wiederkehren. Die dunklen Albträume, in denen sie die Gesichter sterbender oder zu Tode getroffener Soldaten vor sich sah, aus deren Brust das Blut spritzte, ihre Schreie hörte, wenn sie niederbrachen, verblassten allmählich. Sie trug ihr Kind mit einem Tuch um die Brust gebunden, so wie es ihr Mia, die Kräuterfrau, gezeigt hatte. Die Alte hatte sich ihrer und des Kindes mit mütterlicher Sorgfalt angenommen, und Anna, die eine solche Zuwendung im Leben nie gekannt hatte, war ihr sehr dankbar dafür gewesen. Das winzige Wesen, das sich warm und vertrauensvoll an sie schmiegte, war der Quell ihres Entzückens. Das Wunder des Lebens offenbarte sich
in der Gestalt ihrer kleinen Tochter. Sie nährte sie, wenn sie hungrig war, und begleitete Mia manchmal mit ihr auf ihren Streifzügen durch den winterlichen Wald. Mia grub essbare Wurzeln aus dem halb gefrorenen Boden und erklärte Anna die Eigenschaften und Wirkungen so mancher Pflanze. Sie stellte auch Fallen auf, um Hasen zu fangen, und zeigte ihr, wie man Forellen mit der bloßen Hand fing, die unter dem brüchigen Eis des nahe gelegenen Baches dahintrieben. Im verwildert scheinenden Vorgarten gackerten Hühner, und ein paar magere Ziegen, die etwas Milch gaben, nagten an den winterharten Büschen der Umgebung, wenn sie ihren kleinen Stall verließen.
Doch trotz der friedlichen Umgebung, der ländlich ruhigen Stille der Natur, die sie umgab, wuchs in Anna neue Unruhe. In ihrem Herzen war die Flamme der unerfüllten Sehnsucht nach ihrem Idol noch immer nicht erloschen, im Gegenteil, sie brannte täglich mit stärker werdender Glut. Ihre unerfüllte Sehnsucht, der Zwang, den Mann zu finden, der Tag und Nacht ihre Gedanken beherrschte, ließ sie nicht zur Ruhe kommen. Jeden Tag stellte sie sich vor, wie er litt, wie er in seinem dunklen Gefängnis schmachtete, in dem er machtlos seinem Schicksal ausgeliefert war. Der Gedanke, ihm helfen zu müssen, wurde immer stärker in ihr. Sie wollte ihn sehen, wollte wissen, wie es ihm ging und ob er überhaupt noch lebte. Die Einzige, von der sie das erfahren konnte, war Prinzessin Amalie. Sollte sie es wagen, sie aufzusuchen? Sie zweifelte, wägte das Für und Wider ab.
»Wie stellst du dir eigentlich deine Zukunft vor, Anna?«, begann Mia überraschend an einem sonnigen Wintertag, an dem sie gemeinsam im harten Boden nach Wurzeln gruben. Sie sah sie fragend mit ihren von runzligen Falten umgebenen gütigen Augen an. »Du kannst ja nicht für immer bei mir bleiben. Ich muss selbst sehen, wie ich mein Auskommen finde.«
Anna erhob sich abrupt aus ihrer gebückten Haltung. Sie trug die kleine Friederike in einem Wolltuch an der Brust, die von der plötzlichen Bewegung erwacht war. Das Kind sah zu ihr auf und verzog sein Mündchen zu einem ungeschickten Lächeln.
»Hast du schon mal daran gedacht, wie es weitergehen soll?«, fuhr Mia ungerührt fort, säuberte eine Pfeilwurzknolle und ein paar Löwenzahnwurzeln sorgfältig mit einer Bürste und legte sie dann in ihren Weidenkorb. »Wie deine Zukunft aussehen soll? Ich hörte im Dorf, der König habe eine Generalamnestie für desertierte Soldaten erlassen. Es gibt zu wenige Soldaten in der Armee. Wie wäre es, wenn du dich zurückmeldetest? Dann bekämst du wenigstens wieder regelmäßig Sold und könntest Friederike zu einer Bauernfamilie bringen. Ich wüsste eine, die sie gegen Bezahlung in Pflege nehmen würde. Wenn du dein Leben wieder im Griff hast, kannst du sie dann zu dir holen.«
Anna schüttelte energisch den Kopf. »Friederike soll nicht zu fremden Leuten.« Zögernd fuhr sie fort: »Könntest du sie nicht eine Weile behalten, bis ich …?« Sie beendete den Satz nicht.
»Bis du was?«
»Bis ich wiederkäme? Du bist die Einzige, zu der ich Vertrauen habe. Und denk nicht, dass du es umsonst machen musst.« Trotzig blickte Anna ihr in die Augen. »Wenn ich zurück bin, zahle ich dir alle Auslagen. Das schwöre ich – bei allem, was mir heilig ist.«
Mia lachte auf. »Wie stellst du dir das vor? Ich habe keinen Platz für einen Säugling. Und aus dem Alter, Kinder aufzuziehen, bin ich heraus. Gehst du jetzt zur Armee zurück oder nicht?«
Anna schwieg betreten und Mia fuhr fort: »Genau das habe ich mir gedacht. Du willst nicht und hast irgendwelche
Dummheiten vor. Aber da mache ich nicht mit, sosehr mir die kleine Friederike am Herzen liegt.«
Anna sah weiter verlegen zu Boden, während sich Mias faltenreiches Gesicht missbilligend verzog. »Du willst zu ihm? Deiner heimlichen Liebe? Gib es ruhig zu!« Theatralisch verdrehte sie die Augen. »Begreifst du denn immer noch nicht, dass du diesem Mann völlig gleichgültig bist? Und dass sich das nie ändern wird, ob du dich nun für ihn opferst oder nicht. Du läufst in dein Unglück.«
»Nein«, gab Anna mit entschlossener Stimme zurück. »Ich will ihm nur helfen, falls es nötig ist. Dann komme ich zurück und hole Friederike ab.«
»Unsinn. Wenn etwas schiefgeht, sitzt du vielleicht selbst hinter Gittern«, ereiferte sich Mia. »Sieh es doch ein: Deinen noblen Offizier und dich trennen Welten.« Sie sah Anna eindringlich an. »Du bist völlig verblendet.«
Wie auf ein Signal begann die kleine Friederike jetzt zu schreien. »Kümmere dich lieber um dein Kind, als einem Traumbild nachzujagen, das niemals Wirklichkeit werden wird. Du bist jung und gesund und kannst dir jede Art von Arbeit suchen.«
Anna strich der kleinen Friederike beruhigend über das Köpfchen, drückte und herzte sie zärtlich. »Vielleicht hast du recht, Mia«, sagte sie. »Ich liebe Friederike über alles. Und ich werde sie niemals im Stich lassen, das verspreche ich. Aber trotzdem …«, sie presste die Lippen trotzig zusammen, »muss ich das tun, was mir mein Herz befiehlt.«
»Man kann dich einfach nicht zur Vernunft bringen!«, seufzte Mia. »Da hilft nur eine Radikalkur. Du weißt, ich meine es gut mit dir. Aber ab morgen will ich dich hier nicht mehr sehen. Mitsamt deinem Kind.« Sie nahm ihren Korb mit den ausgegrabenen Wurzeln und ging davon, ohne sich noch einmal umzublicken.
Anna sah ihr verwirrt nach. Sie wusste, dass Mia es nicht böse meinte. Und eigentlich war sie ja im Recht. Die alte Frau hatte das wenige, das sie besaß, mit ihr geteilt. Sie verstand sehr gut, dass sie ihr nicht länger mit ihrem Kind zur Last fallen konnte. Aber ein paar Monate musste es doch gehen! Sie durfte sich jetzt nicht von ihrem Ziel abbringen lassen. Friederike war bei Mia am besten aufgehoben. Und sie würde sich beeilen und bald zurück sein, dazu war sie fest entschlossen.
Als Mia am nächsten Morgen vom hungrigen Schreien des Säuglings erwachte, war Annas Lager leer und das Mädchen nirgendwo zu sehen. Auch ihre Sachen waren verschwunden, die Uniform, ihre Stiefel und ihr Gewehr mitsamt dem Bajonett. Verschlafen sah Mia überall nach, im Gärtchen vor der Hütte, auf dessen niedergetretenem Gras Raureif lag, und sogar auf dem morgendlich vereisten Pfad, der in den Wald führte. Die Ziegen im Stall meckerten erwartungsvoll, doch von Anna war nirgendwo eine Spur zu sehen. Kopfschüttelnd beugte sich Mia über die schreiende Kleine, hob sie hoch, um die nassen Windeln zu wechseln, und versuchte, sie durch leises Summen und sanfte Worte zu beruhigen. Doch nichts half und so schlurfte die alte Frau brummend an ihren primitiven Herd, machte Feuer und maß mit zitternden Fingern etwas Mehl ab, das sie mit ein paar Löffeln Ziegenmilch und Wasser vermischte und in einen verbeulten Kochtopf gab. »Du armes, verlassenes Wurm«, murmelte sie mehr zu sich selbst, während sie mit einem tiefen Seufzer in der Masse rührte, die langsam dicklich zu werden begann. »Deine Mutter sollte sich schämen, dich einfach hier zu lassen.« Sie hob den Topf vom Feuer und stellte ihn auf einem Holzblock ab. »Immerhin hast du noch mich!«, fügte sie hinzu und warf einen mitleidigen Blick zu der kleinen Friederike hinüber, die weiter mit großer Vehemenz ihr Morgenmahl reklamierte. »Ich lass dich nicht allein.« Ein leises Lächeln stahl sich jetzt trotz des anfänglichen Ärgers
auf ihre Lippen. Sie hatte geahnt, dass Anna eines Tages ihren Dickkopf durchsetzen würde, so halsstarrig wie sie war. Und sie selbst hätte wissen müssen, dass Liebe so blind macht, dass der Verstand aussetzt, wenn es das Herz gebietet. Es war nun zu spät, darüber nachzudenken, ob es richtig oder falsch war, denn die Lage war nicht mehr zu ändern. Mit einem Tontellerchen näherte sie sich der Kleinen, die kaum abwarten konnte, dass das Mehlmus abkühlte. Nach dem ersten Löffel verstummte das Weinen schlagartig, und sobald der Hunger gestillt war, schloss die Kleine zufrieden die Augen und schlief in Mias Armen ein, die es sanft hin und her wiegte. Sie fühlte plötzlich, wie ein lange verschüttetes Gefühl in ihr erwachte – wie damals, als sie noch jung war und ihr eigenes Kind in den Armen hielt. Doch dieses Glücksgefühl hielt nicht lange an. Würde sie auch jetzt, in ihrem Alter und unter den gegebenen Umständen, ein so kleines Wesen richtig versorgen können?
Ein scharfes Geräusch, ein Poltern, von splitterndem Glas begleitet, ließ sie aufschrecken. Ein Stein war durch das Fenster ins Zimmer geflogen und hatte einen irdenen Krug mitgerissen. Mia blickte mit klopfendem Herzen auf die Scherben. Etwas Lähmendes legte sich auf ihre Brust und nahm ihr beinahe den Atem. Rasch eilte sie zum Fenster und sah, halb in Deckung bleibend, hinaus. Niemand war zu sehen, aber sie wusste, was es war und was es bedeutete. Die Bewohner des nahe gelegenen Ortes warfen oft mit Steinen auf ihre Hütte, um ihr damit ihre Verachtung zu zeigen und sie zu vertreiben. Ihr ehemaliger guter Ruf hatte sich im letzten Sommer ins Gegenteil verkehrt, da eine Seuche um sich gegriffen hatte. Ganze Familien waren dem hitzigen Fieber zum Opfer gefallen, gegen das auch ihre Kräuter und Beschwörungen wirkungslos blieben. Trotzdem hatte sie keinen Kranken abgewiesen, ihn nach bestem Wissen gepflegt und versorgt. Doch gerade das war ihr zum Verhängnis geworden. Als einige der Kranken trotz ihrer Behandlung starben,
verschrie man sie als Hexe und gab ihr die Schuld an dem Unglück. Der Medikus im Dorf, der schon immer eifersüchtig auf ihre Kräuterkunst gewesen war, hatte die Leute gegen sie aufgehetzt und behauptete, sie hätte mit einem geheimnisvollen Zauber und schwarzer Magie das schreckliche Unglück verursacht. Die abergläubischen Bauern hatten sich daraufhin unter seiner Leitung um ihre Hütte zusammengerottet, mit Dreschflegeln und Hacken gedroht und sie beschimpft. Gerade noch war sie durch einen anwesenden Priester der Selbstjustiz entronnen. Mia seufzte tief auf. Vielleicht hätte sie Anna dies alles erzählen sollen. Aber schließlich hatte sie nicht ahnen können, dass Anna über Nacht ohne ein Wort verschwinden würde. Jetzt war es zu spät – sie war fort. Und ihr blieb nichts anderes übrig, als zu beten, dass der Hass der Bauern sich legte und der Himmel ihr half.
Inzwischen kam es in Kesselsdorf zur entscheidenden Schlacht und zum endgültigen Sieg der Preußen. Der kursächsische Feldmarschall Rutowski hatte mit den verbündeten Truppen Sachsens und Österreichs gegen den »Alten Dessauer«, Fürst Leopold von Dessau, verloren. Als die Meldung bei König Friedrich eintraf, wusste er, dass er jetzt endgültig gewonnen hatte. Preußen war gerettet – und Schlesien gewonnen. Er hatte über Maria Theresia triumphiert! Ganz Berlin befand sich im Freudentaumel. Friedrich der Große nannte man ihn – und das jetzt zu Recht! Und dieser Name würde ihm für alle Zeit bleiben und in die Geschichtsbücher eingehen, das wusste er jetzt ganz genau.
Schweren Herzens hatte sich Anna mitten in einer frostigen Dezembernacht allein auf den Weg nach Berlin gemacht. Die Entscheidung war ihr nicht leichtgefallen, ihr Kind bei
Mia zurückzulassen, aber der Gedanke beruhigte sie, dass Friederike bei der Kräuterfrau gut aufgehoben war und dass sie ja bald zurückkehren würde. Es war ungemütlich, denn eisige Wintertage mit halb verschleierter Sonne, die hinter den dichten grauen Wolken nur zu ahnen war, waren in letzter Zeit aufeinander gefolgt. Vereinzelte Schneeflocken wirbelten durch die Luft, und Anna marschierte mit weit ausholenden Schritten, um ihren Körper in der Uniform warm zu halten. In einer Wirtschaft hatte sie einen abgetragenen alten Mantel gestohlen, der sie gegen den eisigen Wind schützte und der ihr auch als Zudecke beim Übernachten in Ställen und Scheunen gute Dienste leistete. Es war, als halte man nach dem großartigen Sieg der Preußen im ganzen Land den Atem an. Doch König Friedrich war vorsichtig, er ließ die Soldaten auch weiterhin in der Nähe von Kesselsdorf bei den Magazinen lagern, um auf der Hut zu sein. Die Friedensverhandlungen waren jetzt in vollem Gange. Der österreichische Feldherr Prinz Karl musste zu seinem großen Verdruss einsehen, dass Graf Rutowski und er die Schlacht ganz klar verloren hatten. Und er musste sich eingestehen, dass die Stärke und Moral seiner Truppen so geschwächt war, dass ein geordneter Fortgang des Kampfes nicht mehr möglich sein würde. Die Preußen hatten wie die Teufel gekämpft, und sie hatten keine Chance gehabt, ihnen beizukommen. Maria Theresia rang verzweifelt die Hände. Ihr schlimmster Feind, der König von Preußen, hatte ihr Schlesien genommen! Aber irgendwann, wenn auch nicht jetzt, würde er dafür bezahlen müssen, das schwor sie sich.
Anna bettelte inzwischen an Gehöften und Katen um Brot, und man gab es ihr gerne, hochgestimmt durch den Sieg und in der Hoffnung auf ein Ende des Krieges. Überall lobte man den König, nannte ihn stolz »Friedrich den Großen«. Zum Glück für Anna fand man es wohl nicht erstaunlich, dass nach einem solchen Sieg ein einzelner Soldat ganz allein
unterwegs in die Heimat war. Sie wurde nirgendwo aufgehalten und traf kurz nach Weihnachten unbehelligt in Berlin ein. Die Bevölkerung feierte, man war völlig aus dem Häuschen, denn am 25. Dezember war der Friedensvertrag mit Österreich geschlossen worden. Maria Theresia hatte Schlesien offiziell an Preußen abtreten müssen, und dafür würde Friedrich ihren Gatten Franz als Kaiser des Heiligen Römischen Reiches anerkennen. Die Stadt war hell erleuchtet, Freudenfeuer und Feuerwerke wurden abgeschossen und in den Straßen jubelten die Menschen und sangen das Lob Friedrichs des Großen. Der König war strahlend wie ein Triumphator in Berlin eingezogen. Doch dann vergällte ihm eine Nachricht die ganze Freude, ein Wermutstropfen, der sich in sein Glück mischte. Man ließ ihm ausrichten, dass sein geliebter Erzieher Jacques Égide de Duhan auf dem Sterbebett liege und dass er ihn vor seinem Tod noch einmal sehen wolle. Friedrich eilte zu ihm und hielt seine Hand. Tief im Herzen fühlte er die bittere Erkenntnis, dass Freud und Leid, Kummer und Schmerz so unendlich nahe beieinander lagen. Keine Medizin konnte dem Freund und geschätzten Berater mehr helfen und Friedrich vergoss heiße Tränen bei seinem Tod. Ohne zu feiern, schloss er sich in seinem Arbeitszimmer ein und weigerte sich, an diesem Abend jemanden zu sehen oder zu empfangen.