20. KAPITEL
Mit seinem guten Braunen machte Theo am Nachmittag einen Spazierritt, um die Gegend ein wenig zu erkunden und sich abzulenken. Die Luft war frisch, klar und kühlte seine heiße Stirn. Aber dunkle Gedanken lagen wie eine schwere Last auf seiner Seele, und er versuchte, sich über seine zerrissenen Gefühle klar zu werden. Was erwartete er sich, warum war er hier, was sollte diese im Grunde völlig überflüssige Reise bringen? Der Vorwand, seinen ehemaligen Herrn, den Freiherrn von der Trenck, dem er einst als Reitknecht gedient hatte, besuchen zu wollen, schien ihm jetzt allzu fadenscheinig. In Wahrheit hatte er Anna suchen, sie wiedersehen wollen, sie vielleicht davon abhalten, etwas Unsinniges zu tun, das sie später bereute. Aber was ging ihn das überhaupt an? Anna war alt genug, zu wissen, was sie tat. Und wenn sie sich Trenck in den Kopf gesetzt hatte, was sollte er dann noch hier? Und was wollte er von ihr? Die bittere Erkenntnis überkam ihn, welch lächerliche Figur er abgab, wenn sie erfuhr, dass er so dumm gewesen war, ihr nachzureisen. Es war besser, wenn er gleich morgen seine Sachen zusammenpackte und Glatz auf der Stelle verließ. Anna würde gar nicht erfahren, dass er hier gewesen war. Er musste sie endlich vergessen, aus seinem Herzen reißen und aus seinen Träumen verbannen. Gedankenvoll ritt er
in langsamem Schritt weiter, und während ihm die hinter den Wolken hervorbrechende Sonne den Rücken wärmte, lichteten sich seine trüben Gedanken allmählich, und er beschloss, seine Abreise um einen einzigen Tag zu verschieben. Wenn er schon einmal hier war, dann würde er doch noch seinem früheren Herrn, dem armen Trenck, in seiner bitteren Gefangenschaft wenigstens einen einzigen Besuch abstatten. Schließlich war der ehemals so stolze Gardeoffizier ihm lange Jahre durch seine Tapferkeit und seinen Mut, der an Tollkühnheit grenzte, ein Vorbild gewesen. Vielleicht brauchte der so schwer Geprüfte ein wenig Aufmunterung, wollte Neuigkeiten aus Berlin hören. Er musste ihm auch sagen, was so viele dachten: dass der König sich vielleicht gnädig erweisen würde, wenn er seine Fehler einsehen und demütig um Gnade bitten würde. Seufzend sah er zur Festung empor, die sich wie ein finsterer Schatten vor dem Horizont abzeichnete. Morgen war auch noch ein Tag. Er versäumte ja nichts. Er spornte sein Pferd an und ritt in leichtem Trab zum Gasthof zurück.
Mitten in der Bewegung erstarrte der Wärter, seine Hand fiel herab und in sein Gesicht trat Erstaunen, als er wie ein gefällter Baum zu Boden stürzte. Anna sah erschrocken auf. Oberleutnant Schell ließ die schwere Pistole sinken, mit der er Otto einen wuchtigen Hieb versetzt hatte. Er stand bleich und mit angespannter Miene da und starrte auf den am Boden Liegenden. Dann steckte er die Waffe ein. »Das war leider nicht zu vermeiden«, sagte er zu Anna und schien sich gar nicht zu wundern, was sie hier machte. »Du bist Anna, nicht wahr? Trenck hat mir von dir erzählt, von deinen Bemühungen und den Waffen, die du in seine Zelle geschmuggelt hast«, erklärte er hastig, »und dass Prinzessin Amalie dich beauftragt hat, ihm zu helfen. Das
ist wirklich großartig von dir.« Er bückte sich und nahm dem Wärter die Schlüssel vom Gürtel. »Trenck und ich wollten morgen mit einem gefälschten Dokument zusammen fliehen. Aber nun hat sich alles geändert. Es ist etwas Unerwartetes vorgefallen – und jetzt müssen wir ganz schnell handeln.« Er eilte zu Trencks Zelle, in der die schwere Eisentür offen stand. Der Gefangene war gerade dabei, sich seiner schweren Eisenkugel und der Ketten an seinem Fuß zu entledigen.
»Wir sind verraten«, berichtete Schell seinem Freund mit unterdrückter Stimme, »der verrückte Kerl in der Zelle neben dir, der stellt sich nur blöde. Er ist ein Spion und hat anscheinend alle unsere Unterhaltungen mit angehört. Wie er das gemacht hat, weiß ich nicht. Jedenfalls soll ich sofort arretiert werden. Man hat mich gerade gewarnt.«
»Du sollst arretiert werden?« Trenck starrte Schell entgeistert an.
»Ja. Der Kerl hat mich wahrscheinlich angezeigt. Unser Freund Leutnant von Schröder war gestern Abend beim Kommandanten zum Essen eingeladen. Er hörte zufällig von dessen Adjutanten, dass ich von der morgigen Wache abgelöst und arretiert werden soll. Der verdammte Spion habe ihm gemeldet, dass ich dauernd bei dir in der Zelle sei und dich bei irgendwelchen Fluchtplänen unterstütze. Gerade eben hat mir Schröder von der Sache erzählt.«
»Verdammt!« Trenck knirschte wütend mit den Zähnen. »Und was machen wir jetzt?«
»Es ist ja noch nichts verloren.« Schell half Trenck in aller Eile, das letzte Glied der angesägten Ketten von der Eisenkugel zu lösen. »Aber es gibt nur noch die eine Möglichkeit: Wir müssen ihnen zuvorkommen und verschwinden. Gleich – auf der Stelle und so offiziell wie möglich. Ich habe das gefälschte Dokument deiner Überstellung bei mir. Folge mir – wir dürfen keine Minute mehr verlieren. Der Befehl zu meiner Arretierung
ist vielleicht noch nicht ganz durchgedrungen – so haben wir Vorlauf.«
Trenck wälzte in größter Eile den Mauerstein zur Seite, hinter dem er Stiefel und Uniformrock versteckt hatte, entnahm aus einer Höhlung an der Wand sein gespartes Geld und fuhr in seine Kleider. Anna, die wie gelähmt die ganze Szene mit angesehen hatte, beobachtete nun, wie die beiden über den bewusstlosen Wärter stiegen und anscheinend gelassen, und ohne sich umzusehen, davonmarschierten. Aus den Augenwinkeln sah sie, dass Otto, der Wärter, sich rührte und sich langsam aufrappelte. Er würde gleich Alarm geben, und dann kam auch sie nicht mehr aus der Festung hinaus. Sie warf die Perücke fort, entledigte sich in Windeseile ihres Rockes, packte den Besen und schlüpfte im Laufen wieder in ihren grauen Kittel. Dann folgte sie, den Tränen nahe, in verzweifelter Eile den beiden Flüchtigen. Sie fühlte sich übergangen und, was noch schlimmer war, im Stich gelassen. Zum ersten Mal erkannte sie, dass ihr so angebeteter und bewunderter Trenck nur an sich und seinen eigenen Vorteil dachte. Es schien ihm völlig gleichgültig, was jetzt aus ihr und ihrem waghalsigen Befreiungsplan wurde und dass sie sich ihm zuliebe in allergrößter Gefahr befand. Im langen Gang, der die Festungstürme verband, trat den beiden eilig voranschreitenden Männern plötzlich die Schildwache entgegen. Geistesgegenwärtig erklärte Schell der Wache: »Der Gefangene geht mit mir in die Offiziersstube. Rühr dich hier nicht vom Fleck, bis ich ihn zurückbringe.«
Die Schildwache nickte bestätigend, und die beiden setzten ihren Weg fort, gefolgt von der Abstand haltenden Anna. »Am besten gehen wir am Zeughaus vorbei bis zu den Außenwerken«, flüsterte Trenck dem Freund zu. »Dann steigen wir einfach über die Palisaden.«
Schell nickte, vor Erregung bleich wie der Tod. Er war nervös und besaß sichtlich nicht die Kaltblütigkeit seines
Freundes. Zudem war er unsicher, ob sich die Nachricht von seiner Arretierung bereits herumgesprochen hatte und man ihn nicht jeden Augenblick verhaften würde. Nach einigen weiteren zügigen Schritten sahen sie plötzlich den Platzmajor um die Ecke biegen, der ihnen mit seinem Adjutanten mit ernster, ja drohender Miene entgegenkam. Schell erschrak so heftig, dass er in Panik geriet, die Beherrschung verlor, auf die Brustwehr stieg und mit einem Satz heruntersprang. Da der Wall an dieser Stelle nicht besonders hoch war, folgte ihm Trenck, dem gar nichts anderes übrig blieb, auf demselben Weg. Er kam glücklich hinunter. Anna warf den Besen fort. Sie zögerte nur einen kurzen Moment. Würde sie das auch schaffen? Da hörte sie das gellende Alarmsignal, das die ganze Festung zu durchdringen schien. Todesmutig kletterte sie ebenfalls auf die Brustwehr. Dann schloss sie die Augen, fasste sich ein Herz und sprang hinunter. Sie schrie auf, denn an dem jähen Schmerz in ihrem Knöchel spürte sie sofort, dass sie schlecht aufgekommen war. Trenck und Schell, die mit großen Sprüngen davonliefen, sahen sich nicht nach ihr um. Von oben knallten jetzt Schüsse und Schell zuckte in seinem Lauf plötzlich zusammen und blieb zurück. Ein Schuss hatte ihn in die Wade getroffen. Anna, die rasch bei ihm war, half ihm trotz ihres eigenen verstauchten Fußes wieder auf die Beine, und sie humpelten beide, mehr als sie liefen, hinter Trenck her. Als Trenck endlich merkte, dass sein Begleiter nicht schnell genug nachkam, wandte er sich um. »Was ist los? Schneller!«, rief er Schell zu, der keuchend vorwärtsstrebte. »Lauf doch!«
Mit einem wütenden Blick streifte er Anna. »Verschwinde! Warum rennst du uns nach?«, knirschte er zwischen den Zähnen.
Anna antwortete nicht. Tränen schossen ihr in die Augen. Sie sah sich um. Nur die Angst, festgenommen zu werden, ließ sie weiterlaufen.
»Lass doch das Mädchen«, keuchte Schell, der mit verzerrtem Gesicht und blutendem Bein angehumpelt kam. »Sie hat mir geholfen. Eine Kugel hat mich erwischt.« Er blieb stehen, sank heftig atmend zu Boden. »Ich kann nicht mehr. Lauf, rette dich, Trenck! Es tut höllisch weh«, er deutete auf sein blutendes Bein, »flieh allein, ich behindere dich nur. Aber bevor du gehst«, er zog seinen Degen aus der Scheide, »töte mich mit einem guten Stich, damit man mich nicht lebend findet.«
»Unsinn«, widersprach Trenck und sah auf das blutdurchtränkte Hosenbein des Kameraden. »Das sieht nicht allzu schlimm aus. Reiß dich zusammen. Jetzt sind wir doch schon so weit. Den Rest schaffen wir auch noch. Wenn wir draußen sind, ist die Grenze nach Böhmen nicht mehr weit. Ich verbinde dich später. Komm.« Ohne eine Antwort abzuwarten, packte er Schell, der zum Glück schwächlich und von kleiner Statur war, und hievte ihn auf seinen Rücken. Anna folgte ihnen trotz der barschen Zurückweisung. Was hätte sie auch sonst machen sollen? Sie biss die Zähne zusammen, als sie an die Palisaden kamen und ihnen nichts anderes übrig blieb, als sie zu überklettern. Alle drei kamen jedoch glücklich hinüber und befanden sich bald darauf in der ersehnten Freiheit. Über den Feldern dämmerte es bereits, und der abendliche Dunst, der sich langsam über die Landschaft und das Dorf legte, hüllte alles in ein undurchdringliches Licht. Die Wetterlage und der nahe Einbruch der Nacht begünstigten ihr Vorhaben und erschwerten ihre Verfolgung. Da der Boden jedoch eisig und hart gefroren war, kam Trenck, schwer unter seiner Last keuchend, nicht so schnell vorwärts wie gewünscht. Anna, die die Gegend nicht kannte und nicht wusste, wo sie waren, blieb auch jetzt nichts anderes übrig, als bei den Männern zu bleiben. In der diffusen Dämmerung sah das Gelände unter der Schneedecke überall gleich aus. Sie hörten die Festungskanonen feuern, die jedes Mal bei einer Desertion abgeschossen wurden,
um die Bauern und Husaren in den Dörfern zu alarmieren, die sofort die Fluchtwege bewachen sollten. Im Schutz einer mit Raureif bedeckten dichten Buschhecke legte Trenck den verletzten Schell ab, und Anna half ihm, mit dem herausgerissenen Ärmel ihres Arbeitskittels sein Bein zu verbinden. Sie sprachen kein einziges Wort miteinander, bis Trenck den verletzten Schell wieder auf seinen Rücken hob, um weiterzumarschieren.
»Halt! Stehen bleiben!« Wie Gespenster tauchten plötzlich zum Nachsetzen der entflohenen Gefangenen abkommandierte berittene Offiziere aus dem Nebel vor ihnen auf. Die Flüchtigen erschraken. Wohin sich wenden? Mit den Pferden konnten sie nicht mithalten. Trenck ließ seinen Freund Schell zu Boden gleiten und zog rasch seinen Degen. Er würde sich bis zum letzten Atemzug und Blutstropfen verteidigen, dazu war er entschlossen. Und Schell, so hilflos er sich mit seinem verletzten Bein fühlte, tat es ihm nach.
»He, he – nur nicht so eilig, Fritz!«, lachte jetzt einer der Offiziere, und Trenck erkannte in ihm zu seiner großen Erleichterung seinen Freund Leutnant Bart, mit dem er in der Festungszelle früher oft Karten gespielt und getafelt hatte. »Spar deine Kräfte, Bruder!«, rief der Leutnant. »Lauft lieber nach links, dort hinter dem einzelnen Haus ist die böhmische Grenze nicht mehr weit. Dann seid ihr in Sicherheit. Unsere Husaren habe ich eben nach rechts reiten sehen.«
»Danke, Kamerad!«, rief Trenck ihm gerührt nach, als der kleine Trupp drehte und in entgegengesetzter Richtung davonritt. Der Zusammenhalt, die Kameradschaft und das Ehrenwort galten eben doch noch etwas bei den preußischen Offizieren! Er machte sich, Schell wieder auf dem Buckel und Anna im Schlepptau, auf den Weg in die angegebene Richtung. Doch der aufsteigende trübe Nebel war so dicht, dass sie bald die Orientierung verloren. Anna spürte ihren Fuß kaum mehr, nur der dumpfe Schmerz, der sie am sicheren Auftreten hinderte,
wurde nach jedem Schritt schlimmer. Der Kirchturm und die Zitadelle waren bald im dunklen Dunst verschwunden, und auch Trenck hatte das Gefühl, dass sie immer nur im Kreis gingen. Erschöpft ließ er seine Last nach einer Weile sinken und Schell sank mit einem Ächzen zu Boden. Annas Fuß war inzwischen so angeschwollen, dass er fast ihren Stiefel sprengte. Jammernd versuchte sie, ihn zu bewegen. Es gelang ihr nur unter großen Schmerzen. Ihr wurde plötzlich klar, dass sie so nicht mehr lange weiterkonnte. Trenck hatte sie und ihre Schmerzen auf dem Weg einfach ignoriert und sich nur um seinen Freund Schell gekümmert. Nachdem sie sich aber um keinen Preis hatte wegjagen lassen, behandelte er sie nun, als wäre sie Luft. Er schnitt Schell einen knorrigen Stock zurecht, auf den er sich als Gehhilfe stützen konnte.
»Hör mal, mein Freund, du kennst doch die Gegend. Wo fließt denn die Neiße?«, fragte er und versuchte, die schwarze Nacht mit der dichten Wolkendecke, aus der nun auch noch Schneeflocken fielen, mit den Augen zu durchdringen. »Und in welcher Richtung liegt Böhmen?«
Schell, der in der Nähe, in Wünschelburg, eine Zeit lang im Quartier gelegen hatte und ortskundig war, versuchte sich zu konzentrieren. Schließlich wies er in eine ungefähre Richtung, und die drei machten sich durch das beginnende Schneetreiben wieder auf den Weg.
»Es wird uns nichts anderes übrig bleiben, als die Neiße zu überqueren. Dann gehen wir nach Böhmen. Dort sucht uns niemand!«, schrie Trenck durch das Brausen des Windes, als sie endlich den Fluss erreichten. Am Ufer suchte er nach einer Furt, während die anderen an einer geschützten Stelle warteten. Es war sehr schwer, einen Übergang zu finden, aber das Wasser war zum Glück noch nicht gefroren. So konnte man zumindest an einer seicht scheinenden Stelle hinüberwaten. Trenck schulterte wieder die Last des Freundes, doch der gewählte
Übergang trog. Das Wasser war tiefer als erwartet, und Trenck schrie Schell noch rechtzeitig zu: »Halt dich an meinem Zopf fest!«, bevor er in tieferes Wasser geriet und sich nur durch heftige Schwimmbewegungen oben halten konnte. Mit großer Anstrengung erreichte er mit Schell glücklich das andere Ufer. Anna wollte ihnen folgen, doch als das eisige Wasser ihre Füße durchnässte, schien es ihr unmöglich, weiter in die kalte Flut zu steigen. Ihre Zähne klapperten bei der Vorstellung, bis zur Brust in das dunkle, gluckernde und von Eisplatten durchzogene Wasser zu geraten, dessen Wellen vielleicht über ihr zusammenschlagen würden. Sie konnte nicht schwimmen und hatte Angst, die Strömung würde sie mitreißen. Sie sah Trenck nach, der sich mit seinem Kameraden auf dem Rücken im Wasser vorwärtskämpfte. Schell, geschwächt vom Blutverlust und von den nassen Kleidern, die an ihm klebten, hing wie ein lebloser Sack an ihm. Als die beiden das andere Ufer erreicht hatten, schrie ihr Trenck etwas zu, das sie nicht verstand. Es klang wie eine Aufforderung herüberzukommen. Sie schüttelte den Kopf und sah ihm nach, wie er sich, gefolgt von dem auf den Eichenstock gestützten Schell, durch den inzwischen knietiefen Schnee vorankämpfte. Die beiden Schatten wurden kleiner und verloren sich im nebelhaften Dunkeln. Auch die gesamte Umgebung verschwamm durch die tanzenden Schneeflocken langsam in Nacht und Dunst.
Verfroren, mit tauben Gliedern, vor Schmerz und Angst halb besinnungslos, setzte Anna sich in den Schnee. Sie war zu Tode erschöpft, fast erstarrt vor Kälte in ihrem dünnen grauen Kittel. Aber schlimmer noch als alles Ungemach war die Erkenntnis, die bittere Enttäuschung, die sie fühlte. Trenck, ihr schwärmerisch verehrter Held, hatte sie ohne jegliches Bedauern einfach im Stich gelassen! Wichtig war ihm nur gewesen, seinen Kameraden zu retten – sie selbst war mit all ihrer Aufopferung bloß ein lästiges Anhängsel. Tränen stürzten aus
ihren Augen, strömten über ihr Gesicht, froren zu Eiskristallen auf ihren Wangen. Erst nach einer Weile hatte sie sich so weit gefasst, dass sie wieder einen klaren Gedanken fassen konnte. Sie wusste, dass sie weitergehen musste, sich bewegen, um nicht zu erfrieren. Irgendwohin, wo es menschliches Leben gab, ein Haus, ein Feuer, Wärme. Es war ihr jetzt auf einmal ganz egal, ob man sie einsperren würde oder nicht. Nur nicht mehr diese erbarmungslose Kälte in der Einsamkeit ertragen müssen. Aber welche Richtung sollte sie einschlagen, wenn sie nicht über den Fluss konnte? Die Dunkelheit, der schwarze Himmel, aus dem unzählige Schneeflocken fielen, die der Wind verwirbelte, ließen jetzt überhaupt keine Orientierung mehr zu. Hinkend machte sie sich mit ihrem schmerzenden Fuß auf den Weg, doch nach etlichen Metern qualvollen Kämpfens durch den Schnee kam sie wieder an den Fluss und stellte fest, dass sie einfach nur im Kreis gegangen war. Vor den nun stärker fallenden Schneeflocken und dem scharfen Wind suchte sie Schutz unter einer ausladenden Tanne. Sie begann, um Hilfe zu rufen. Vielleicht würde sie eine mitleidige Seele hören. Sie hatte Angst vor dem eisigen Tod, der ihre Glieder schon zu umklammern begann.