22. KAPITEL
Das Schneetreiben war jetzt so dicht geworden, dass Theo kaum mehr die Hand vor Augen sah, als er am Ufer der Neiße immer noch gespannt in die Nacht hinein lauschte. Die hellen, matten Töne waren verstummt, kein Geräusch war zu hören, und der fallende Schnee verschluckte sogar das Stapfen der Pferdehufe. Einen Seufzer ausstoßend, beschloss er aufzugeben und stieg wieder auf sein Pferd. Zweifellos war er einer Sinnestäuschung erlegen. Anna war mit den Flüchtenden sicher schon weit fort. All seine Mühe war vergeblich gewesen – ihre Gefühle galten ja doch einem anderen. Sie würde ihn nie lieben, ganz egal, was er unternahm, und sicher verschwendete sie keinen Gedanken mehr an ihn. Er bedeutete ihr nichts, damit musste er sich abfinden. Es war eine bittere Einsicht, und sie schmerzte ihn immer noch, sosehr er in der vergangenen Zeit versucht hatte, sie zu verdrängen.
Er wendete sein Pferd ein Stück landwärts, doch an einer Tanne mit überhängenden Zweigen erschrak das Tier plötzlich und verharrte wie angewurzelt, bevor es heftig schnaubte. Theos Blick fiel auf ein dunkles Bündel, dessen Umrisse nur schwach zu erkennen waren. Er sprang ab, näherte sich vorsichtig und der Atem stockte ihm. Ein Mensch lag dort, zusammengekauert und reglos. Er hob die Laterne und sah genauer hin. War das … etwa Anna? Der grobe Arbeitskittel, die bäuerlichen Hosen und Schuhe waren ihm fremd, aber das totenbleiche schmale Gesicht, von kurzen dunklen Locken umrahmt, ließ keinen Zweifel zu. Theo rief sie leise an, doch sie blieb mit geschlossenen Augen stumm und reglos liegen. Er kniete sich neben sie und nahm sie in die Arme. Lebte sie überhaupt noch? Er tätschelte ihre Wangen, flüsterte mehrmals ihren Namen. Als keine Reaktion kam, fasste er sie bei den Schultern und versuchte, sie hochzuziehen. »Anna!«, rief er sie eindringlich an. »Anna! Wach auf. Du darfst jetzt nicht schlafen.« Er rieb ihre Hände, die eiskalt und leblos waren. Dann zog er sie an seine Brust, wie um sie mit seinem eigenen Körper zu wärmen und ihr Lebenskraft zu geben. »Wach auf, Anna! Du darfst nicht sterben!« Er begann, sie gröber zu schütteln, ihren Rücken zu massieren, ihre Arme und Beine und ihre Wangen, deren Haut bläulich schimmerte. »Wach auf!«, rief er immer wieder. Er bedeckte ihr Gesicht mit unsinnigen Küssen, als wollte er ihr Leben einhauchen, sie vom Rand des Todes zurückreißen. Und da – plötzlich glaubte er, ein Zucken ihrer Mundwinkel wahrzunehmen, ihrer Lider, die sich halb öffneten, ihn aber nicht zu erkennen schienen.
»Lass mich!«, murmelte sie mit steifen Lippen. »Ich kann nicht weiter!«
Ein Glücksgefühl durchschoss ihn. Sie lebte!
»Oh, Anna! Ich bin da, Theo. Ich helfe dir. Gib nicht auf, bitte. Ich liebe dich, egal was geschieht, was geschehen ist! Du musst leben!« Er umschlang sie mit beiden Armen, drückte sie an sich, als müsse ihr seine eigene Energie Wärme einflößen. »Ich habe dich gefunden. Das ist ein Wink des Schicksals. Mach dir keine Sorgen«, stammelte er in ihr Ohr. »Ich bin bei dir – ich bin für dich da.«
Wie durch ein Wunder regte Anna plötzlich die Glieder, dehnte und streckte sich. Theo betrachtete sie mit Entzücken, als sie langsam die Augen weit öffnete.
»Theo!« Sie starrte ihn so ungläubig an, als sähe sie ihn zum ersten Mal. »Wo … wo bin ich? Was machst du hier?« Ein Zittern durchlief ihren schmalen Körper. »Mir ist so kalt.«
Theo entledigte sich seiner Jacke und legte sie ihr um die Schultern. »Ich bin bei dir, Liebste. Komm, ich bring dich nach Hause – dahin, wo es warm ist und du dich ausruhen kannst.«
Anna schüttelte den Kopf und schob ihn von sich. »Ich muss … ich will …« Sie beendete den Satz nicht. Mühsam versuchte sie aufzustehen, sank aber durch den stechenden Schmerz in ihrem Knöchel und ihre körperliche Schwäche stöhnend wieder auf der eisigen Erde zusammen. Sie wehrte sich nicht mehr, als Theo sie aufhob und sie vor sich auf sein Pferd setzte.
Es war nicht so einfach, den Weg nach Glatz im Schneegestöber zurückzufinden, doch Theos Mut war gestärkt, Hoffnung erfüllte ihn. Er hatte Anna gefunden, lebend. Und er würde sie vor allem schützen, was sie bedrohte. In seine Jacke gehüllt, hielt er sie auf dem Pferd in seinen Armen, dicht an seinen Körper gepresst. Den Kopf an seine Brust gelehnt, überließ sie sich den schwankenden Bewegungen des Pferdekörpers. Dem drohenden Tod durch Erfrieren gerade noch entkommen, verletzt und erschöpft, fühlte sie sich zum ersten Mal im Leben geborgen. Es dauerte gute zwei Stunden, bis sie in langsamem Ritt endlich Glatz erreichten. Theo brachte sie zu seinem Gasthof, weckte die Wirtin und forderte ein weiteres Zimmer. Er kümmerte sich rührend um Anna, brachte sie zu Bett, ließ ihr heiße Milch mit Honig bringen und gewärmte Backsteine unter die Decke legen. Ihre nassen Sachen hängte er zum Trocknen auf und warf den Kittel und die Arbeitshose ins Feuer des Kamins. Dann setzte er sich wie bei einem Kind an den Bettrand und hielt ihre Hand, bis sie einschlief. Als er in der Nacht noch einmal nach ihr sah, waren ihre Wangen vom einsetzenden Fieber hochrot. Sie wälzte sich im Traum unruhig hin und her und murmelte mit aufgesprungenen Lippen mehrmals Trencks Namen. Theo versetzte es jedes Mal einen Stich ins Herz. Sie dachte immer noch an ihn! Schließlich stand er auf und ging mit hängendem Kopf in sein Zimmer. Am nächsten Morgen würde er einen Arzt holen müssen.
fleuron
Sobald Schell wieder einigermaßen bei Kräften war, machten sich Trenck und er von Braunau aus auf den Weg nach Frideck in Oberschlesien. Schells Wunde heilte jedoch schlecht und verursachte ihm ständige Schmerzen. Als dann erneut das Geld ausging, lebten die beiden eine Weile sehr armselig von der Hand in den Mund. An der Grenzstadt zwischen Polen und den österreichischen Staaten wurden sie verhaftet und nach Teschen zurückgebracht. Dort stieß Trenck glücklicherweise auf einen alten Bekannten, den Oberstleutnant Baron Schwarzer, der dort in Garnison lag. Schwarzer war ein gutmütiger Mensch und ließ sich von Trencks abenteuerlicher und unglücklicher Geschichte beeindrucken, die er ihm bei einer Flasche Wein in der Wirtsstube erzählte. Er kannte Trenck als rechtschaffenen Offizier, glaubte ihm sein unverschuldetes Unglück und wusste von seiner hoffnungslosen Liebe zu Prinzessin Amalie. Er hatte Mitleid mit ihm, schenkte ihm großzügig vier Dukaten und gab ihm sogar noch seine eigenen Pferde mit auf den Weg. So ausgerüstet zogen die beiden Deserteure weiter, bis die Dukaten aufgebraucht waren. Da sie auf ihrer unsteten Wanderschaft mit ihren Ausgaben nun wieder mehr knausern mussten, verkauften Schell und Trenck ihre Uniformen und tauschten sie gegen graue Handwerkskittel ein. Allerdings verstärkte diese Kleidung ihren verwahrlosten Eindruck und man hielt sie überall für umherziehende Streuner.
»He, holla, die Herren!« Die Stimme des Mannes in preußischer Uniform, der gerade in das einfache Wirtshaus getreten war, in dem Schell und Trenck stumpfsinnig auf der Holzbank saßen und sich zu zweit eine magere Suppe teilten, war betont fröhlich. »Darf ich Ihnen einen Humpen Bier spendieren?«
Trenck nickte und stieß Schell mit einem Augenzwinkern in die Rippen. Schon mehrfach hatten preußische oder sächsische Soldatenwerber sie angesprochen und wollten sie auf Teufel komm raus für die Armee gewinnen. Besonders Trencks auffallend hoher und muskulöser Körperbau hatte es den Werbern angetan. Der Beginn der Komödie war immer derselbe, und den beiden Freunden war es sehr recht, sie bis zu einem gewissen Punkt mitzuspielen.
»Gerne, der Herr«, sagte Trenck, sich dumm stellend, »aber nur, wenn Sie ihn bezahlen.«
»Wirtin, zwei Humpen!«, rief der Unteroffizier durch die Gaststube. Etwas leiser, zu Trenck gewandt, sagte er: »Würden Sie mir den Gefallen tun, einmal aufzustehen?«
Trenck folgte seiner Aufforderung und erhob sich zu voller Größe, mit der er den Unteroffizier um einen ganzen Kopf überragte.
»Potz Sapperlot!«, staunte der mit freudigem Grinsen. »Sie sind mir gerade der Richtige. So etwas sucht man dringend in der preußischen Armee. Sie könnten Karriere machen, Mann!« Er musterte den breitschultrigen Trenck mit Wohlgefallen. Dann glitt sein Blick zu Schell hinüber. »Ihr Freund ist ja eher etwas schmächtig. Trotzdem – ich sage Euch, Ihr könntet alle beide in der preußischen Armee Euer Glück machen.«
Schell grinste spöttisch. »Wie freundlich von Ihnen, Herr Offizier. Aber das müssten wir uns erst mal gründlich überlegen. Was zahlt man da denn so?«
»Nicht schlecht, sage ich Euch, nicht schlecht«, erwiderte der Werber. »Aber darüber reden wir später. Sprecht, was wollt Ihr bestellen? Einen saftigen Braten? Esst Euch erst einmal satt, dann sprechen wir über die Einzelheiten. Ich sage nur so viel: Ihr könntet einen ordentlichen Posten in der preußischen Armee haben. Schlagt ein – dann hole ich gleich den Vertrag.«
Schell wehrte ab. »Nur keine Eile, Herr! Mit leerem Magen schreibt sich’s schlecht.« Er grinste zu Trenck hinüber.
»Ihr habt recht. He, Bedienung«, der Werber winkte dem Wirt zu, der abwartend an der Theke stand, »tischt den beiden Herren auf, was die Küche hergibt. Braten, Soße und Knödel. Und schafft genug Wein herbei.«
Schon bald war der Tisch mit den besten Speisen gedeckt. Schell und Trenck schmausten nach Herzenslust und hörten sich dabei den Vortrag des Werbers mit allen Vorzügen des Soldatenlebens an. Der Mann hatte jetzt auch Branntwein kommen lassen und winkte mit dem Vertrag, unter den sie ganz einfach nur ein Kreuzchen setzen sollten, denn er ging nicht davon aus, dass die beiden armen Burschen schreiben konnten. Er rieb sich die Hände und war sich seiner Sache schon ganz sicher. »Trinkt noch ein Glas«, großzügig schenkte er den Branntwein in die Gläser, »was haltet Ihr davon, gleich mit mir mitzukommen? Ich könnte Euch einweisen, damit Ihr von Anfang an Bescheid wisst. Ihr solltet Eure Chance nutzen.«
Trenck und Schell sahen einander vielsagend an, jeder kannte inzwischen seine Rolle. Wie oft hatten sie in letzter Zeit schon die naiven Bauerngimpel gespielt und sich auf Kosten der preußischen Werber satt gegessen. Überall traf man diese Unteroffiziere jetzt in den Wirtshäusern und Kneipen, wo sie auf junge Burschen lauerten, die ihnen stattlich genug erschienen, um sie nach dem Defizit der letzten beiden Kriege in die preußische Armee einzugliedern. Jedes Lockmittel wurde dabei angewandt, denn Preußen brauchte dringend neue Soldaten. Es war wirklich ganz einfach, da den Dummen zu spielen, Essen und Trinken zu nutzen und dann auf Nimmerwiedersehen zu verschwinden.
»Nun – erklären Sie uns den Vertrag noch einmal ganz genau. Wir können ja nicht lesen.« Trenck grinste verschwörerisch zu Schell hinüber.
»Sold, gute Verpflegung und Unterkunft! Genügt Euch das nicht? Dann könntet Ihr Euch hochdienen.« Während der Unteroffizier weitschweifig das preußische Soldatentum und die Aufstiegsmöglichkeiten in der Armee rühmte, nickten Schell und Trenck beifällig und sprachen dabei eifrig dem Essen und dem Wein zu. Erst als die Zeche bezahlt war und der Werber ihnen den Vertrag zur Unterschrift unter die Nase hielt, schob Schell ihn zurück und gähnte herzhaft. »Es ist spät geworden, mein Herr. Seien Sie uns nicht böse, wenn wir uns erst morgen entscheiden. Warten Sie pünktlich um sieben Uhr auf uns – hier in der Wirtsstube.«
Mit dieser Versicherung wollte sich der Werber aber nicht zufriedengeben. Er disputierte eifrig, erregte sich, und es wäre beinahe zu einem Streit gekommen. Trenck beschwichtigte den misstrauischen Mann und versprach ihm mit Handschlag, dass sie morgen auch gleich mit ihm gehen und sofort in die preußische Armee eintreten würden.
Am nächsten Morgen suchte der Geprellte die beiden jedoch vergeblich. Der Wirt erklärte ihm, sie seien schon in der Dämmerung zu Pferd aufgebrochen und hätten ihm gesagt, dass der preußische Unteroffizier die gesamte Rechnung und auch die Zimmer bezahle.
»Verflixt und zugenäht!«, fluchte dieser wütend. »Dass mir die Kerle nun doch noch durch die Lappen gegangen sind. Fressen mir die Haare vom Kopf und halten mich auch noch zum Narren. Betrüger sind das, Schmarotzer!« Grummelnd öffnete er seinen Beutel und beglich die Schulden. »Aber wartet nur! Euch werde ich mir schon noch vorknöpfen! Irgendwo lauft Ihr mir wieder über den Weg.« Er sprang auf sein Pferd, um die beiden zu verfolgen.
Tatsächlich traf er auf sie am Rande eines Weihers, an dem sie sich erfrischten. Zuerst stürzte er sich auf Schell und verwundete den Überraschten am Arm, ehe Trenck ihn mit ein paar gezielten Schlägen mit seinem Degen außer Gefecht setzte. Dem Werber, der wohl oder übel einsehen musste, dass er es hier wohl doch nicht mit gewöhnlichen Kerlen zu tun hatte, blieb nun nichts anderes übrig, als sein Heil in der Flucht zu suchen. Trenck verband die Stichwunde des Freundes, die nicht allzu gefährlich aussah. Doch Schell klagte jetzt über Schmerzen in Arm und Bein zugleich und darüber, dass er nun die Zügel seines Pferdes nicht einmal mehr richtig halten und schlecht galoppieren könne. Nun war guter Rat teuer. Sie hätten einen Arzt gebraucht, doch der wollte wie üblich im Voraus bezahlt sein. So setzten Trenck und Schell ihren Ritt in langsamem Schritt fort. Sie hatten sich Elbing als Ziel gesetzt, denn dort kannte Trenck jemanden, der ihnen vielleicht weiterhelfen würde. Doch um ohne Verzögerung und Umwege dorthin zu kommen, fehlte ihnen eine genaue Landkarte. In einem Dorf am Weg in der Nähe von Thorn fragten sie in einem Laden danach und stellten sich der freundlichen Inhaberin als Reisende nach Russland vor.
Die ältere Frau betrachtete die Fremden mit Interesse und beschied ihnen, sie hätte daheim Karten genug, die sie sich gerne ansehen könnten. Ihr Sohn studiere, er sei jetzt aber bei den Österreichern Reiter geworden. Leider habe sie schon lange nichts mehr von ihm gehört. Sie sah Trenck eindringlich ins Gesicht und sagte plötzlich: »Mein Herr, ich glaubte vorhin fast, als ich Sie sah, mein Sohn stünde vor mir. Er sieht Ihnen sehr ähnlich, hat genauso blaue Augen wie Sie.« Tränen verdunkelten ihren Blick bei diesen Worten.
Geistesgegenwärtig fragte Trenck: »In welchem Regiment dient er denn, gute Frau?«
»Oh, in Hohenems! Aber vielleicht lebt er ja schon gar nicht mehr!« Sie wischte eine Träne fort, die ihr die Wange herabrollte. »Und ich weiß gar nichts davon.«
»Es ist gut möglich, dass ich ihn kenne«, begann Trenck nachdenklich. »Hat er nicht blondes Haar und ein – rundes Gesicht?«
»Ja, genauso ist es!« Die Augen der Frau leuchteten auf.
»Und wie ist sein Name?«
»Hans«, gab die Frau zurück. Hoffnung leuchtete aus ihren Augen. »Hans Kupfer.«
»Tatsächlich – der Hans Kupfer?«, log Trenck, dem die Frau leidtat. »Dann war er mein Kamerad!«
»Oh, wie wunderbar! Was für ein Zufall. Sie müssen mir alles erzählen, was Sie über ihn wissen.« Überglücklich fiel die Frau ihm um den Hals und brach in Tränen aus. Damit Trenck nun auch all ihre Fragen nach dem verschollenen Sohn beantworten konnte, lud sie die beiden Fremden gleich in ihr Haus ein und bewirtete sie mit allem, was die Küche hergab. Sie sorgte auch dafür, dass Schells Verwundung von einem Arzt behandelt wurde, und bot ihm an, er könne so lange bei ihr bleiben, bis er ganz genesen sei.
Trenck beteuerte, er müsse leider fort, wäre aber sehr erleichtert, wenn sein Freund gute Pflege erhielte, bis er wieder gesund sei und mit ihm weiterziehen könne. Er versprach, ihr bald Geld zu schicken, um ihre Unkosten zu begleichen.
Am nächsten Tag setzte er, um eine Sorge leichter, ohne Schell seinen Weg nach Marienburg und Elbing fort. Dort hoffte er, seinen ehemaligen Instrukteur Brodowsky zu finden, Hauptmann bei der polnischen Kronarmee. Und tatsächlich traf er den guten Brodowsky in der Garnison an. Dieser erkannte ihn sofort, umarmte ihn voller Freude und bot ihm Quartier in seinem Haus an. Nun war Trenck für eine Weile in Sicherheit, und es gelang ihm auch, sich über den Hauptmann mit seiner Mutter, der Gräfin L’Ostange, in Verbindung zu setzen. Die Gräfin machte sich sogleich auf den Weg nach Elbing, um ihren in Not geratenen Sohn zu besuchen und ihm zu helfen. Gerührt fielen sich Mutter und Sohn in die Arme.
»Fritz, wie konntest du den König nur so verstimmen«, jammerte die Gräfin. »Dein Eigensinn hat dich ins Unglück und in den Ruin getrieben. Was hättest du für eine Zukunft haben können …«
»Das Schicksal hat mich ungerechterweise bestraft, Mutter!«, versicherte ihr Trenck. »Ich schwöre Ihnen, dass ich nichts getan habe, um eine solche Katastrophe heraufzubeschwören. Der König ist falschen Einflüsterungen meiner neidischen Kameraden erlegen. Aber vielleicht war auch der wirkliche Grund meine Liebe zu seiner Schwester, Prinzessin Amalie. Er sah unsere Beziehung als eine persönliche Beleidung seiner königlichen Ehre an.«
Die Gräfin nickte sorgenvoll. »Eine preußische Prinzessin! Warum musste es denn auch ausgerechnet sie sein, Fritz? Du hättest dein heißes Blut besser im Zaum halten und um Gnade bitten sollen. Man sagt, der König sei außer sich vor Zorn über dich. Er nennt dich einen Schandbuben und Landesverräter.«
»Um Gnade bitten – wenn ich nichts getan habe, was ich mir vorwerfen könnte?«, erregte sich Trenck mit dem alten Feuer. »Wie soll ich mich gegen all die unwahren Schmähungen wehren, Frau Mutter? Ich dachte immer, der König kennt mein Herz und liest darin. Doch wahrscheinlich habe ich mich getäuscht.«
»Nimm dich auch in Zukunft vor König Friedrich in Acht«, warnte die Gräfin und strich ihm mit mütterlicher Zärtlichkeit übers Gesicht. »Man sagt, er sei rachsüchtig. Hüte dich, preußisches Gebiet zu betreten. Man wird nie aufhören, dich zu verfolgen. Das …«, sie seufzte, »hat mir Prinzessin Amalie persönlich in einem Brief geschrieben. Und«, sie zögerte, »ich soll dir das geben und dir sagen, dass sie dich immer noch über alles liebt.«
»Ist das wahr?« Trenck griff nach dem Stapel Briefe in der schön geschwungenen Schrift Amalies, den ihm die Mutter in die Hand drückte. Sein Herz schlug schneller.
»So wahr ich hier stehe«, versicherte ihm die Gräfin. »Prinzessin Amalie hat nach deinem Ausbruch aus dem Kerker überall Nachforschungen über dich angestellt. Sie … sie möchte dich unbedingt sehen, dich sprechen. Weil sie dir etwas Wichtiges zu sagen habe. Hier«, sie drückte ihm noch ein unscheinbares verschnürtes Päckchen in die Hand, »auch das ist von ihr. Für dich.«
»Ach«, seufzte Trenck. »Ich habe schon befürchtet, dass sie mich inzwischen vergessen hat.« Er steckte das Päckchen nachlässig in seine Tasche. »Unsere einstigen Träume von einem gemeinsamen Leben waren eine Schimäre. Es ist vorbei. Ich habe Amalie zuletzt so viele Briefe geschrieben. Und nie eine Antwort erhalten. Wie soll ich sie treffen können? Ich darf preußischen Boden nicht mehr betreten, ohne wieder im Gefängnis zu landen.«
»Vielleicht hat man dir ihre Briefe vorenthalten?«
Trenck seufzte tief auf. »Ja, so muss es gewesen sein.«
»Hier, mein Sohn«, die Mutter drückte ihm ein ledernes Portefeuille in die Hand, »das ist von mir. Mehr als tausend Taler kann ich dir nicht geben. Und nimm das – für den Notfall«, sie nestelte an der Kette mit dem Brillantkreuz, die sie um den Hals trug, »vielleicht wirst du sie einmal brauchen.«
»Ich weiß nicht, wie ich Ihnen danken soll, Frau Mutter!« Trenck umarmte sie gerührt. »Sie haben mir sehr geholfen. Ich hoffe, ich kann es Ihnen eines Tages vergelten.«
»Und noch etwas, Fritz«, die Mutter besann sich. »Prinzessin Amalie ist Äbtissin im Kloster Quedlinburg. Sie kann dort ungehindert ihre Korrespondenz empfangen. Du solltest ihr dorthin schreiben.«
»Nach Quedlinburg also.« Trenck nickte gedankenvoll und riss hastig den neuesten Brief Amalies auf. Die Worte sprangen ihm in die Augen, und ihm war, als höre er ihre Stimme.
»Geliebter! Ich sehne mich so sehr nach Dir. Dein Unglück ist auch meines, und es lässt mich verzweifeln. Ich weiß nichts von Dir – nicht einmal, ob Du überhaupt noch lebst. Dabei hätte ich Dir so viel zu sagen. Dir ein Geheimnis ins Ohr zu flüstern, das nur uns beide angeht. Ich wage nicht, es Dir zu schreiben, da ich den Zorn Friedrichs fürchte.
Wenn ich Dich doch nur noch einmal umarmen könnte, meinen Kopf an Deine Brust betten. Ich fühle mich wie eine Blume, die welkt und langsam vertrocknet. Nur mein Herz begehrt immer noch auf, es weiß, dass es nie aufhören wird, für Dich zu schlagen. Ich werde Dich lieben, solange ich lebe.
Alles habe ich versucht, um meinen Bruder milder zu stimmen. Vergeblich, sein Hass auf Dich wird immer größer.
Ich liebe Dich – für immer Deine Amalie
Trenck ließ den Brief sinken. »Ein Geheimnis, das nur uns beide angeht …« Seine Mundwinkel zitterten, und mit bebenden Schultern wandte er der Mutter den Rücken. Als er sich wieder gefasst hatte, klang seine Stimme unsicher. »Gott beschütze Sie, Mutter!«, sagte er tief gerührt, »wer weiß, wann wir uns wiedersehen und wie meine Zukunft aussieht. Aber ich werde Ihnen regelmäßig schreiben und Sie auf dem Laufenden halten. Grüßen Sie mir meine Geschwister, besonders Henriette, von Herzen.«
Die Mutter, die jetzt auch die Tränen nicht mehr zurückhalten konnte, segnete ihn, wandte sich um und stieg in die wartende Kutsche. Sie wollte sich nicht länger als unbedingt notwendig in Elbing aufhalten, um kein Aufsehen zu erregen.
Trenck kehrte in sein Quartier zurück und verstaute Amalies Briefe sorgfältig in seinem Gepäck. Ein Geheimnis – was mochte das sein? Heute Abend vor dem Schlafengehen würde er einen nach dem anderen ihrer Briefe in Ruhe lesen, auch wenn ihm die Erinnerung wehtat. Beinahe hätte er darüber das verschnürte unscheinbare Päckchen vergessen. Als er das grobe Papier der Umhüllung löste, staunte er nicht schlecht. Eine silbern blitzende Schatulle kam zum Vorschein, bis zum Rand gefüllt mit Dukaten und Florentinern. Ganz obenauf lag als Krönung das goldgerahmte und fein gemalte Porträt Amalies, das ihn zärtlich ansah. Er drückte es an seine Lippen und bedeckte es mit Küssen. Die Sehnsucht stieg mit Macht in ihm auf und überflutete sein ganzes Sein. Wenn er sie doch nur noch einmal in den Armen halten, ihre liebe, melodische Stimme hören, in ihre seelenvollen blauen Augen blicken könnte! Wie von einem Krampf geschüttelt, warf er sich der Länge nach auf sein Bett, drückte das verzerrte Gesicht in die Kissen und erstickte seinen Seelenschmerz schluchzend in den weichen Daunen.
Am nächsten Morgen stattete Trenck sich standesgemäß mit einer neuen Uniform aus und mit allem, was dazugehörte, und stellte einen Bediensteten ein. Er löste den armen Schell aus, der von der Mutter des erfundenen Kameraden sorgfältig gepflegt worden war, und beschenkte die gute Frau großzügig. Als auch Schell neu eingekleidet und gute Pferde angeschafft waren, beschlossen die beiden mit frischem Mut, über Danzig nach Wien zu reisen. Trenck hatte sich jetzt doch zu dem Entschluss durchgerungen, in Wien seinen berühmten Vetter zu treffen. Der Pandur galt als vermögend und einflussreich. Wie mochte es ihm inzwischen gehen? Man sagte, er sei krank, dem Tode nahe. Aber diese Nachricht war schon so oft verbreitet worden. Mit gutem Grund konnte er sich nach all dem, was ihm in Preußen widerfahren war, jetzt nach ihm erkundigen.
Als die beiden Freunde in Wien eintrafen und am Wiener Hof nach dem Pandurenoberst fragten, sah man sie mit seltsamer Miene an. »Wer seid Ihr?«
Trenck erklärte, er sei ein enger Verwandter des Panduren und sein schriftlich eingesetzter Erbe. Ein Abgesandter des Prinzen Karl gab ihnen zu verstehen, sie sollten sich am besten mit dem Herrn von Leber, seinem Agenten, in Verbindung setzen. »Ihr Herr Vetter«, setzte er maliziös hinzu, »ist nämlich leider in einen bösen Revisionsprozess verwickelt. Er sitzt im Gefängnis des Arsenals in Arrest, und es steht nicht gut um ihn, ebenso wenig um seine Gesundheit.«
Trenck besorgte sich mithilfe des Agenten auf der Stelle die Prozessakten. Die Ehre der Familie gebot, dass er ihm beistand, und er sagte sich, es sei seine Pflicht, ihm in dieser Sache zu helfen. Er stieß in den Akten auf viele Ungereimtheiten, falsche Eide, und ihm wurde klar, dass die Feinde des Panduren es nur auf sein Geld abgesehen hatten. Die Kaiserin, die ihm eine Audienz gewährte, sagte, Franz von der Trenck solle um Gnade bitten, dann käme er frei. Doch Trenck zweifelte daran, dass sein hochmütiger Vetter das tun würde. Es war schon ein wenig dämmrig, als er sich wieder einmal aufmachte, seinen Vetter im Gefängnis zu besuchen. Als er den Hof zum Arsenal überschritt, merkte er gleich, dass ihm zwei Herren folgten. Sie schimpften auffallend hinter ihm her und schienen Händel zu suchen. Anscheinend kannten sie seinen Namen, denn sie riefen ihm Beleidigungen nach. Trenck ging nicht darauf ein, doch als sie näher kamen und er sich überrascht umwandte, spürte er plötzlich einen schmerzhaften Degenstich auf der linken Brustseite. Er stieß einen lauten Schrei aus, ließ die Akten zu Boden fallen und die beiden Männer liefen davon. Trenck wollte nach seinem Degen greifen und ihnen nachsetzen, doch der Schmerz lähmte seine Hand. Er tastete nach seiner Verletzung und sah, dass Blut seine Jacke tränkte. Sollte sich hier in Wien, wo ihn ein böser Dämon zu verfolgen schien, sein Schicksal vollenden? Mit letzter Kraft schrie er um Hilfe.