23. KAPITEL
Am nächsten Morgen war Annas Fieber glücklicherweise gefallen, und sie bestand darauf aufzustehen. Ein wenig schwach war sie noch auf den Beinen, als sie Theo in der Wirtsstube gegenübersaß. »Ich danke dir so sehr, Theo«, begann sie, nachdem sie ihren ganzen Mut zusammengenommen hatte, »dass du mir noch in letzter Minute das Leben gerettet hast. Es hing wohl an einem seidenen Faden und ich hatte schon aufgegeben.« Sie suchte nach Worten, um auszudrücken, was sie fühlte. »Ich habe eine große Dummheit gemacht, das sehe ich erst jetzt ein. Aber ich wollte Trenck in die Freiheit verhelfen und …«
»Ich weiß!«, unterbrach Theo sie barsch. »Du brauchst mir das nicht noch einmal zu erklären.« Er sah an ihr vorbei. »Trenck, Trenck, Trenck! Immer nur er. Ich kann es schon nicht mehr hören. Er geht dir wohl immer noch nicht aus dem Sinn.«
»Nein, das ist nicht wahr«, versicherte ihm Anna hastig, »alles hat sich geändert. Vor allem meine Gefühle für ihn. Vor ein paar Tagen war ich noch wie besessen von dem Gedanken, ihm helfen zu müssen, so wie er auch mir damals geholfen hat. Aber jetzt ist mir plötzlich klar geworden, wie dumm das war. Dass er meine Hilfe gar nicht wollte.« Sie versuchte, Theo in die Augen zu sehen, doch er wich ihrem Blick aus. »Diese … einseitige Liebe hat mich lange Zeit beherrscht. Aber sie war nur eine Illusion, die ganz plötzlich wie eine Seifenblase zerplatzt ist.«
Theo sah nicht auf. Er strich sich eine Scheibe Brot und nahm einen Schluck Milchkaffee. »Eine Illusion also«, sagte er nach einer Weile spöttisch. »Du hast recht, Liebe ist vielleicht nur eine Illusion. Aber das Kind, das du von ihm hast, ist es nicht.«
Anna zögerte kurz, doch dann schüttelte sie den Kopf. »Friederike ist nicht von ihm.« Es fiel ihr schwer weiterzusprechen und ihre Stimme wurde leise und brüchig. »Ich liebe sie, obwohl ich nicht weiß, wer ihr Vater ist.« Sie holte tief Luft. »Männer haben mich in der Schänke, in der ich damals arbeitete, vergewaltigt …« Tränen traten in ihre Augen. »Ich war verzweifelt und habe keinen anderen Ausweg gesehen, als mich bei den Soldaten zu melden.«
Theo blieb stumm. Er schob die Kaffeetasse von sich und sah sie mit einem schwer zu deutenden Ausdruck an. Glaubte er ihr etwa nicht? Anna fuhr hastig fort: »Ich weiß, dass ich dich vielleicht enttäuscht habe, Theo. Aber ohne dich wäre ich da unten erfroren. Seitdem denke ich ganz anders. Ich habe schon beim letzten Mal, als wir uns trafen, gespürt, was du mir bedeutest. Und jetzt hast du mich nicht nur gerettet, sondern auch vor einem Irrtum bewahrt. Mir die Augen geöffnet. Dafür bin ich dir so unendlich dankbar.«
»Spar dir deine Dankesreden. Ich will sie nicht hören.« Theo sprang auf und ging unter den neugierigen Blicken der Schankmagd ein paar Schritte unruhig in der Wirtsstube auf und ab. »Lass uns lieber überlegen, was wir jetzt am besten tun können.« Er setzte sich wieder neben sie und fuhr mit gesenkter Stimme fort: »Du bist noch lange nicht außer Gefahr. Im Gegenteil. Wenn man dich hier findet, wird man dich einsperren. Und so schnell wirst du dann nicht aus dem Gefängnis herauskommen. Besonders wenn man entdeckt, dass du dich unter Vorspiegelung falscher Tatsachen nicht nur in die Armee, sondern auch in die Festung eingeschlichen hast. Dass du eine Frau bist. Mit all dem hast du dich vor dem Gesetz schuldig gemacht. Es bleibt nur eins: Du musst von hier fort, bevor man dich aufspürt. Am besten über die Grenze. Wohin, das ist allerdings die große Frage. Kennst du irgendjemanden, der dich beherbergen würde?«
Anna senkte den Kopf. Nach einer Weile sagte sie leise, fast stockend, als wolle es ihr nicht recht über die Lippen: »Ich habe niemanden.« Sie sah Theo fest an. »Trenck hat mir im Gefängnis erzählt, dass er nach Wien zu seinem Vetter und in kaiserliche Dienste treten will. Er … er hat mir angeboten, dass ich ihm in Wien den Haushalt führen könnte, wenn ich nicht wüsste, wohin. Und dass ich meine kleine Tochter mitbringen darf. Es wäre die einzige Möglichkeit für mich, mein Kind zu mir zu holen.« Sie seufzte tief auf. »Aber ich denke, es ist unsicher, ob er überhaupt bis nach Wien kommen wird.«
Theo schluckte bei ihren Worten, doch er versuchte, sich nichts anmerken zu lassen. Den Haushalt führen, dachte er, so kann man das auch nennen. »Gut, dann werde ich dich nach Wien bringen«, beschloss er. »Unterwegs geben wir dich weiter als meinen Burschen aus. Mach dich fertig. Wir müssen so schnell wie möglich los, noch heute. Ich werde dir ein Pferd besorgen. Und geeignete Kleidung.«
»Aber ich«, Anna zögerte, »ich möchte eigentlich gar nicht nach Wien. Gibt es denn keine andere Lösung?« Sie sah Theo gerade in die Augen, die fest auf ihr ruhten und ihr keine Antwort auf ihre Frage gaben. »Ich würde vielleicht lieber …«, sie ergriff seine Hand, »bei dir bleiben. Weißt du noch? Du hast mir einmal eine Frage gestellt. Ob ich dich heiraten will. Vielleicht habe ich erst jetzt richtig darüber nachgedacht, gespürt, dass …«
»Das ist lange her«, erwiderte Theo mit einem müden Ausdruck. »Ich dachte damals, dass ich dir etwas bedeute.«
»Damals!« Anna betonte das Wort. »Aber seitdem ist viel Zeit vergangen. Meine Gefühle haben sich verändert. Du bedeutest mir auf einmal so viel. Ich …« Sie wusste nicht, wie sie fortfahren sollte. Wie sollte sie ihm erklären, was ihr erst jetzt klar wurde? Dass sie jahrelang einem Phantom, einer fixen Idee nachgejagt hatte? Dass ihr Idol plötzlich von seinem Sockel gestürzt war und in Scherben vor ihren Füßen lag? Trenck hatte sie schmählich im Stich gelassen, um seinen Kameraden Schell und sein eigenes Leben zu retten. Und wie sollte sie Theo sagen, was sie gestern gespürt hatte, als sie an seiner Brust und in seinen Armen gelegen hatte? Als er sie durch seine Küsse, seine Worte wieder zum Leben erwecken wollte? All das war noch so neu für sie, dass sie nicht wusste, wie sie es überhaupt in Worte fassen sollte. Würde Theo ihr glauben, wenn sie ihm sagte, dass er es war, den sie liebte, und kein anderer? »Ich …«, begann sie erneut, doch der kühle Ausdruck in seinem Gesicht entmutigte sie. War sie denn die ganze Zeit blind gewesen? Sie betrachtete Theo auf einmal mit ganz anderen Augen. Sein Gesicht mit den härter gewordenen Zügen zeigte vielleicht nicht mehr die gleiche unbeschwerte Heiterkeit wie in früheren Tagen, aber in seinen vertrauenerweckenden dunklen Augen lagen Verlässlichkeit und Mut. Nur um seinen Mund, der sie gestern noch so sehnsüchtig geküsst hatte, lag jetzt ein beinahe sarkastischer Zug.
Theo fühlte sich unbehaglich bei der Art, wie Anna ihn ansah. Vermutlich versuchte sie ihm etwas vorzuspielen, um ihre Dankbarkeit auszudrücken. Gestern hatte er sich weich gezeigt, ihr ohne es zu wollen einen Teil seiner Seele geöffnet. Seine lang unterdrückte Liebe war aus ihm herausgebrochen, als er dachte, Anna endgültig verloren zu haben. Aber als er dann an ihrem Bett gesessen hatte und sie den Namen Trencks flüsterte, hatte ihn das wieder ernüchtert. Er war nur zweite Wahl, sie träumte immer noch von dem stolzen Freiherrn, der jetzt sein größter Rivale geworden war. Ein für alle Mal musste er jetzt aufwachen und der Realität ins Auge sehen. »Geh zu ihm«, sagte er kurz. »Geh zu Trenck nach Wien. Das wird das Beste sein. Ich begleite dich.«
Anna senkte traurig den Kopf.
fleuron
Zum Glück hatten die Prozessakten, die Trenck unter der Uniformjacke trug, den tödlichen Stich aufgehalten und ihm nur eine kleine Wunde zugefügt. Die Wache, vom Tumult und Geschrei angezogen, war rasch herbeigeeilt. Ein Regimentsoffizier nahm Trenck, der laut protestierte und behauptete, hinterrücks angegriffen und verletzt worden zu sein, in Arrest. Man beschuldigte ihn, Streit mit zwei Offizieren der kaiserlichen Armee angefangen zu haben, ohne ihm zu glauben, dass die Offiziere ihn in fremdem Auftrag heimtückisch in eine andere Welt schicken wollten.
Als er nach zwei Tagen Arrest entlassen wurde, erhielt er gleich Besuch von den beiden Leutnants, die Satisfaktion im Duell forderten. Trenck nahm an, doch man hinterbrachte ihm, dass sie im Ruf stünden, hervorragende Fechter zu sein, und täglich im Hof des Arsenals übten. Trenck begab sich sofort ins Gefängnis zu seinem Vetter, den er täglich besuchte, um sich um seinen Prozess zu kümmern, den er als eine Familienangelegenheit ansah. Er erzählte ihm den Vorgang und schloss mit den Worten: »Vetter Franz, ich habe bisher noch keinen Groschen von Ihnen erhalten, und ich verlange auch nichts. Aber in dieser schlimmen Situation müssen Sie mir hundert Dukaten leihen. Wenn einer der Offiziere auf dem Platz bleibt, muss ich fliehen.«
Der Pandur lachte höhnisch auf. »Hundert Dukaten? Sie sind wohl verrückt geworden, lieber Vetter! Was kümmert es mich, dass Sie Händel angefangen haben? Ich mische mich nicht in Ihre Angelegenheiten ein, auch wenn wir verwandt sind. Und ich werde mich hüten, Ihnen mit meinem Geld zu helfen.«
Trenck sah ihn erstaunt an. Dann verschloss sich sein Gesicht. Diese Knausrigkeit hatte er von dem reichen Pandurenoberst nicht erwartet, der ihn doch als einzigen Erben seines riesigen Vermögens eingesetzt hatte. Anscheinend kam jetzt sein wahrer Charakter zum Vorschein, der genauso düster war wie sein Ruf. Ohne ein weiteres Wort erhob er sich, drehte sich auf dem Absatz um und kehrte ihm den Rücken.
»Aber keine Sorge, Ihr Begräbnis würde ich schon bezahlen!«, rief ihm der Pandur hämisch lachend durch den Gang nach, als Trenck beleidigt und halb verzweifelt das Gefängnis verließ. Erst jetzt wurde ihm bewusst, wie knausrig und böse der Mann war, dessen Fürsprecher er am Hof der Kaiserin werden wollte. Wozu hatte er sich mit einem Advokaten wegen des anstehenden Revisionsprozesses beraten und mit seiner Intelligenz und Beharrlichkeit alle Hebel in Bewegung gesetzt, damit der Vetter freikam? Und so dankte er es ihm nun! Irgendwie musste er jetzt auf andere Art mit der Situation fertigwerden. Wie immer würde sich schon ein Weg für ihn finden.
Als er auf dem vorbestimmten Duellplatz erschien, fand er schon ein halbes Dutzend Offiziere der Garnison vor, die lachend Wetten über den Ausgang des Duells abschlossen. Er stellte sich seinem Kontrahenten entgegen, und der erste Offizier hieb wie wild auf ihn ein. Doch Trenck parierte geschickt und verwundete ihn am Arm. Nachdem er auch den zweiten Herausforderer durch eine leichte Wunde besiegt hatte, rief ihm der Sekundant des zweiten, ein gefürchteter Haudegen, kampflustig zu: »Ich würde Sie anders empfangen, wenn Sie es mit mir zu tun hätten!«
»Nur her!«, rief Trenck, der sich gerade warm gefochten hatte. Sein Gegner zog den Degen aus der Scheide und stellte sich zum Kampf. Jetzt ging es wirklich hart auf hart, Schlag folgte auf Schlag. Doch Trenck brachte ihn, da ihm anders nicht beizukommen war, schließlich mit einem raschen Stich in den Unterleib zu Fall. Sein Widersacher sank tödlich getroffen zu Boden. Jetzt hatte niemand mehr Lust zu raufen, die Versammlung löste sich auf und man schaffte den Toten auf einer Bahre fort. Trenck verließ rasch den Duellplatz, bevor man ihm etwas anhaben konnte. Jetzt musste er fliehen, möglichst rasch eine Unterkunft finden, in der man ihn nicht ausliefern konnte. Da ihm die Jesuiten und Kapuziner die Aufnahme verweigerten, suchte er Asyl im Kloster auf dem Kahlenberg. Er schrieb an Schell, der in Wien gerade einen niedrigen Posten in der Verwaltung bekommen hatte. Schell kam sofort, doch er konnte seinem Freund nicht helfen, da er, wie er ihm vertraulich mitteilte, in der nächsten Woche nach Italien reisen würde, wo ihm bei dem Pallavicini’schen Regiment eine Stelle als Oberleutnant angeboten worden war.
Voller Verzweiflung rief Trenck aus: »So habe ich auch noch meinen einzigen Freund verloren!«
Doch Schell beruhigte ihn: »Keine Sorge. Du weißt vielleicht nichts von meinen guten Beziehungen zum Feldmarschall Graf Königseck. Er ist Gouverneur in Wien und ich habe ihm schon viel von dir erzählt. Von deiner ungerechten Bestrafung durch König Friedrich und von unserer Flucht. Und davon, dass du dich, um die Familienehre zu retten, für deinen Vetter hier in Wien so selbstlos eingesetzt hast. Er kennt den Pandur nur zu genau, weiß von seinen Fehlern und Schwächen, seinen Intrigen, seinem Verrat und seiner Grausamkeit. Er hat versprochen, sich um deinen Fall zu kümmern. Du wirst sehen, in kurzer Zeit wird dir freies Geleit aus Wien zugesichert.«
»Dein Wort in Gottes Ohr«, seufzte Trenck. »Und dir Glück und Erfolg im fernen Land. Ich muss sehen, wie ich mich hier weiter durchschlage.« Die beiden umarmten sich und verabschiedeten sich voller Rührung.
Schon am nächsten Tag besuchte Gouverneur Graf Königseck Trenck im Kloster. Er bat ihn, nichts mehr in Sachen seines Vetters zu unternehmen.
»Ich möchte Wien am liebsten verlassen!«, versicherte ihm Trenck niedergeschlagen, »aber ich weiß nicht, wo ich hingehen, in welche Dienste ich treten könnte.«
Der Graf überlegte kurz. »Ich hätte einen Vorschlag für Sie. Machen Sie meinem guten Bekannten, dem Major Butschkow, Ihre Aufwartung. Er sucht tapfere Männer für sein russisches Regiment. Wenn Sie ihm gefallen, wird sich da vielleicht etwas finden.«
Trenck zögerte nicht lange und tat, was ihm der Graf geraten hatte. Er besuchte den russischen Residenten und trug ihm sein Anliegen vor. Die beiden Männer verstanden sich auf Anhieb. Trenck errang das freundschaftliche Wohlwollen und die volle Sympathie des Majors, der ihn gleich zum Hauptmann im Tobolsk’schen Dragonerregiment ernannte. Trenck willigte ein – doch sein Herz wurde ihm dabei schwer. Seine Heimat war Preußen, und für seinen König und sein Land hatte er gekämpft. Und Amalie, die nun so fern von ihm war, hatte er geliebt. Doch würde er sie jemals wiedersehen, wenn er jetzt nach Russland zog? All seine Träume und seine Wünsche entfernten sich immer weiter von ihm, verflossen wie ein Schemen im Nebel der Zeit. Im Gefängnis, auf der Flucht, gejagt durch die Lande, in fremden Diensten – konnte das Schicksal noch schwerere Prüfungen für ihn bereithalten? Oder war jetzt seine Leidenszeit endlich zu Ende?
fleuron
In der Nacht hatte Theo wenig geschlafen, gequält von ständigen Grübeleien. Annas Worte kamen ihm in den Sinn: »Ich würde vielleicht lieber bei dir bleiben.« Hatte sie das wirklich ernst gemeint? Aber wie sollte er ihr glauben nach allem, was geschehen war? Dass ihr Kind nicht von Trenck war? Vielleicht hatte sie die Vergewaltigung ja nur erfunden?
Und sosehr er seinen einstigen Dienstherrn, den Gardeoffizier von der Trenck, damals bewundert hatte, so sehr hasste er ihn jetzt. Ihm schien, dass er übermächtig zwischen ihm und Anna stand. Natürlich war sie jetzt enttäuscht, dass ihr Held sie auf der Flucht so schnöde zurückgelassen hatte, dass es ihm gleich gewesen war, ob sie in der kalten Nacht erfrieren würde oder nicht. Aber vielleicht hatte sie ja auch eingesehen, wie sinnlos diese demütigende Liebe war, wie wenig Trenck ihre bedingungslose Treue und Aufopferung verdiente. Und nun besann sie sich auf ihn, den anhänglichen Theo, der ihr überall hin nachlief. Jetzt war er ihr vielleicht recht, weil sie keinen anderen Ausweg mehr sah. Es war bitter, so etwas in Betracht zu ziehen, und der Gedanke kränkte ihn zutiefst. Auf der anderen Seite hatte Anna ihm bisher noch nie etwas vorgemacht – sie war immer ehrlich zu ihm gewesen. Und sie war nun einmal die Frau, die er sich immer gewünscht hatte, nach der er sich all die Jahre gesehnt hatte, die er ganz für sich haben wollte. Doch der Gedanke, dass sie in seinen Armen heimlich an einen anderen dachte, machte ihn rasend. Deshalb war es besser, zu verzichten, sich zu trennen, einen harten Schnitt zu machen.
Verbissen und in aller Eile trieb er die Vorbereitungen zur Reise voran. Aus den Augen, aus dem Sinn, das würde das Beste sein, zu diesem Entschluss war er schließlich gekommen. Er besorgte ein weiteres Pferd und passende Kleidung für Anna. Sobald sie in Sicherheit war, konnte er zurück nach Berlin reiten und seinen Dienst wiederaufnehmen. Beladen mit Proviant, neuen Stiefeln und einem warmen Überrock, kehrte er in den Gasthof zurück.
Anna sah ihm trotzig entgegen. »Ich gehe nicht nach Wien«, eröffnete sie ihm sofort.
»Und warum nicht?«, fragte Theo mit verschlossener Miene und so sachlich wie möglich.
»Deshalb«, sie hob ihren verstauchten Fuß, »daran hast du wohl nicht mehr gedacht. Ich habe ziemliche Schmerzen und kann so nicht reiten. Geschweige denn, einen Stiefel anziehen.« Nach einer kleinen Pause setzte sie hinzu: »Und ohne meine Tochter verlasse ich ohnehin nicht das Land. Trenck hat gesagt, ich könnte sie mit nach Wien nehmen. Ich habe darüber nachgedacht, und ich sage es dir gleich: Ich werde sein Angebot nicht annehmen.« Sie holte tief Luft. »Weil ich nichts mehr mit ihm zu tun haben – ihn nie mehr wiedersehen möchte.«
»Du willst nicht …«, Theo begriff erst nicht, was sie meinte, »nicht nach Wien?«
»Nein. Aber lass dich von mir nicht aufhalten«, fuhr sie fort. »Reite ruhig nach Berlin zurück. Sicher vermisst man dich dort schon. Du bist schließlich nicht mein Kindermädchen. Ich komme auch allein zurecht.«
»Und wie stellst du dir das vor?« Theo schüttelte ärgerlich den Kopf. »Man wird dich hier auffinden und einsperren. Was soll dann aus deiner Tochter werden?«
Anna sah ihn an, ohne etwas zu erwidern. Ganz langsam füllten sich ihre Augen mit Tränen, und um ihren Mund begann es, verräterisch zu zucken. Dann schlug sie plötzlich die Hände vors Gesicht und begann zu schluchzen, wild und heftig und aus tiefstem Herzen.
Theo beobachtete sie überrascht. Jetzt wusste er überhaupt nicht mehr, woran er war. Aber es zerriss es ihm beinahe das Herz, Anna so weinen zu sehen. Langsam ging er zu ihr, wollte in seiner Hilflosigkeit tröstend den Arm um ihre Schultern legen.
Doch sie stieß ihn von sich und starrte ihn mit wild funkelnden Augen an. »Geh!«, schrie sie. »Ich bin dir doch ganz egal! Was kümmert es dich, was ich wirklich fühle!« Theo wich zurück, er wollte etwas Beschwichtigendes sagen, doch Anna ließ sich nicht stoppen. »Warum bin ich nicht gleich in der Schlacht gefallen? Alles, was ich tue, bringt mir nur Unglück. Ich habe keine Zukunft, keine Freunde, keine Familie, und ich werde auch nie eine haben. Ja, ich gestehe es ein, auch wenn du mir nicht glaubst: Ich habe mich geirrt, als ich dachte, Trenck zu lieben. Es war eine Illusion, eine unsinnige Wahnvorstellung, die mich beherrscht hat. Jetzt ist es vorbei. Und nun«, sie schluchzte auf, »ist es wohl zu spät für uns beide, denn du traust mir nicht mehr, willst nichts mehr von mir wissen.« Sie holte tief Luft und zog ihr Taschentuch hervor. »Was nützt es, wenn ich dir sage, dass ich erst jetzt gespürt habe, was du mir bedeutest?« Ihre Stimme wurde leise, beinahe undeutlich. »Dass du es bist, den ich liebe? Du wirst mir nicht glauben, auch wenn es die Wahrheit ist.«
Theo machte eine Geste der Hilflosigkeit. Er wusste nicht, was er sagen sollte, doch er spürte, wie auf einmal eine Last von seiner Seele fiel und einer seltsamen Erleichterung Platz machte. »Welche Wahrheit? Du … du willst also wirklich nicht zu Trenck? Und nicht nach Wien?«
Anna schüttelte den Kopf. »Nein. Ich will ihn niemals wiedersehen. Es ist vorbei.«
»Nach all dem ist es sehr schwer für mich«, seine Worte kamen zögernd, stockend, »zu glauben, dass du gespürt hast … ich meine, dass ich dir etwas bedeute.«
Anna sah auf. Ihre Tränen waren versiegt und in ihren Augen lag ein fiebriger Glanz. »Vielleicht. Aber mein Herz hat schon immer dir gehört – ich wollte es nur lange nicht zulassen. Aber jetzt weiß ich es genau. Willst du, dass ich es dir schwöre? Beim Leben meiner Tochter und bei allem, was mir heilig ist?«
»Anna!« Theo spürte, wie ein heißer Strom durch seine Adern rann und ihm das Blut in die Wangen stieg. »Anna!« Er schloss sie stürmisch in seine Arme. »Oh, Anna, wie sehr habe ich darauf gewartet, dass du mir das einmal sagen würdest! Ich kann es immer noch nicht begreifen – nach all dem, was geschehen ist. Es stand so viel zwischen uns.« Er nahm ihr Gesicht in beide Hände. »Du weißt, wie sehr ich dich liebe – schon so lange und hoffnungslos, dass ich gar nicht mehr daran glauben konnte, dass meine geheimen Wünsche einmal wahr werden könnten.«
»Ich liebe dich auch, Theo! Von ganzem Herzen. Ich habe jetzt erst erkannt, dass wahre Liebe nichts mit Schwärmerei zu tun hat. Als du mich gerettet hast, habe ich in deinen Armen noch etwas anderes gespürt, etwas, das ich nicht kannte: Vertrauen und Geborgenheit. Und als du mich geküsst hast – du dachtest ja, ich sei ohnmächtig«, sie lächelte ihn unter Tränen an, »da war ich ganz sicher, dass es keinen anderen Mann für mich geben kann als dich.«
Theo spürte ein Glücksgefühl, das ihm die Kehle zuschnürte und seine Augen feucht werden ließ. Zweifel und Enttäuschungen, die ihn so lange gemartert und beinahe zermürbt hatten, fielen von ihm ab. Er hatte plötzlich das Gefühl, dass das Leben einfach wundervoll war und dass er sein Glück jetzt mit beiden Händen fassen musste. »Bleib bei mir«, flüsterte er Anna ins Ohr. »Wir werden deine Tochter zu uns nehmen. Und ich verspreche dir, sie genauso zu lieben, wie ich dich liebe.« Er hob sie auf die Arme, schwenkte sie herum und drückte sie dann fest an seine Brust. Anna schloss die Augen, und als sie seine Lippen auf ihrem Mund spürte, erwiderte sie seinen Kuss mit aller Hingabe, derer sie fähig war. Diesmal war es kein unerfüllbarer Traum, dem sie nachjagte, sondern greifbare Wirklichkeit. Und sie war schöner und beseligender, als sie es sich jemals hatte vorstellen können.