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Heute
An dem Tag, als alles anfing, hatte Detective Amanda Beck eigentlich frei und schlief bis weit in den Vormittag. Mitten in der Nacht war sie von einem Albtraum geweckt worden, den sie schon häufiger gehabt hatte. Anschließend hatte sie sich an den leichten Schlaf geklammert, so lange es ging. Als sie zu guter Letzt aufgestanden war, sich geduscht und Kaffee gekocht hatte, war es fast Mittag gewesen. Unterdessen war andernorts ein Junge umgebracht worden, nur dass das noch keiner wusste.
Am Nachmittag machte sich Amanda im Auto auf den kurzen Weg zu ihrem Vater. Als sie vor den Rosewood Gardens ankam, parkten dort zwar ein paar andere Wagen, aber der Bürgersteig war leer. Während sie den gewundenen Weg zwischen den Blumenbeeten zum Zugangstor entlangging, herrschte um sie herum Totenstille. Wo sie auf welchen Weg abbiegen musste und dann an wohlbekannten Gräbern vorbeikam, hatte sich ihr in den vergangenen zweieinhalb Jahren tief eingeprägt.
War es komisch, sich die Toten als Bekannte vorzustellen?
Vielleicht. Trotzdem war es teils so. Sie fuhr mindestens einmal in der Woche zum Friedhof, und das bedeutete, dass sie sich mehr mit den Leuten abgab, die hier unter der Erde lagen, als mit den paar lebenden Freunden, die sie hatte. Sie hakte sie im Vorbeigehen ab: hier das Grab, das immer so schön gepflegt war, mit frischen Blumen. Dort das mit der alten, leeren Brandyflasche, die am Grabstein lehnte. Und dann das Grab mit den Kuscheltieren: ein Kindergrab, wie Amanda vermutete, auf dem die trauernden Eltern Geschenke ablegten, weil sie noch nicht zulassen wollten, dass ihr Kind sie vollends verließ.
Und schließlich ganz hinten das Grab ihres Vaters.
Sie blieb stehen und schob die Hände in die Manteltaschen. Auf dem Grab stand ein rechteckiger Stein – breit, wuchtig, genau wie ihr Vater in ihrer Jugend gewesen war. Die Schlichtheit hatte etwas Unerbittliches, das sie jedoch als angenehm empfand – lediglich der Name und die beiden Daten, die sein Leben definiert hatten. Kein Schnickschnack, genau wie er es gewollt hätte. Ihr Vater war zu Hause ein liebevoller, aufmerksamer Mann, aber hauptsächlich nun mal Polizist gewesen, hatte sich stets in den Dienst der Sache gestellt und, wenn Feierabend gewesen war, die Arbeit auf der Dienststelle zurückgelassen.
Dieser Wesenszug war bei der Auswahl des Grabsteins maßgeblich gewesen. Keine verdammten Blumen auf meinem Grab, Amanda. Wenn ich weg bin, bin ich weg. Eine der zahlreichen Anweisungen, denen sie nachgekommen war.
Trotzdem, es fühlte sich noch immer seltsam und ungut an, dass er nicht mehr da sein sollte. Als Kind hatte sie im Dunkeln Angst gehabt, und es war immer ihr Vater gewesen, der gekommen war, wenn sie gerufen hatte. Wenn er Nachtschicht gehabt hatte, war sie beunruhigt gewesen, das wusste sie noch, als wäre ihr das Sicherheitsnetz weggenommen worden und nichts mehr da, was sie im Notfall auffangen könnte. Und so fühlte sich derzeit auch ihr Leben an. Dieses unterschwellige Gefühl, dass etwas verkehrt war, dass irgendetwas fehlte. Dann fiel ihr jedes Mal wieder ein, dass ihr Vater gestorben war, und es machte sie von Neuem fertig. Wenn sie jetzt riefe, wäre da niemand mehr, der sie trösten käme.
Sie zog den Mantel ein bisschen enger.
Und auch kein Mit-mir-Reden, sobald ich weg bin.
Noch so eine Anweisung. Wenn sie das Grab besuchen kam, stand sie entsprechend immer nur da und dachte nach. Natürlich hatte ihr Vater damit recht gehabt. Sie war genauso wenig gläubig, wie er es gewesen war, insofern hätte es auch wenig Sinn, hier irgendwas vor sich hin zu faseln. Es hörte sowieso keiner mehr. Die Chance, ihm noch gewisse Fragen zu stellen, war verstrichen. Sie war mit wenig Lebenserfahrung und dem bisschen Wissen zurückgeblieben, das ihr Vater ihr vermittelt hatte, und jetzt war es an ihr, sich da durchzuwühlen.
Nüchtern.
Distanziert.
Pragmatisch.
So war er bei der Arbeit gewesen. Sie musste oft an den Ratschlag denken, den er ihr bei ihrem Dienstantritt mit auf den Weg gegeben hatte: Wann immer man etwas Schreckliches erlebte, musste man es im Kopf in eine Schachtel stecken; auf die Schachtel kam ein Deckel, der immer nur dann abgenommen wurde, wenn etwas Zusätzliches in die Schachtel kam. Die Arbeit – und was immer man dort mit ansah – musste um jeden Preis vom restlichen Leben ferngehalten werden. Damals hatte das so einfach geklungen, so vernünftig
Er war unendlich stolz auf sie gewesen, als sie ebenfalls zur Polizei gegangen war, und obwohl sie ihn von ganzem Herzen vermisste, war ein kleiner Teil von ihr froh, dass er nicht mehr da gewesen war, um zu sehen, wie sie mit den vergangenen zwei Jahren klargekommen war. Mit der Schachtel in ihrem Kopf, unter deren Deckel die Grausamkeiten nur so herausquollen. Mit den Albträumen. Mit dem Umstand, dass sie, wie sich herausgestellt hatte, nicht derselbe Typ Ermittler war wie er und sich in einem fort fragte, ob sie es je werden könnte.
Und obwohl sie die Anweisungen ihres Vaters befolgte, dachte sie doch andauernd an ihn. Wie so oft fragte sie sich auch heute, ob er wohl enttäuscht von ihr wäre.
Sie war bereits auf dem Rückweg zu ihrem Auto, als ihr Handy klingelte.
Eine halbe Stunde später war Amanda zurück in Featherbank und lief quer über das Brachgelände.
Sie hasste diesen Ort. Sie hasste das spröde, von der Sonne ausgedörrte Gestrüpp. Die Stille und die Abgeschiedenheit. Dass sich die Luft hier jedes Mal krank anfühlte – als wäre dieses Stück Land verdorben, als könnte man die Fäulnis, das Gift im Boden instinktiv spüren.
»Dort haben sie ihn damals gefunden, oder?«
Detective John Dyson stapfte neben ihr her und zeigte auf einen vertrockneten Busch, der genauso hart, dürr und zäh war wie die übrige Vegetation.
»Ja«, antwortete sie. »Genau dort.«
Dort haben sie ihn damals gefunden.
Allerdings hatten sie ihn dort zunächst auch verloren. Zwei Jahre zuvor war genau hier auf dem Heimweg ein Junge verschwunden. Einige Wochen später war seine Leiche genau hier abgelegt worden. Amanda hatte damals die Ermittlungsleitung übernommen. Seitdem befand sich ihre Karriere mehr oder weniger im freien Fall. Vor dem Leichenfund hatte sie sich eingebildet, sie würde über die kommenden Jahre auf der Karriereleiter Sprosse für Sprosse nach oben klettern, während die Schachtel in ihrem Kopf sicher verschlossen bliebe. Wie sich herausgestellt hatte, hatte sie sich komplett falsch eingeschätzt.
Dyson nickte bedächtig. »Die sollten das hier absperren. Das ganze Gelände in die Luft jagen.«
»Wenn das nicht hier passiert«, sagte sie, »dann eben woanders.«
»Kann schon sein.«
Amanda hielt Dyson für ziemlich unterbelichtet. Allerdings musste man ihm zugutehalten, dass er das auch selbst zu wissen schien; zumindest hatte er in seiner kompletten bisherigen Laufbahn nicht den geringsten Ehrgeiz an den Tag gelegt. Inzwischen war er Anfang fünfzig, erledigte seine Arbeit, kassierte seinen Sold und ging abends nach Hause, ohne auch nur einen Blick zurückzuwerfen. Darum beneidete sie ihn.
Die Baumreihe, die den dahinter liegenden Steinbruch markierte, war jetzt direkt vor ihnen. Sie warf einen Blick über die Schulter. Die Absperrung rund um das Gelände, die sie angeordnet hatte, war hinter dem Gestrüpp nicht zu sehen, aber sie wusste, dass sie da war. Und dahinter ratterten – natürlich – schon die unsichtbaren Rädchen einer umfangreichen Ermittlung.
Dann hatten sie die Baumreihe erreicht.
»Passen Sie auf, wo Sie hintreten«, sagte Dyson .
»Sie aber auch.«
Demonstrativ übernahm sie die Führung, duckte sich unter dem Zaun hindurch, der die Brache vom Steinbruch trennte. Ein Stück weiter hing ein verblasstes Warnschild, das die Kinder aus der Gegend nicht davon abhielt, sich auf dem Gelände herumzutreiben. Vielleicht war es sogar ein Ansporn. Für sie als Kind wäre es einer gewesen. Trotzdem hatte Dyson recht. Hier ging es steil bergab, der Boden war locker, und während sie vorneweg ging, setzte sie vorsichtig einen Schritt vor den anderen. Wenn sie jetzt vor ihm den Halt verlieren würde, müsste sie ihn leider umbringen, um ihr Gesicht zu wahren.
Behutsam arbeitete sie sich voran. Ausgebleichte Wurzeln und Zweige hingen über dem Fels wie Sehnen, und sie musste mehrmals in das Gestrüpp greifen, um das Gleichgewicht zu halten. Es ging gut fünfzig Meter nach unten. Sie war erleichtert, als sie endlich wieder festen Boden unter den Füßen hatte.
Einen Augenblick später schlurfte Dyson wieder neben ihr über den steinernen Grund.
Dann kehrte Stille ein.
In diesem Steinbruch herrschte eine unheimliche, fast außerweltliche Atmosphäre. Das Gelände fühlte sich völlig verwaist und abgeschieden an, und während oben die Sonne auf die Brache heruntergebrannt hatte, war es hier unten spürbar kühler. Sie ließ den Blick über die Steinbrocken und die Handvoll versengter Sträucher schweifen, die hier unten Wurzeln geschlagen hatten. Das hier war ein einziges Labyrinth.
Ein Labyrinth, das sie mithilfe der Schilderungen von Elliot Hick jetzt durchqueren würden .
»Da lang«, sagte sie.
Am Nachmittag waren vor einem Haus ganz in der Nähe zwei Jugendliche aufgegriffen worden. Einer von ihnen – Elliot Hick – hatte kurz vor einem hysterischen Anfall gestanden, während der andere – Robbie Foster – komplett apathisch und still gewesen war. Jeder von ihnen hatte ein Messer und ein Buch in Händen gehalten, und beide waren von Kopf bis Fuß mit Blut bespritzt gewesen. Zur Stunde wurden sie auf dem Revier befragt. Allerdings hatte Hick dem Aufsicht führenden Beamten bereits erzählt, was sie getan hatten und wo die Polizei auf das Ergebnis stoßen würde.
Es sei nicht weit, hatte er gesagt.
So was wie hundert Meter.
Langsam, bedächtig, vorsichtig setzte sich Amanda quer durch das Geröll in Bewegung. Drückende Stille lastete auf allem, es war, als würden sie sich unter Wasser bewegen, und ihr zog sich vor Anspannung die Brust zusammen, sobald sie sich ausmalte, worauf sie gleich stoßen sollten. Natürlich nur, sofern Hick die Wahrheit gesagt hatte. Es bestand immer noch die Möglichkeit, dass sie überhaupt nichts finden würden. Dass die ganze Sache ein geschmackloser Scherz gewesen war.
Amanda schob ein paar dornige Zweige beiseite. Zu glauben, dass dies hier ein blöder Scherz gewesen sein sollte, war schlichtweg absurd – aber es wäre immer noch besser als die Vorstellung, im nächsten Moment die freie Ebene zu erreichen und vor sich zu sehen, was …
Sie blieb wie angewurzelt stehen.
Und so etwas vor sich zu sehen.
Dyson wich zur Seite aus und schloss zu ihr auf. Er keuchte leicht, auch wenn nicht ganz klar war, ob es an ihrem anstrengenden Abstieg und dem kurzen Marsch hierher oder an diesem Anblick lag.
»Herr im Himmel«, stieß er hervor.
Das Gelände vor ihnen war annähernd sechseckig, zu allen Seiten von Buschwerk und Bäumen bestanden und der Boden mit Geröll übersät, aber im Grunde flach. Es hatte fast etwas Okkultes – und der Eindruck wurde von dem Bild, das sich ihnen darbot, nur mehr verstärkt.
Die Leiche befand sich vielleicht fünf Meter entfernt in der Mitte der kahlen Fläche, die wie eine Lichtung wirkte. Jemand hatte sie in eine kniende Position gebracht und vornübergebeugt, fast wie zum Gebet. Die dünnen Arme lagen nach hinten ausgestreckt neben dem Körper. Auf den ersten Blick ein Junge im Teenageralter. Er hatte Shorts an und ein T-Shirt, das ihm bis unter die Achseln hochgerutscht war, allerdings war bei all dem Blut schwer zu erkennen, welche Farbe die Kleidung gehabt hatte. Mit dem Blick suchte Amanda den Leichnam ab. Auf den nackten Stellen konnte sie mehrere Stichwunden erkennen; die Blutschmierer drumherum sahen auf der Haut blassbraun aus. Unter dem Kopf schien sich mehr Blut gesammelt zu haben. Der Kopf selbst war in einem merkwürdigen Winkel zur Seite gedreht – zum Glück in die entgegengesetzte Richtung – und schien kaum noch am Hals festzusitzen.
Nüchtern , rief Amanda sich ins Gedächtnis.
Distanziert.
Pragmatisch.
Einen Augenblick lang stand die Welt still. Dann entdeckte sie noch etwas und runzelte die Stirn.
»Was ist das da am Boden?«, wollte sie wissen.
»Eine verdammte Kinderleiche, Amanda. «
Sie ging über seine Antwort hinweg, machte ein paar vorsichtige Schritte hinaus auf die Lichtung, wollte den Tatort nicht verunreinigen, musste aber in Erfahrung bringen, was das dort war. Auf dem steinigen Boden war noch mehr Blut zu sehen, bildete annähernd einen Kreis um die Leiche. Das Muster schien zu präzise gesetzt, um zufällig entstanden zu sein. Doch erst als sie unmittelbar davorstand, erkannte sie, worum es sich handelte.
Sie starrte nach unten, folgte der Spur mit dem Blick.
»Was ist das?«, fragte Dyson.
Wieder ging sie darüber hinweg, diesmal allerdings, weil sie nicht wusste, was sie hätte antworten sollen. Dyson kam näher. Zum Glück hielt er den Mund. Sie konnte ihm ansehen, dass er genauso verstört war wie sie selbst.
Sie versuchte, so gut es ging, die Abdrücke zu zählen, aber es waren unzählige – ein Sturm, der am Boden gewütet hatte.
Hunderte blutroter Handabdrücke, die sorgsam auf den steinigen Grund gesetzt worden waren.