15
Heute
Mit zusammengekniffenen Augen musterte Constable Owen Holder die Tür meiner Mutter.
»Was glauben Sie denn, was das ist?«, fragte er.
»Keine Ahnung. Sieht aus wie Blut.«
»Hm.« Er neigte den Kopf leicht zur Seite. »Ja, mag schon sein.«
Ich selbst sagte viel zu oft »mag sein«, und mich nervte, es jetzt von ihm zu hören. Auf der Tür prangten drei blutrote Schmierer, jeder etwa in der Größe einer geballten Faust. Sie hoben sich von dem weißen Holz deutlich ab und schimmerten matt in der Morgensonne. Sie hatten mir bereits bei Dunkelheit im Schein der Taschenlampe zugesetzt, aber sie jetzt bei Tag zu sehen bereitete mir Übelkeit. Das Blut gerann bereits, und ein paar Fliegen hatte es auch schon angelockt.
»Das ist eindeutig Blut«, sagte ich.
»Und das war vorher nicht da?«
»Na ja, man kann’s eigentlich nicht übersehen, oder?«
»Nein«, sagte Holder. »Eher nicht.«
Dann drückte er leicht den Rücken durch, schob die Hände in die Taschen und runzelte die Stirn, als wüsste er nicht, was er als Nächstes tun sollte. Ich wusste es ebenso wenig. Ich hatte gezögert, die Polizei zu rufen, und irgendwann
beschlossen, dass das bis zum Morgen warten konnte. Inzwischen war ich froh, dass ich es getan hatte – was immer dabei herauskommen würde. Die Abdrücke auf der Tür enthielten eindeutig eine Botschaft, und selbst wenn ich sie bislang nicht verstand, war das alles ziemlich furchterregend.
Nach dem Gehämmer an der Tür hatte ich nicht mal mehr versucht, wieder ins Bett zu gehen. Stattdessen hatte ich sämtliche Fenster und Türen im Haus überprüft und mich dann im Dunkeln auf das Bett meiner Mutter gesetzt, von dem aus ich durch einen Spalt zwischen den Vorhängen freien Blick auf die Straße gehabt hatte. Ich hatte gewartet, beobachtet, bis die Stille in der Luft schier angefangen hatte zu sirren. Und auch wenn dort niemand auf der Straße gewesen war und sich in der ganzen Siedlung nichts gerührt hatte, hatte ich das mulmige Gefühl gehabt, dass mich jemand beobachtete.
Das Gefühl hatte ich immer noch.
Holder atmete tief durch und sah dann den Gartenweg entlang zurück zur Straße. Er sah skeptisch aus.
»Ich bin mir nicht ganz sicher, was ich dazu sagen soll, Mr. Adams. Das da ist auf gewisse Weise Vandalismus, nehm ich an, und ich verstehe schon, dass es Sie verärgert. Aber es ist nichts kaputtgegangen. Insofern war es wahrscheinlich bloß ein dummer Scherz.«
Einer von euch kleinen Wichsern hat hier randaliert.
Obwohl die Temperaturen an diesem Morgen allmählich anstiegen, lief es mir bei der Erinnerung eiskalt den Rücken hinunter. Holder sah aus wie maximal Ende zwanzig, insofern war er wohl zu jung, um zu wissen, was hier vor all diesen Jahren vorgefallen war. Ich hätte versuchen können, ihn
ins Bild zu setzen, allerdings hätte ich eine Menge erzählen müssen, bis er auf dem neuesten Stand gewesen wäre. Aber selbst wenn – um die volle Bedeutung zu erfassen, musste man wohl dabei gewesen sein.
»Ich würde es trotzdem gerne zur Anzeige bringen«, sagte ich.
Er seufzte und zückte sein Telefon. »Natürlich, Sir.« Er schoss aus unterschiedlichen Winkeln ein paar Fotos von der Eingangstür, während ich mit verschränkten Armen dastand und die Straße und die Nachbarhäuser beäugte. Es war immer noch nichts zu sehen. Aber wenn mich jemand beobachtete, wüsste er zumindest, dass ich die Situation ernst genommen hatte und mich – zumindest dem äußeren Anschein nach – davon nicht würde einschüchtern lassen.
Nachdem Holder wieder gefahren war, ging ich nach drinnen. Ich war merkwürdig enttäuscht, das Haus sah normal aus wie immer, das Leben schien einfach so weiterzugehen wie in den Tagen zuvor. Dennoch war eindeutig irgendwas im Busch. Ich war mir nicht sicher, was ich machen sollte.
Zuallererst mal die Tür putzen.
Ja, das wäre zupackend, oder etwa nicht? Also schnappte ich mir ein paar Lappen, einen Eimer mit Wasser und Putzmittel und machte mich an die Arbeit. Trotzdem sah ich wiederholt zurück zur Straße. Und auch wenn dort niemand war, war ich heilfroh, als ich fertig war, wieder hineingehen und die Tür zur Außenwelt hinter mir schließen konnte.
Es war still im Haus.
Wer hatte die Abdrücke hinterlassen? Die Frage war unmöglich zu beantworten. Als ich tags zuvor die Online-Meldungen gelesen hatte, war mehrmals die Rede davon gewesen,
dass es auch an James’ Tür geklopft hatte. Das war nur eines von zahlreichen Details in dem Fall: ein Puzzleteil, das Tausenden Internet-Junkies geläufig war. Wenn jemand mir einen Streich spielen wollte, dann hatte er, was seine Inspiration anging, aus dem Vollen schöpfen können.
Und vielleicht steckte ja wirklich nicht mehr dahinter.
Doch noch während ich an die Internet-Artikel zurückdachte, fielen mir auch all die User wieder ein, die glaubten, dass Charlie immer noch am Leben war, und dann diejenigen, die davon ausgingen, dass er das Unmögliche geschafft hatte und in eine andere Welt übergetreten war. Das mulmige Gefühl, das ich seit Tagen hatte, war stärker geworden. Das Gefühl, dass die Vergangenheit noch lange nicht Geschichte war und dass etwas Schreckliches passieren würde.
Aber was?
Langsam stieg ich die Treppe hoch und blieb auf dem oberen Absatz vor dem Fenster stehen. Sah hoch zum Dachboden. Die Luke war verschlossen, aber ich konnte die roten Handabdrücke und die Pappkartons voller Zeitungsausschnitte über mir regelrecht spüren.
Paul, es ist im Haus.
Es ist im verdammten Haus!
Wie dringlich meine Mutter geklungen hatte. Panisch und zutiefst verängstigt. Ich hatte Kisten mit Artikeln zu drei unterschiedlichen Mordfällen gefunden, die jeweils Jahre auseinanderlagen, aber alle einen gemeinsamen Nenner hatten, der wiederum auf mich verwies. So schmerzhaft es gewesen war zu entdecken, dass meine Mutter all das über die Zeit vor mir versteckt hatte, hatte ich doch geglaubt, das wäre alles gewesen. Aber inzwischen fragte ich mich, ob ich nicht etwas übersehen haben könnte. Irgendein Detail, das wichtig
genug war, dass jemand mir eine Nachricht oder eine Warnung hatte zukommen lassen wollen.
Eine Drohung.
Bei dem Gedanken wurde mir angst und bange.
Trotzdem würde ich nachsehen müssen. Und ich war drauf und dran, nach oben zur Luke zu greifen, als ich im Augenwinkel etwas bemerkte. Ich blieb wie angewurzelt stehen und zwang mich, weiter nach oben zu sehen. Das Fenster neben mir ging zum Garten und zum Wald, und ich war mir sicher, dass sich dort zwischen den Bäumen für den Bruchteil einer Sekunde etwas bewegt hatte.
Langsam wandte ich mich um und sah hinaus, starrte den Waldrand einen Moment lang an, suchte ihn nach etwas ab, was zuvor da gewesen war.
Aber da war nichts.
Und dann war doch etwas da.
Ich war mir nicht sicher, aber irgendwie hatte ich den Eindruck, dass sich hinter dem Zaun im Gestrüpp jemand zusammenkauerte.
Verhalte dich normal
, redete ich mir gut zu und versuchte, mich zu beruhigen. Ich drehte dem Fenster den Rücken zu und blieb kurz so stehen, sah hierhin und dorthin, als wäre mir nichts aufgefallen. Als wäre ich mir nicht sicher, was ich hier überhaupt sollte.
Und auf gewisse Weise stimmte das auch. Wollte ich denjenigen, der sich dort draußen versteckte, überhaupt konfrontieren? Mein Herz hämmerte einen stetigen Nein-nein-nein-Rhythmus. Das war wirklich das Letzte, was ich tun wollte. Doch dann musste ich an das denken, was Jenny zu mir gesagt hatte, ich erinnerte mich wieder, wie ich damals an jenem Tag durch diesen Jungen auf dem Rugbyfeld quasi
hindurchgerannt war, und ich kam zu dem Schluss, dass das, was man tun wollte, und das, was man tun sollte, nicht immer übereinstimmten.
Ich lief wieder nach unten.
Der Garten zog sich ein gutes Stück. Zwischen Hintertür und Waldrand lagen gut fünfzig Meter, und wenn ich jetzt dort hinausliefe, würde derjenige mich sehen und zwischen den Bäumen verschwinden, bevor ich ihm auch nur nennenswert näher gekommen wäre. Allerdings gab es auch noch andere Wege in die Schatten.
Ich schloss die Vordertür hinter mir ab und lief eilig die Straße entlang. Ein Stück entfernt führte ein zugewucherter Spazierweg von der Straße weg in Richtung Wald. Dort bog ich ab. Von Hecken zu beiden Seiten abgeschirmt, war die Welt mit einem Mal so still, dass ich nur noch die Bienen im Brombeergestrüpp summen hörte – und selbst die verstummten, sobald ich den Waldrand erreicht hatte und zwischen die Bäume eintauchte.
Das mulmige Gefühl wurde stärker. Ich hatte diesen Wald seit fünfundzwanzig Jahren nicht mehr betreten, trotzdem war meine Erinnerung daran noch überaus lebhaft. Man musste bloß ein paar Meter gehen, um die Zivilisation völlig hinter sich zu lassen, um in eine allumfassende Stille, eine nervenaufreibende Stille abzutauchen und sich zu fühlen, als hätte man sich verlaufen oder wäre in eine Falle getappt und würde nun beobachtet – selbst dort, wo der Spazierweg noch sichtbar oder das Gestrüpp niedergetrampelt worden war.
Aber ich war kein Teenager mehr.
Ein Stück in den Wald hinein wandte ich mich nach links und schlug mich in Richtung des Hauses meiner Mutter
durchs Unterholz. Wenn ich leise wäre, würde ich mich demjenigen, der sich hinter dem Zaun versteckte, nähern können.
Keine Minute später schätzte ich, dass ich die Stelle fast erreicht hatte. Es war inzwischen drückend heiß, und ich blieb stehen, um mir den Schweiß aus dem Gesicht zu wischen, duckte mich dann und schlich langsam weiter. Nach und nach tauchten die rückwärtigen Giebel der Häuser zwischen den Bäumen auf.
Unter meinem Schuh knackste ein Zweig.
Für einen Moment blieb ich stocksteif stehen. Aber es rührte sich nichts.
Ich schlich weiter. Um mich herum lichtete sich der Wald, und der Garten meiner Mutter kam in Sicht. Auch dort war niemand. Doch als ich am Zaun nach unten blickte, sah der Boden eindeutig platt getrampelt aus, und ich hatte das Gefühl, als würde mir etwas in die Nase steigen.
Der ekelerregende Geruch von Schmutz und Schweiß.
Mein Nacken fing an zu jucken. Langsam drehte ich mich zurück zum Wald. Dieses Gebiet hatte immer eine merkwürdige Energie ausgestrahlt, als stünde man ein Stück zu nahe an einem Hochspannungsmast – doch diesmal war das Gefühl stärker denn je.
Da war jemand.
Jemand, der sich zwischen den Bäumen versteckte.
»Hallo?«, rief ich. »Ist da wer?«
Keine Antwort. Doch die Stille vibrierte, als hielte die Welt den Atem an.
»Charlie?«
Keine Ahnung, warum ich ausgerechnet seinen Namen rief, aber es erzeugte Wirkung. Nach ein paar Sekunden
Stille hörte ich zu meiner Linken, wie Äste zur Seite schlugen. Ich stand starr und mit rasendem Herzen da. Der Wald war in dieser Richtung so dicht, dass ich nur ein paar Meter weit sehen konnte, aber das Geräusch war ganz aus der Nähe gekommen. Wer immer sich dort versteckt hatte, war noch in Reichweite.
Ich riss mich zusammen, machte zögerlich ein paar Schritte nach vorn, drückte mich zwischen zwei rissigen Baumstämmen hindurch, stieg über Gräser und schob ein paar dünnere Zweige beiseite.
Ich trat auf eine Lichtung hinaus. Und blieb wie vom Donner gerührt stehen.
Dort stand ein Mann. Vielleicht zehn Meter von mir entfernt. Er hatte mir den Rücken zugekehrt und den Kopf geneigt und stand einfach reglos da.
»Hallo?«, rief ich.
Der Mann antwortete nicht. Ich sah ihn genauer an, meinte, einen alten Armeeparka zu erkennen, der über den Schultern so verschlissen war, dass einzelne Stofffetzen wie zerrupfte Federn daran hinabhingen. Und als ich die Ohren spitzte, konnte ich ihn atmen hören.
Nein
, schoss es mir durch den Kopf.
Nein, nein, nein.
Auch wenn ein Teil von mir näher an ihn herangehen wollte, reagierte mein Körper nicht. Ich fühlte mich so fest an Ort und Stelle verwurzelt, als wäre ich einer der Bäume, die um mich herumstanden. Ich hob die Hand und hielt mir die Nase zu.
Ich träumte nicht.
Und im selben Moment verschwand der Mann zwischen den Bäumen. Ich starrte ihm erschüttert nach. Zweige
peitschten zurück, als er tiefer in den Wald hinein verschwand.
Dann wurde es rundherum ganz still.
Mit hämmerndem Herzen stand ich da.
Und genau wie mir Charlies Name einen Moment zuvor aus dem Nichts eingefallen war, schoss mir jetzt ein ebenso unwillkommener Gedanke durch den Kopf – dass ich soeben gar keinen Mann gesehen hatte. Dass irgendetwas aus den Tiefen der Schatten gekommen war, um mich heimzusuchen, und jetzt wieder in seinen Unterschlupf zwischen den Bäumen zurückgekehrt war.