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Wie ferngesteuert fuhr ich zum Haus meiner Mutter zurück – so angespannt, dass ich von der Fahrt an sich kaum etwas mitbekam.
Was nicht bloß an der unvermeidlichen Benommenheit lag, die ein luzider Traum mit sich brachte. Jetzt, da ich eine Ahnung hatte, fühlte es sich unendlich wichtig an, sofort dort hinzukommen und zu überprüfen, ob es tatsächlich stimmen konnte. Oberflächlich betrachtet war es der schiere Wahnsinn, trotzdem hatte in mir etwas Klick gemacht, und ich musste nachsehen, um sicher zu sein. Und noch während ich fuhr, war es, als wäre mein Verstand bereits meilenweit voraus und wartete schon am Haus, um mich anzutreiben.
Sie sind alle gleich.
So findet er es nicht.
Als ich den Wagen abstellte und ausstieg, war die Straße menschenleer. Es mochte an meiner Fantasie liegen, aber es schien erneut dieselbe merkwürdige, leicht verschobene Stimmung zu herrschen wie am Tag des Mordes.
Sobald ich eingetreten war, blieb ich kurz im Flur stehen. Am oberen Treppenabsatz schwebte Staub durch die Luft, nachdem ich die Tür aufgestoßen und wieder zugemacht hatte. Es war still wie sonst auch, aber heute hatte der Druck
in der Luft eine andere Qualität. Es war noch leiser, noch leerer, und es fühlte sich an, als hätte sich im Haus Traurigkeit breitgemacht, als wüsste das Haus, dass die Person, die hier seit Jahren gelebt hatte, inzwischen gestorben war, und als betrauerte das Gebäude ihren Verlust.
Die Frage, wer das Püppchen durch den Briefschlitz geworfen hatte, machte mich noch immer nervös, aber die Antwort zu finden war wichtiger. Ich lief nach oben in mein altes Zimmer und leerte den Inhalt der Kiste auf meinen Schreibtisch.
Die Zeitschrift.
Das Buch mit Jennys Namen auf dem Cover.
Die Tagebücher.
Ich starrte sie an. Es waren acht, und ich hatte ihnen bislang wenig Beachtung geschenkt. Mein Traumtagebuch hatte auf dem Stapel zuoberst gelegen und war das erste gewesen, das ich aufgeschlagen hatte – die anderen hatte ich nicht angerührt, weil ich meine dürftigen Teenager-Schreibversuche gar nicht hatte sehen wollen. All diese erfolglosen Versuche, eine Geschichte zusammenzuschustern; das hatte ich seit Langem aufgegeben.
Doch diesmal griff ich nach einem davon und schlug es auf.
Nichts.
Das nächste.
Nichts.
Ich schlug das dritte auf. Und hatte nicht meine eigene Handschrift, sondern das gedrängte, schwarze, spinnenhafte Gekrakel von Charlie vor mir.
Instinktiv schlug ich das Buch wieder zu.
Ich rief mir in Erinnerung, wie wir vier erstmals unsere
Notizen verglichen hatten – die Mittagspause, in der Charlie diesen augenscheinlich unmöglichen Zaubertrick ausgeführt und so getan hatte, als hätten er und James ein und denselben Traum gehabt. Damals war mir sogar aufgefallen, dass er und ich das exakt gleiche Notizbuch verwendeten.
Es ist im Haus.
Sie sind alle gleich.
So findet er es nicht.
Aber Charlies Tagebuch war doch angeblich zusammen mit ihm verschwunden? Am Tag des Mordes hatten sowohl er als auch Billy ihre Tagebücher dabeigehabt – angeblich als Teil des Rituals, das Charlie sich ausgedacht hatte. Und das hieß doch, dass ich in diesem Moment etwas in der Hand hielt, das im selben Augenblick vom Erdboden verschwunden war wie er. Ich hielt das Puzzleteil eines unmöglichen Zaubertricks in der Hand.
Zaubertrick …
Ich überflog ein paar Einträge weiter hinten. Sie waren allesamt Variationen ein und desselben Themas: Rothand, der Wald, Billy und James. Die meisten waren recht vage gehalten, nur zwei Einträge waren wesentlich konkreter als der ganze Rest: zum einen ein längerer Abschnitt über den Traum, in dem er Goodbolds Hund umgebracht hatte, und dann eine ganz ähnlich detaillierte Schilderung, wie er nachts an James’ Tür geklopft hatte. In beiden Fällen hatte Charlie natürlich gewusst, was er im echten Leben getan hatte, und war deshalb imstande gewesen, es wesentlich genauer zu beschreiben.
Ich blätterte weiter, bis ich den Eintrag fand, der mich am brennendsten interessierte
.
Ich sitze mit ihm im Wald.
Es ist stockfinster hier, trotzdem kann ich erkennen, dass er den alten Armeeparka trägt, den mit den abgewetzten Schultern, der aussieht, als wären einem Engel die Schwingen bis auf die Stümpfe gestutzt worden.
Genau so erinnerte ich mich aus der Mittagspause daran. Charlie hatte James gebeten, mir sein Traumtagebuch zu reichen, damit ich es mit eigenen Augen sehen konnte. Damals hatte ich auf denselben Eintrag hinabgestarrt, auf die schwarze Schrift, auf das Datum, das darüber stand, und der Traum war dem, was James zuvor geschildert hatte, so verblüffend ähnlich gewesen, dass es nie und nimmer ein Zufall gewesen sein konnte. Trotzdem war ich nicht in der Lage gewesen zu erklären, wie sie es angestellt hatten.
Charlies Trick.
Ich blätterte zurück.
Ich sitze mit ihm im Wald.
Und noch eine Seite zurück.
Ich sitze mit ihm im Wald.
Und mehr Seiten. Die Einträge der kompletten Woche waren so gut wie identisch. Charlie hatte hier und da einzelne Wörter ausgetauscht, aber im Großen und Ganzen ging es immer um ein und dasselbe. In jedem einzelnen Eintrag kamen ein Junge und irgendein Ungeheuer aus dem Wald und sahen James in seinem Garten stehen und zu ihnen herüberblicken
.
Nach all diesen Jahren hatte ich es endlich verstanden.
Inkubation.
Charlie hatte Wochen damit zugebracht, uns einzureden, dass dieser Wald verflucht wäre. An jedem einzelnen Wochenende hatte er uns dort hingeschleift, hatte immer darauf bestanden, den Wald durch James’ Garten hindurch zu betreten, sodass es irgendwann fast schon unausweichlich gewesen war, dass wir alle davon träumten.
Ich dachte daran zurück, wie Jenny mir die Zeitschrift gegeben hatte. Damals hatte ich geglaubt, es wäre Zufall gewesen, dass sie sie ausgerechnet an jenem Tag mitgebracht hatte, als ich beschloss, auf sie zuzugehen und sie anzusprechen. Aber natürlich war das kein Zufall gewesen. Ich hatte es mir bloß so zurechtgelegt. Sie hatte mir die Zeitschrift nur deshalb an dem Tag gegeben, weil ich sie angesprochen hatte. Sie hatte die Zeitschrift täglich dabeigehabt und hätte sie mir auch an jedem anderen Tag in die Hand gedrückt, an dem ich sie angesprochen hätte. Und auch da hätte es ausgesehen wie ein Zufall.
Charlie hatte exakt das Gleiche gemacht. Er hatte Eintrag um Eintrag vorbereitet, sodass er zu jedwedem Tag bereit gewesen wäre, an dem James endlich etwas erzählt hätte, was auch nur annähernd ähnlich geklungen hätte.
Es ist viel schneller passiert, als ich dachte.
Der Frust rollte regelrecht über mich hinweg. Wie schnell ich alledem schon damals ein Ende hätte setzen können, wenn ich es nur kapiert hätte. In jener Mittagspause hatten die drei mich aufmerksam gemustert, hatten auf meine Reaktion auf den Tagebucheintrag gelauert, und ich weiß noch, wie hilflos ich mich gefühlt habe. Und die ganze Zeit über hätte ich bloß eine einzige Seite umschlagen müssen
.
Und hätte ich das gemacht, wäre der ganze Rest nie passiert.
Ich schlug das Tagebuch zu.
»Wie bist du da rangekommen, Mama?«, fragte ich leise.
Das Haus antwortete nicht.
Ich lief hinüber ins Schlafzimmer meiner Mutter. Ich zog die Vorhänge auf und sah hinaus auf die Straße. Die Sonne brannte inzwischen so heftig, dass die Luft über meinem Wagen flirrte. Es war immer noch niemand dort draußen zu sehen. Die ganze Siedlung war wie ausgestorben.
Das Tagebuch fühlte sich in meiner Hand bleischwer an.
Wie bist du da rangekommen?
Bei der Frage war mir schlagartig übel. Denn auch wenn es diverse mögliche Erklärungen gab, wie das Tagebuch hier gelandet sein könnte, lief es letztlich auf ein und dasselbe hinaus.
Meine Mutter hatte mehr über Charlies Verschwinden gewusst, als sie mir erzählt hatte.
Ich sah hinauf zur Zimmerdecke und rief mir die roten Handabdrücke auf dem Dachboden vor Augen, die Kisten voller Zeitungsausschnitte, die meine Mutter zusammengetragen hatte. Als ich das Material dort entdeckt hatte, war mein erster Gedanke gewesen, dass sie es über die Jahre dort gesammelt haben musste, um mich davor zu bewahren und um die Schuld auf sich zu nehmen.
Doch allmählich fragte ich mich, ob sie nicht tatsächlich selbst Schuld getragen hatte. Wenn sie gewusst hatte, was mit Charlie passiert war, dann war sie zumindest in Teilen verantwortlich dafür, dass es weitere Morde gegeben hatte. Sie hätte etwas unternehmen können, um diese Taten zu verhindern
.
Trotzdem hatte sie aus unerfindlichen Gründen nichts unternommen.
Ich sah wieder nach unten aus dem Fenster.
Und die Straße war nicht mehr leer.
Hinter meinem Wagen stand jemand. Mit der Sonne im Rücken und dem Gesicht hinter dem flirrenden Wagendach konnte ich nur sehen, dass die Person zu mir hochblickte. Trotzdem erkannte ich sie sofort wieder. Binnen eines Wimpernschlags fielen fünfundzwanzig Jahre von mir ab.
Die Person hob die Hand.
Ich zögerte kurz und tat es ihr gleich.
Dann warf ich das Traumtagebuch aufs Bett und lief nach unten. Vor der Tür schlugen mir Hitze und gleißende Helligkeit entgegen. Die Person hatte sich in Bewegung gesetzt und schlenderte langsam die Straße entlang. Trotzdem sah ich keinen Grund, ihr nachzurennen. Ich wusste genau, wohin sie unterwegs war.
Ich drehte mich um und schloss hinter mir ab.
Und setzte mich genauso langsam in dieselbe Richtung in Bewegung.