37
Mein Vater verbrannte gern Sachen.
Das war eine meiner wenigen frühen Kindheitserinnerungen an ihn. Ich hatte es irgendwie mein komplettes Erwachsenenleben lang geschafft, nie Feuer machen zu müssen, obwohl so etwas damals ein halbwegs regelmäßiges Ereignis gewesen war. Als ich noch klein genug gewesen war und mein Vater mich noch nicht gehasst hatte, hatte ich neben ihm im Garten gestanden und zugesehen, wie er Späne zerknickt hatte, sodass der dünne Bruch am Ende wie Klauen über der Feuerstelle hing, und ich hatte ihm geholfen, haufenweise raschelndes Laub in die Feuergrube zu schieben. Zeitungen, Abfall, Zweige, dorniges Brombeergestrüpp – was immer er hatte loswerden wollen, wurde verbrannt, und tags darauf wurde die Asche untergeharkt, damit alsbald ein neues Feuer darüber entstehen konnte. So war mein Vater einfach, nahm ich an. Wenn ihm irgendwas nicht mehr von Nutzen war, nahm er es in Angriff und verbannte es aus der Welt. Vielleicht hatte er damit ja die richtige Wahl getroffen.
Mit dem ersten Karton in den Armen stand ich auf der hinteren Treppe. Es war Abend geworden, und wo immer ich hinsah, wurden die Schatten tiefer. In Gritten wurde es immer schnell dunkel, und schon bald wäre es so weit. Der Wald am Ende des Gartens glich schon jetzt einem Mosaik aus Grau und Schwarz, und der Anblick war zudem vom Nebel verwaschen, der aus dem Dickicht am Waldrand aufstieg. Die Luft wurde kühler, und es ging eine leichte Brise, die den Duft von Erde und Laub vor sich hertrieb.
Ich war den ganzen Nachmittag wie betäubt gewesen, schockiert und verwirrt von dem, was vorgefallen war: erst all das, was Carl mir erzählt hatte, dann die Ankunft der Polizei. Amanda hatte sich geweigert, mir zu verraten, worüber sie mit Carl reden wollten, und ich hatte seither nichts mehr von ihr gehört. Das galt natürlich auch umgekehrt. Ich hatte ihr gegenüber mit keiner Silbe erwähnt, was Carl mir eröffnet hatte, und auch im Nachhinein nicht bei ihr angerufen und Bericht erstattet. Auf dem Spielplatz wäre es schlichtweg übereilt gewesen. Es hatte sich angefühlt, als müsste ich die Entscheidung, die Carl mir überlassen hatte, die er mir aufgenötigt hatte, erst einmal gründlich durchdenken und überlegen, welcher nächste Schritt der beste wäre.
Wenn ich ihnen die Wahrheit erzählte, wäre das Leben dreier Menschen zerstört, und es würde bekannt werden, dass meine Mutter an der Sache beteiligt gewesen war. Und wozu würde das führen? Ich hatte hin und her überlegt und versucht, mich in der Zwischenzeit mit praktischen Dingen abzulenken. Ich hatte die Habseligkeiten meiner Mutter aus dem Hospiz abgeholt. Ich hatte die Sterbeurkunde entgegengenommen. Ich hatte mich in Sachen Beerdigung schlaugemacht.
Trotzdem hatte ich eine Entscheidung treffen müssen.
Und ich glaubte, sie endlich getroffen zu haben.
Ich trug den Karton in den Garten. Die Feuergrube war am Rand zugewuchert, aber die Ziegel rundherum waren noch da, und alles sah mehr oder weniger genauso aus, wie ich es in Erinnerung gehabt hatte: ein blassgraues Geschwür im grünen Fleisch unseres Gartens. Ich kippte den Karton aus und schob die Zeitungsartikel in die Mulde, trat sie zu einem Haufen in der Mitte zurecht, und mit jedem Tritt stoben Wölkchen aus alter Asche und der säuerliche, rußige Geruch lange erloschener Feuer empor.
Dann lief ich zurück nach drinnen.
Es fühlte sich an, als wäre dies eine Arbeit, die im Dunkeln erledigt werden müsste, deshalb knipste ich drinnen auch nirgends Licht an. Draußen war es gerade noch hell genug, um den Weg zur Eingangstür zu finden, wo ich die Kartons gestapelt hatte.
Ich nahm den zweiten und trug ihn hinaus zur Feuerstelle.
Leerte ihn aus.
War das hier wirklich das Richtige?
Ich sah nach oben. Der Himmel über mir war dunkelblau und schon zart mit entferntem Sternenfunkeln übersät. Eine Antwort war dort nicht zu finden.
Ich lief erneut nach drinnen, holte den dritten Karton und leerte ihn ebenfalls in die Grube. Der Zeitungshaufen sah grau aus wie alte Knochen.
Noch eine letzte Sache.
Die letzte Kiste.
Drinnen war es inzwischen merklich düsterer als zuvor, als ich angefangen hatte; es hing eine gewisse Schwere in der Luft, als würde ich mit jedem Karton, den ich nach draußen trug, dem Haus mehr aufbürden, statt es zu entlasten. Bis ich die Kiste nach draußen brachte, hatte der Wind aufgefrischt, und die Grashalme zitterten. Ich leerte die Kiste aus – meine alten Notizbücher. Mein Traumtagebuch. Die Creative- Writing-Zeitschrift. Das Püppchen, das James von Charlie bekommen hatte. Das dünne Hardcover mit Jennys Geschichte von Rothand.
Charlies Traumtagebuch war nicht dabei.
Ich runzelte die Stirn.
Wo war es hingekommen?
Es dauerte einen Moment, bis mir wieder einfiel, dass ich es im Schlafzimmer meiner Mutter liegen gelassen hatte. Als ich Carl draußen entdeckt hatte, hatte ich es auf ihr Bett geworfen und war ihm zum Spielplatz gefolgt. Ich lief wieder rein und ging langsam die Treppe hoch. Auf dem oberen Absatz war es fast schwarz, als hätte das Haus die Nacht in sich zusammengezogen. Als ich das Zimmer meiner Mutter betrat, war es nur mehr voller Konturen und Schatten. Trotzdem war das Tagebuch deutlich zu sehen: ein tiefschwarzes Rechteck auf der abgezogenen Matratze.
Ich nahm es zur Hand.
Mache ich das Richtige, Mama?
Ich hatte den kompletten Nachmittag hauptsächlich darüber nachgedacht, was meine Mutter gewollt hätte. Sie hatte aus einem bestimmten Grund beschlossen, Carl das Tagebuch zu entwenden. Nach so vielen Jahren, in denen sie sich schuldig gefühlt hatte, hatte womöglich ein Teil von ihr gewollt, dass die Wahrheit ans Licht käme. Andererseits war sie da bereits nicht mehr bei klarem Verstand gewesen. Sie hatte Carls Geheimnis in all den Jahren für sich behalten. Weil sie Freunde gewesen waren. Wenn nicht sogar mehr.
Mache ich das Richtige?
Ich war mir nicht sicher, was sie sagen würde, wenn sie jetzt hier wäre, und das dunkle Haus hatte ebenso wenig eine Antwort für mich wie der Abendhimmel draußen. Aber vielleicht gab es auch keine Antwort, dachte ich; vielleicht ging es im Leben ja lediglich darum zu tun, was man zu einem bestimmten Zeitpunkt für richtig hielt, und dann anschließend mit den Konsequenzen zu leben, so gut es eben ging. Was meine Mutter gesagt hätte, wäre sie jetzt hier? Wahrscheinlich, dass ich inzwischen erwachsen war, dass sie mich großgezogen und beschützt hatte, so gut sie es je vermocht hatte. Und dass ich die Entscheidung allein treffen musste.
Ein Geräusch von unten.
Ich hielt inne. Lauschte.
Nichts. Bloß das Haus, das nach der Hitze des Tages durchatmete und sich auf die Nacht vorbereitete. Möglicherweise ahnte es auch, was ich vorhatte, und machte sich bereit, abgeschlossen und fürs Erste vergessen zu werden.
Ich nahm das Tagebuch mit hinaus auf den Flur.
Zögerte und sah zur Treppe.
Dort unten war es inzwischen stockdunkel, und das Haus fühlte sich an, als wäre es mehr denn je mit Finsternis angefüllt. Mein Rückgrat kribbelte. Seit ich nach Gritten zurückgekehrt war, hatte ich mich hier nie vollends alleine gefühlt, aber das hatte daran gelegen, dass jede Nische angefüllt mit Erinnerungen gewesen war. Doch im Augenblick spürte ich noch eine andere Art Präsenz.
Es ist jemand unten.
Der Gedanke kam aus dem Nichts.
Ich hatte keinen Grund anzunehmen, dass es so war. Was zuvor passiert war, waren bloß Carls Versuche gewesen, mich von hier zu vertreiben. Trotzdem klingelte die Stille in meinen Ohren, und irgendein instinktiver Teil von mir schien mit dem Schlimmsten zu rechnen .
Ich starrte in Richtung Haustür. Ich hatte die Kette vorgelegt, als ich heimgekommen war. Allerdings stand die Hintertür offen.
Konnte das Geräusch, das ich eben gehört hatte, das Türschloss gewesen sein?
Du musst hier raus.
Sobald mir dieser Gedanke kam, hatte ich es plötzlich eilig.
Ich lief die Treppe hinunter, so schnell und doch so leise ich konnte, und winselte bei jedem Knarzen in mich hinein. Unten angekommen spähte ich den dunklen Flur entlang. Die Küche war dunkel und die Hintertür zu. Dort war niemand.
Doch als ich mich umdrehte und gerade nach der Sicherheitskette greifen wollte, um die Vordertür aufzumachen, trat neben mir der Geist eines Mannes aus den Schatten des Wohnzimmers. Er bewegte sich so schnell, dass ich kaum Zeit hatte, ihn überhaupt wahrzunehmen, als auch schon meine Lunge explodierte.
Die Welt drehte sich, und der dunkle Flur füllte sich mit Sternen.