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Wollen Sie damit andeuten, dass mein Sohn umgebracht wurde wegen eines Phantoms?
Genau das hatte Dean Price sie gefragt. Und noch während Amanda über die dunkle Schnellstraße in Richtung der Gritten-Wood-Siedlung raste, fiel ihr auch wieder ein, was Mary Price am selben Tag erzählt hatte.
Dean war früher bei der Armee.
Erst nachdem Dean nicht mehr bei der Armee war, haben die beiden sich angenähert.
Dean war immer schon sehr pragmatisch – ein echter Problemlöser.
Damals hatte Amanda geantwortet, dass sie es mit etwas zu tun hätten, was niemand lösen könne – doch inzwischen fragte sie sich, ob das stimmte. Michael Price war nur deshalb umgebracht worden, weil Charlie Crabtree nie aufgefunden worden war. Das Rätsel um sein Verschwinden hatte unendlich viel Schmerz verursacht. Und das war durchaus ein Problem, das man lösen könnte, oder etwa nicht?
Wenn man nur die richtige Ausbildung und den festen Willen hatte.
Wenn man sonst nichts mehr hatte, wofür es sich noch zu leben lohnte .
Am Telefon hatte Mary ihr erzählt, dass Dean drei Tage zuvor das Haus verlassen und sich seither nicht mehr gemeldet hatte. Dass sein Handy ausgestellt war. Der Mann war vom Radar verschwunden.
Es ist alles in Ordnung , versuchte Amanda, sich gut zuzureden.
Sie hatte bereits dort angerufen, doch in sein Hotelzimmer war Paul nicht zurückgekehrt. Das bedeutete, dass er höchstwahrscheinlich im Haus seiner Mutter war. Und auch wenn er nicht an sein Handy ging, war die nächstliegende Erklärung doch wohl, dass er nach den Ereignissen des Tages schlichtweg nicht mit ihr sprechen wollte.
Also gab es nichts, weswegen sie sich Sorgen machen müsste, sagte ihr Verstand. Aber inzwischen hörte sie noch andere, lautere Stimmen. Die finstere Landschaft ringsum erinnerte sie an den Albtraum, den sie schon so oft gehabt hatte, und die gleiche Panik und Dringlichkeit machte sich in ihr breit wie jedes Mal, wenn sie ihn geträumt hatte: Irgendwer steckte in Schwierigkeiten, und sie würde nicht rechtzeitig da sein, um zu helfen.
Ihr Handy klemmte am Armaturenbrett. Sie wählte Dwyers Nummer.
»Wo zur Hölle sind Sie hin?«, fragte er ohne Vorrede.
»Ich bin auf dem Weg nach Gritten Wood.«
Sie erklärte ihm, was sie von Mary Price erfahren hatte.
»Scheiße, und da haben Sie nicht darüber nachgedacht, auf mich zu warten?«
»Keine Zeit. Ich bin sicher, es ist alles okay, trotzdem wollte ich schnell sein. Bleiben Sie in der Leitung, und ich sage Bescheid, ob ich Sie brauche.«
»Ich schicke Ihnen Kollegen hinterher. «
Sie dachte kurz darüber nach. »Meinetwegen.«
Der Wagen vor ihr war zu langsam unterwegs. Amanda gab Gas, zog an ihm vorbei und ignorierte die Hupe, die hinter ihr aufgellte – doch im nächsten Moment tauchte links vor ihr die Abfahrt nach Gritten Wood auf. Mit quietschenden Reifen fuhr sie von der Schnellstraße ab und wurde auch dann kaum langsamer, als die Straße wesentlich schmaler wurde. Das Auto schlingerte und rumpelte, die Reifen holperten über den unebenen Asphalt. Vor ihr erstreckte sich die Siedlung so düster und augenscheinlich verwaist wie eh und je.
Und dahinter die schwarze Wand aus Bäumen.
Ihr Herz schlug augenblicklich schneller.
Keine Minute später hatte sie das Haus erreicht. Paul Adams’ Wagen parkte davor. Sie hielt direkt daneben, zog die Handbremse und schnappte sich das Handy vom Armaturenbrett.
»Ich bin jetzt da«, sagte sie.
»Irgendwas auffällig?«
»Sein Auto steht vor der Tür.« Sie stieg aus und wandte sich zu dem Haus um. »Und im Flur brennt Licht.«
»Bleiben Sie am Telefon.«
»Klar.«
»Und machen Sie keine Dummheiten.«
Unwillkürlich sah Amanda vor sich, was Billy Roberts über sich hatte ergehen lassen müssen, und verspürte sofort wieder das Grauen, das sie dort gepackt hatte, weil sie einem derartigen Monster so nahe gekommen war.
»Keine Sorge, ich beherrsche mich.«
Sie hielt das Handy ans Ohr gepresst, während sie über den Gartenweg auf die Haustür zulief. Sie klopfte, wartete aber gar nicht erst auf eine Reaktion, sondern drehte sofort den Türknauf – und es war offen. Doch auf dem hell erleuchteten Flur war niemand zu sehen.
»Paul?«, rief sie.
Keine Antwort.
»Was ist da los?«, fragte Dwyer.
»Moment …«
Amanda starrte zur Küche am anderen Ende des Flurs. Dort brannte zwar kein Licht, aber sie konnte aus der Richtung einen Luftzug spüren. Eilig überquerte sie den Flur. Die Hintertür stand offen und gab den Blick frei auf den stockfinsteren, verwilderten Garten.
»Die Hintertür ist auf …«
Sie trat über die Schwelle. Viel erkennen konnte sie nicht, allerdings sah sie die Bäume hinter dem Garten. Die Dunkelheit dort war allumfassend.
»Streife ist jetzt unterwegs«, teilte Dwyer ihr mit.
Was eine gute Nachricht war, dachte Amanda. Weil sie sich mittlerweile bewusst war, dass sie hier Hilfe brauchte – dass sie das hier nicht allein schaffen konnte. Unter gar keinen Umständen würde sie auf sich allein gestellt einen Fuß in diesen Wald setzen. Gleichzeitig nagte ein weiterer Gedanke an ihr, und auch wenn sie sich kein bisschen sicher sein konnte, wusste sie doch instinktiv, dass es stimmte.
Die Verstärkung wäre nicht rechtzeitig hier.
Sekundenlang stand sie wie erstarrt an der Schwelle zur Hintertür und war nicht imstande, durch den Garten auf diese undurchdringliche Schwärze dahinter zuzugehen. Sie zitterte am ganzen Leib. Sie wollte einen Fuß vor den anderen setzen, aber ihr Körper gehorchte ihr nicht.
Dann: Ruhig bleiben .
Die Stimme war aus dem Nichts gekommen. Für einen Augenblick glaubte sie sogar, dass es die Stimme ihres Vaters gewesen wäre, aber das stimmte nicht.
Es war bloß ihre eigene.
Jemand braucht dich.
Ja, wusste sie, nur darum ging es jetzt. Sie war kein kleines Mädchen mehr, das mitten in der Nacht in seinem Bett lag und Angst vor der Dunkelheit hatte und darauf hoffte, dass jemand es rettete. Sie war jetzt die Person, die kam, wenn jemand anders um Hilfe rief.
»Sind Sie noch dran?«, fragte Dwyer.
»Ja«, antwortete Amanda.
Dann ließ sie das Handy sinken und rannte quer durch den Garten auf den Wald zu.