Drei Männer gab es, die Oh Seon-suk beim besten Willen nicht verstand.
Der erste war ihr Mann. In den dreißig Jahren, die sie nun schon mit ihm zusammenlebte, hatte sie sich nie sicher sein können, was er am nächsten Tag vielleicht anstellen würde. So war es vorgekommen, dass er von einem Tag zum anderen seinen sicheren Posten als Abteilungsleiter in einem mittelständischen Unternehmen geräumt hatte, und nachdem er nach langem Hin und Her und Auf und Ab irgendwann einen Laden eröffnet und ein paar Jahre lang geführt hatte, war er plötzlich von zu Hause ausgerissen. Er war immer ein unglaublich sturer und kommunikationsunfähiger Mensch gewesen. Als er dann vor ein paar Jahren wegen einer Krankheit nach Hause zurückgekehrt war, hatte sie ihn zwar zur Rede gestellt, wie er so rücksichtslos sein könne, einfach immer nur das zu tun, wonach ihm gerade der Sinn stehe, aber er hatte ihr nicht geantwortet. In ihrer Wut hatte sie ihm immer und immer wieder diese Frage entgegengeschleudert, als wollte sie ihn geißeln. Schließlich war er, vielleicht weil er einfach keine Lust hatte zu antworten, wieder von zu Hause weggegangen. So war es gekommen, dass sie nie eine Antwort von ihm erhalten hatte, dass sie jetzt nicht einmal mehr wusste, ob er überhaupt noch am Leben war, und dass sie ihn nun nicht mehr verstehen konnte und auch nicht mehr verstehen musste.
Der zweite Mann, den sie nicht verstand, war ihr Sohn. Als einziges Kind, das sie ganz allein hatte großziehen müssen, war er ihr Ein und Alles gewesen, aber je älter er wurde, desto ähnlicher wurde er — die Gene lassen sich nicht leugnen — ihrem Mann. Als er sein Studium abgeschlossen und eine Stelle in einer großen Firma gefunden hatte, war sie noch überzeugt gewesen, dass sich die viele Mühe der Erziehung doch gelohnt habe. Aber nach einem Jahr und zwei Monaten schmiss er die Stelle, um die ihn alle beneideten, einfach hin, und das Unheil nahm seinen Lauf. Er fing an, mit Aktien zu spekulieren, verzockte dabei das Geld, das er bis dahin verdient hatte, verkündete dann, er wolle doch lieber Filmregisseur werden, ging auf irgendein entsprechendes Institut und begann, sich mit allen möglichen Faulenzern einzulassen. Dann stürzte er sich — wobei er sich das nötige Geld dafür leihen musste — in irgendein absurdes Independent-Movie-Projekt, das ihn allerdings keineswegs in die Unabhängkeit führte, sondern auf halber Strecke scheiterte und anhaltende Depressionen und psychische Behandlung nach sich zog.
Warum bloß hatte er sein komfortables, sicheres Leben aufgegeben und sich auf so riskante und abenteuerliche Dinge wie Aktienhandel und Filmproduktion eingelassen? Sie verstand es einfach nicht. Auf ihre inständige Bitte hin hatte er schließlich seine falschen Hoffnungen begraben und beschlossen, es mit der Prüfung für den Diplomatendienst zu versuchen, auf die er sich nun vorbereitete. Wenn sie allerdings sein stets bedrücktes, finsteres Gesicht sah, machte sie sich doch Sorgen, dass seine Depression vielleicht zurückkehren könnte. Und jedes Mal rief sie innerlich: »Mensch, Junge, wenn du zu viel Zeit hast, hier so depressiv rumzuhängen, dann geh lieber raus, um in der brennenden Sonne Zementsäcke zu schleppen.«
Allein diese beiden unbegreiflichen männlichen Individuen, ihr Mann und ihr Sohn, hätten vollkommen ausgereicht, um ihr das Leben zur Qual zu machen, doch zu allem Überfluss steckte nun noch ein weiterer seltsamer Zeitgenosse, ein wandelnder Magnet von Problemen, ein einziges dickes Fragezeichen, seinen Riesenschädel, in ihr Leben. Dok-go, der vertrottelte Tapsebär, der seit einem Monat die Nachtschicht im 24-Stunden-Laden übernahm. Natürlich war sie schockiert gewesen, als sie, wenn auch reichlich spät, erfahren hatte, dass er früher Straßenpenner gewesen war, aber ihre Freundin, die Chefin, war mit der Nachtschicht einfach überfordert gewesen, und weil auch sie, Seon-suk, ihr diesbezüglich nicht hatte weiterhelfen können, hatte sie keine Möglichkeit gehabt, etwas gegen den Penner zu unternehmen. Um den Laden am Leben zu halten, wurde schließlich jede noch so kleine Hilfe gebraucht, da konnte sie sich nicht querstellen.
Glücklicherweise brachte der Tapsebär seinen nächtlichen Dienst ohne größere Schwierigkeiten über die Bühne. Er verbreitete auch weniger Gestank als befürchtet, und seine Arbeitskleidung war eigentlich nicht besonders schmutzig. Als die Chefin ihr mitteilte, dass sie ihm ein Zimmer gesucht, es im Voraus bezahlt, ihm neue Kleider gekauft und ihn zum Friseur geschickt habe und aus ihm nun ein ganz neuer Mensch geworden sei, zuckte Seon-suk nur mit den Schultern. Na, fantastisch. Im Gegensatz zu ihrer Freundin, die als Verkörperung des Optimismus und als lebenslange Pädagogin Generationen missratener Schüler auf den rechten Weg geführt hatte, hielt sich Seon-suk lieber an ein erfrischend einfaches Sprichwort: Menschen ändern sich nicht. Oder etwas poetischer formuliert: Ein Lumpen bleibt ein Lumpen, so oft man ihn auch wäscht. Sie hatte früher eine kleine Imbissstube geführt, dabei mit verschiedenen Leuten zusammengearbeitet und auch mit echten Horrorkunden zu tun gehabt. Die zwanzigjährige Teilzeitkraft, die mit dem Bargeld aus der Kasse das Weite gesucht und dann in elterlicher Anwesenheit auf der Polizeiwache ein böses Wiedersehen mit ihr erlebt hatte, der sechzigjährige Stammkunde, der erst im Suff die Ladeneinrichtung demoliert und sie dann um Vergebung angefleht hatte, beide hatten hinterher lauthals über sie geflucht. Im Zweifelsfall vertraute Seon-suk eher einem Hund als einem Menschen. Ihr Yeppi und ihr Kkami, ja, die waren ihr treu, und die betrachteten allein sie als ihr Frauchen.
Deshalb glaubte sie nicht daran, dass aus diesem Tapsebär, diesem ehemaligen Straßenpenner, jemals ein richtiger Mensch werden würde, selbst wenn er sich zwanzig Nächte lang nur von Knoblauch-Schinken und Beifuß-Drinks ernähren würde. Dass dieser Kerl, der mit seinen nur halb geöffneten Augen und seinen trägen, schwerfälligen Bewegungen immer wirkte, als würde er gleich einschlafen, dass dieser Eigenbrötler, der, wenn jemand den Laden betrat, sei es ein Kunde oder sie selbst, Seon-suk, bisher noch jedes Mal das richtige Timing für eine anständige Begrüßung verfehlt hatte, sich einfach so ändern würde, konnte sie sich beim besten Willen nicht vorstellen.
Dabei gab es wiederum etwas, das sie nicht verstand. Innerhalb von nur einer Woche war aus diesem Tapsebären vielleicht noch nicht unbedingt ein Mensch, aber doch immerhin ein durchaus passables Individuum geworden. Nach nur drei Tagen war er mit allem vertraut gewesen, was es im Laden zu tun gab, nach weiteren drei Tagen hatte er sich schon erheblich flinker und geschickter gewegt, und wenn er nun Seon-suks Blick oder dem eines Kunden begegnete, senkte er doch tatsächlich den Kopf und sagte ein Wort zur Begrüßung. Wie es ihm gelungen war, sich in so kurzer Zeit an gesellschaftliche Umgangsformen zu gewöhnen, wo es für ihn doch schon eine Herausforderung gewesen war, anderen Menschen überhaupt ins Gesicht zu sehen, von einer verbalen Begrüßung ganz zu schweigen, blieb ihr ein Rätsel.
So war Dok-go neben ihrem Mann und neben ihrem Sohn für Seon-suk das dritte männliche Wesen, das ihr vollkommen unbegreiflich erschien, aber im Gegensatz zu den ersten beiden, die keinerlei Anzeichen eines Wandels erkennen ließen und sie immerfort nur enttäuschten, war Dok-go, dessen Wandlung einer wahren Metamorphose gleichkam, ein ganz anderer Fall von Unbegreiflichkeit. Hatte er sich wirklich allein durch das bisschen Hilfe, das die Chefin, ihre Freundin, ihm hatte zuteilwerden lassen, so verändern können? Wie mochte wohl die Vergangenheit dieses Straßenpenners ausgesehen haben, wenn er so schnell menschliche Manieren entwickeln konnte? Das hätte sie wirklich interessiert, aber weder die Chefin noch Si-hyeon hatten diesbezüglich etwas in Erfahrung bringen können. Er hatte alkoholbedingt sein Gedächtnis verloren und ließ sich nur mit »Dok-go« anreden, ohne dass Klarheit darüber bestanden hätte, ob dies sein Vor- oder sein Familienname war.
»Jetzt denken Sie doch mal nach. Sie scheinen doch mittlerweile wieder einigermaßen bei Verstand zu sein.«
»Ich weiß … nicht. Wenn ich viel nachdenke … bekomme ich Kopfschmerzen.«
Jedes Mal, wenn Seon-suk ihn fragte, fuhr er sich mit seinen großen Händen durchs Gesicht und gab diese Antwort. Es war zum Verrücktwerden. Außerdem war es ihr ein Rätsel, weshalb Dok-go offenbar überhaupt nicht daran interessiert war, etwas über seine Vergangenheit in Erfahrung zu bringen. Wenn er seine Sinne jetzt wieder einigermaßen beieinanderhatte, wäre es doch ganz natürlich gewesen, etwas darüber wissen zu wollen, welche Arbeit er früher gemacht, ob er Familie gehabt und wie er einmal ausgesehen hatte. Und so beschloss sie, Dok-go, diesen unbegreiflichen Kerl, einfach weiterhin als Tapsebär zu betrachten. Ein Bär war kein Hund und insofern für sie auch kein vertrauenswürdiges Wesen.
Da er für sie weder begreiflich noch vertrauenswürdig war, schenkte sie ihm auch nicht sonderlich Beachtung. Die Chefin allerdings schien ihn wie einen jüngeren Bruder zu behandeln, und auch Si-hyeon konnte sich mit ihm allem Anschein nach recht offen unterhalten. Wenn sie sich bei Si-hyeon während des Schichtwechsels eingehend über Dok-go erkundigte, bekam sie immer nur zur Antwort, dass dieser ausgesprochen normal sei. Und dass sie zwar nicht wisse, was er gemacht habe, bevor er zum Straßenpenner geworden sei, aber das Gefühl habe, dass er bestimmt einen guten Ruf genossen habe.
»Einen guten Ruf? Dieser Tapsebär? Ich halt es ja kaum aus, wenn ich mich mit dem unterhalten muss.«
»Sein Stottern ist doch schon viel besser geworden. Irgendwo hab ich gehört, dass die Stimmbänder austrocknen können, wenn man so gut wie nie etwas sagt, und dass das dazu führen kann, dass man anfängt zu stottern. Und ich habe ihm doch die Arbeit hier beigebracht. Ganz am Anfang hatte er absolut keine Ahnung, aber er hat alles gleich verstanden. Ich habe damals vier Tage gebraucht, bis ich alles draufhatte, aber bei Dok-go hat das kaum zwei Tage gedauert. Die ganzen Zigarettensorten, die hat er in ein paar Stunden auswendig gelernt … Also, er ist auf jeden Fall ein guter Schüler.«
»Das ist ein Schäferhund auch.«
»Ach, kommen Sie, das kann man doch wirklich nicht vergleichen. Und wenn ich sehe, wie er sich manchmal verhält, dann hat er tatsächlich so etwas wie Charisma. Dem Horrorkunden hat er es ganz schön gezeigt, also, auf jeden Fall wirkt er wie jemand, der zumindest schon mal eine Imbissbude geführt hat.«
»Pfff … Würd mich nicht wundern, wenn der zusammen mit irgendwelchen anderen Halunken mal Mitglied einer Gangsterbande war.«
»Diesen Gedanken hatte ich, ehrlich gesagt, am Anfang auch, aber das glaube ich eigentlich nicht. Wie ein Krimineller kommt er mir nicht vor.«
»Eben. Das Problem ist ja gerade, dass er anstatt im Knast am Hauptbahnhof herumgehangen hat.«
»Aber obdachlos zu sein, ist doch kein Verbrechen. Sie sollten anderen Menschen nicht mit solchen Vorurteilen begegnen.«
»Vorurteile haben ihre Berechtigung. Man muss vorsichtig sein auf dieser Welt.«
Si-hyeon blickte drein, als wollte sie noch etwas loswerden, aber Seon-suk sah sie — du junges Ding hast ja keine Ahnung! — nur schief an und setzte dem Gespräch damit ein Ende. Die Chefin und dieses Mädchen hier waren anderen Menschen gegenüber einfach viel zu weich. Seon-suk war überzeugt, dass es deshalb an ihr sei, sich des Ladens mit strenger Hand anzunehmen.
Als sie, nachdem sie ihrem Sohn noch das Frühstück hingestellt hatte, um acht Uhr in den Laden kam, stand Dok-go an der Kasse und döste vor sich hin. Vom Geräusch der Türglocke geweckt, öffnete er erschrocken die Augen und begrüßte sie. Seon-suk erwiderte seinen Gruß halbherzig, begab sich in die Abstellkammer und kam in der offiziellen Mitarbeiterweste wieder heraus. Dok-go hatte offenbar nicht ganz begriffen, denn noch immer stand er da und hütete die Kasse. Erst als Seon-suk ihn mit der Handbewegung, mit der man auch Fliegen verscheucht, zum Gehen aufforderte, kam er hinter der Kasse hervor. Sie stand am Kassenterminal und überprüfte das verfügbare Kleingeld. Dann fragte sie:
»Irgendwas Besonderes?«
»Eigentlich … nicht.«
»Sicher?«
Dok-go kratzte sich am Kopf und überlegte einen Moment. Dann sagte er:
»Sicher … ist gar nichts … auf der Welt.«
Was sollte das denn? Sie schnaubte verächtlich. Schließlich hatte sie nicht vor, mit ihm über die Logik des Universums zu diskutieren.
Kurz darauf begann Dok-go erneut, sich unbegreiflich zu verhalten. Obwohl seine Arbeitszeit ja um acht Uhr zu Ende war, ging er nun vor dem Auslageregal auf und ab und begann, die Lebensmittel in Reih und Glied aufzustellen. Wie besessen legte er sich eine halbe Stunde lang ins Zeug, um alle Waren auf Augenhöhe fein säuberlich zu drappieren, bis ihm der Schweiß rann. Na schön. Aber wäre es nicht angebracht gewesen, das alles in der Nacht zu erledigen, wenn es ohnehin keine Kunden gab, und jetzt, wo seine Dienstzeit beendet war, einfach nach Hause zu gehen? Nein, er musste offenbar partout jetzt zu Werke schreiten, jetzt, wo Seon-suk schon den Platz an der Kasse eingenommen hatte. Und das war noch nicht alles. Als er mit dem Einräumen der Sachen fertig war, nahm er das Putzzeug und ging nach draußen, um den Plastiktisch vor dem Laden mit einem Lappen abzuwischen und vor dem Eingang zu fegen. Dann setzte er sich draußen auf die Bank, starrte die Leute an, die auf dem Weg zur Arbeit waren, trank Milch und aß Brot, abgelaufene Ware aus dem Laden.
Seon-suk kam es so vor, als vermiede es Dok-go absichtlich, sich in seinen Schlafraum zu begeben, weil er seine Obdachloseninstinkte noch immer nicht hatte abschütteln können. Gerade als sie beschlossen hatte, sich nicht weiter um ihn zu kümmern, sondern sich ihrer eigenen Arbeit zuzuwenden, war er mit einem Mal verschwunden, und der Tag begann dahinzufließen, langweilig und uninteressant.
Ein Kunde, der einen 24-Stunden-Laden betritt, wird wohl nicht davon ausgehen, dass der Verkäufer an der Kasse ihn die ganze Zeit im Blick hat. Aber häufiger als gedacht kommt es vor, dass Kunden Waren stehlen. Mit Absicht oder aus Versehen. Besonders wenn eine träge und unbeweglich wirkende Frau wie Seon-suk an der Kasse sitzt, geraten Diebe leicht in Versuchung. Seon-suk hatte dank ihrer langjährigen Erfahrung im Umgang mit Kunden einen geschärften Blick dafür, wenn etwas nicht ganz koscher aussah, und so war es ihr nicht entgangen, dass der Junge, der kurz zuvor den Laden betreten hatte, zwei Päckchen Samgak-gimbap, in Seetang gewickelten Reis in Dreiecksform, in seiner Tasche hatte verschwinden lassen, und das keineswegs aus Versehen. Es waren Ferien, und so kamen auch vormittags immer wieder Mittel- und Oberstufenschüler in den Laden, dieser Junge hier allerdings sah nicht so aus, als wären die Ferien der Grund dafür, dass er nicht zur Schule ging. Er mochte vielleicht vierzehn oder fünfzehn Jahre alt sein, von ähnlicher Körpergröße wie Seon-suk, mit finsterem Gesicht und in abgetragenen Klamotten. Vielleicht einer der jugendlichen Schlägertypen, die sich grüppchenweise in der Gegend der Wonhyoro und am Elektronikmarkt von Yongsan herumtrieben.
Der Junge war zwischen den Regalen hin und her gegangen, zu Seon-suk hinüberschielend, und hatte in einem Augenblick, als sie abgelenkt wirkte, flugs nach zwei Päckchen Samgak-gimbap gegriffen und sie in seiner Jackentasche versenkt. Dann ging er noch eine Weile zwischen den Regalen auf und ab und warf einen Blick auf die Uhr, um sich schließlich in Richtung Kasse zu bewegen. In dieser kurzen Zeit waren ihr fünfzigtausend Überlegungen durch den Kopf gegangen, wie sie nun reagieren sollte. Ihr erster Gedanke war, dass es sich im Grunde nicht lohnte, sich wegen zwei Päckchen Samgak-gimbap auf eine Konfrontation mit einem Jungen einzulassen, der möglicherweise im nächsten Augenblick ein Messer zückte, doch bald schon gewannen ihr kompromissloser Charakter und ihr Unwille, als jemand dazustehen, der sich leicht übers Ohr hauen ließ, die Oberhand.
»Sagen Sie, haben Sie zufälligerweise Jjamong?«, fragte er.
»Jjamong? Haben wir nicht. Was soll das denn sein?«, gab sie zurück.
Als der Junge sich, offenbar nicht weiter an einer Antwort interessiert, rasch umdrehte, um zu gehen, hielt sie ihn im letzten Moment am Arm fest. Er erschrak, als hätte man ihm einen Schlag auf den Hinterkopf versetzt, wandte sich um und versuchte, seinen Arm aus ihrem Griff zu befreien.
»Los, her damit! Was du geklaut hast.«
Seon-suk sah ihm direkt in die Augen. Er stand hilflos da, wie erstarrt.
»Wird’s bald? Was glaubst du, wer ich bin?«
»Ey, Mann. So eine Scheiße!«
Der Junge gab einen genervten Seufzer von sich und griff mit der freien Hand in seine Jackentasche. Einen kurzen Moment lang schoss ihr der Gedanke durch den Kopf, dass er vielleicht ein Messer herausholen könnte, und um ihre Nervosität zu vertreiben, ergriff sie seinen Arm um so fester.
Der Junge holte den Samgak-gimbap hervor und legte ihn auf den Tisch. Einen. Nee, mein Lieber. Seon-suk wies mit dem Kinn auf seine Tasche.
»Alles. Da auf den Tisch. Bevor ich die Polizei rufe. Los doch!«
Seon-suk sprach mit tiefer, drohender Stimme, wie wenn sie mit Kkami schimpfte.
Da passierte es. Der Junge griff noch einmal in die Tasche, holte blitzschnell die zweite Packung Gimbap heraus und schleuderte sie Seon-suk ins Gesicht. Zack! Der Gimbap traf sie über der Nasenwurzel. Ihr wurde schwarz vor Augen, und sie ließ den Arm des Jungen los.
»Fuck!« Er drehte sich um und ließ Seon-suk, deren ganzes Gesicht sich taub anfühlte, hinter sich, um zu verschwinden. Gerade als er die Glastür öffnen wollte, versperrte ihm von draußen ein massiger Bär den Weg. Dok-go.
»Hey, Jjamong!«
Dok-go öffnete die Tür, um einzutreten, und lächelte den Jungen an. Dieser trat notgedrungen einen Schritt zurück. Dok-go kam gemächlich herein, legte den Arm um den Jungen wie um ein bei ihm abgegebenes Postpaket und ging auf Seon-suk zu, den hilflosen Jungen mitschleifend. Seon-suk, kaum wieder halbwegs bei Sinnen, kam hinter dem Tresen hervor.
»Der Kerl hat wohl … wieder vergessen zu bezahlen, was?«
»Vergessen? Bring ihn zur Polizei! Na los!«, schrie sie, als wollte sie dem Jungen, der immer noch von Dok-gos Arm umschlungen wurde und den Kopf gesenkt hielt, ihre Worte einhämmern. Aber Dok-go, den Jungen so fest eingeklemmt, dass dieser sich nicht rühren konnte, legte nur den Kopf ein wenig schief. Seon-suk wurde noch wütender. In scharfem Ton fragte sie:
»Was ist? Kennst du den?«
»Er heißt … Jjamong. … Er fragt immer überall … nach Jjamong, obwohl es … das ja gar nicht gibt … Der kommt auch oft … wenn ich arbeite. Heute … hat er sich wohl verspätet. Was, Jjamong? Innere Uhr kaputt? Oder einfach … verpennt?«
Dok-go sprach mit ihm wie mit einem alten Kumpel, aber der Junge spitzte nur verlegen die Lippen und drückte sich vor einer Antwort. Was sollte das? Hatte der Kerl womöglich, wenn Dok-go Dienst hatte, jedesmal Samgak-gimbap mitgehen lassen? Das konnte nicht sein. Die Abrechnung war immer korrekt gewesen. Oder hatte der Tapsebär sich die ganze Zeit um den Jungen gekümmert? Zuerst war sie dankbar und erleichtert gewesen, dass Dok-go so plötzlich aufgetaucht war und sich den Jungen geschnappt hatte, nun aber stieg Groll in ihr auf.
»Der Kerl hat uns doch die ganze Zeit beklaut. Jetzt mal ehrlich!«
»Nein, hat er nicht.«
»Ach nein? Der ist einfach abgehauen, ohne zu bezahlen. Und dann hat er noch mit dem Gimbap auf mich geworfen!«
Augenblicklich drehte Dok-go sich um und ließ den Jungen gerade stehen. Sein Blick wanderte von dem Jungen zu dem neben Seon-suk auf dem Boden liegenden Gimbap-Päckchen, dann bückte er sich und betrachtete es genauer.
»Du hast … Stimmt das?«
»Ähm … aber …«
»Das … geht nicht.«
»Weiß ich.«
Als Seon-suk hörte, wie ruhig die beiden miteinander sprachen, wurde sie nur noch wütender. Was hatten die da untereinander auszumachen? Diejenige, die hier Wiedergutmachung verlangen sollte, war doch sie!
Sie schnalzte verächtlich mit der Zunge. Da drehte Dok-go sich um und hielt ihr den Gimbap entgegen. Was sollte das heißen?
»Ich bezahle das.«
Seon-suk schnaubte. Aber als Dok-go weiter seltsam angespannt mit regloser Miene und ausgestrecktem Arm dastand, besann sie sich. Sie zögerte nicht länger und scannte den Barcode der beiden Gimbap-Packungen ein. Dok-go griff in seine Jackentasche, brachte einen zerknitterten Fünftausend-Won-Schein zum Vorschein und reichte ihn Seon-suk. Sie nahm ihn entgegen, als handelte es sich um Ungeziefer, legte ihn in die Kasse und gab das Wechselgeld heraus.
Trotzdem hielt Dok-go ihr den Gimbap noch immer entgegen.
»Nimm das weg«, forderte sie. Aber Dok-go sagte:
»Die Abrechnung … ist noch nicht fertig. Werfen Sie!«
Dok-go wies mit dem Kinn auf den Jungen. Verlangte er etwa von ihr, dass sie sich nun genauso verhalten solle wie der Junge vorhin? Das war doch absurd. Dok-gos todernster Gesichtsausdruck, und dann der Junge, der mit gesenktem Kopf hinter ihm stand, als erwartete er seine Hinrichtung. Ihr fehlten die Worte.
»Na los!«
Diesmal war es Dok-go, der sie drängte. Sie versuchte, ihre Fassung wiederzuerlangen. Er musste damit aufhören.
»Nimm das weg! Ich werfe doch nicht mit Gimbap um mich wie dieser Rotzbengel! Nehmt das Zeug mit, esst es auf, werft es weg, oder macht sonst was damit!«
Sie war außer sich. Dok-go lächelte. Was gab es da zu lachen? Er packte den Jungen bei der Schulter und drehte ihn in ihre Richtung.
»Sie hat dir … verziehen. Entschuldige dich … wenigstens jetzt.«
Der Junge neigte seinen Kopf noch ein wenig tiefer als ohnehin schon und offenbarte den doppelten Haarwirbel auf seinem Scheitel. Dann hob er den Kopf ein wenig an und piepste:
»’tschuldigung.«
Seon-suk winkte ab. Dok-go legte den Arm auf die Schulter des Jungen, wie ein Vater seinem Sohn, und verließ mit ihm den Laden. Sie setzten sich draußen an den Plastiktisch und begannen in harmonischer Stimmung, den Samgak-gimbap aus der Verpackung zu schälen.
Seon-suk sah eine Weile zu, wie die beiden dort zusammen aßen und lachten. Was war da gerade passiert? Es war ein Junge gekommen, der hatte etwas geklaut, sie hatte ihn zur Rede gestellt, und er hatte ihr den Gimbap an die Stirn geschleudert. Dann hatte er fliehen wollen, aber da war Dok-go aufgetaucht und hatte ihn festgehalten. Dok-go hatte die gestohlenen Sachen bezahlt und dem Jungen eine Entschuldigung abgenötigt.
Und eigentlich war sie das Opfer gewesen, denn sie war bestohlen worden und hatte den Gimbap ins Gesicht bekommen. Aber weil Dok-go die Sache so schnell geregelt hatte, hatte sie gar keine rechte Gelegenheit gehabt, um wütend zu werden. Normalerweise wäre sie in einem solchen Fall herumgelaufen und hätte ihrem Ärger bei jedem, der es hören wollte oder nicht, Luft gemacht, aber seltsamerweise war ihre Wut nun weitgehend verebbt, und ihr fiel fast nichts mehr ein, was sie hätte sagen können.
Sie sah einfach zu, wie Dok-go und »Jjamong« dort draußen gemeinsam ihren Samgak-gimbap frühstückten wie Vater und Sohn. Es war ein seltsames Gefühl. Das Gefühl der Erleichterung, der Vergebung, eine ungekannte innere Aufregung, all das gab ihr plötzlich Kraft. Dass sie in diesem sonderbaren, turbulenten Drama, in diesem Dreieck der Charaktere, eine Ecke hatte besetzen dürfen, kam ihr eigenartig und interessant zugleich vor, und ihr war beinahe danach, ebenfalls eine Packung Samgak-gimbap aufzureißen und sich zu den beiden dort an den Tisch zu setzen.
Dok-go musste sich die ganze Zeit um Jjamong gekümmert haben. Sonst hätte der Junge Dok-gos Anweisungen nicht so brav Folge geleistet … Ihre Stirn fühlte sich noch immer ein wenig taub an, aber dass sie, die bisher kaum jemandem etwas nachgesehen hatte, sich heute für ihre Verhältnisse so untypisch gab, hatte auch für sie etwas Erfrischendes.
Mit anderen Worten: Sie hatte gute Laune bekommen.
Eigenartigerweise begannen, wenn sie Dok-go begegnete, ihr Unverständnis und ihre Genervtheit nun einem sonderbaren Gefühl der Sicherheit zu weichen. Tatsächlich betraf das nicht nur Seon-suk, sondern die gesamte Atmosphäre im Laden. Diese begann sich zu wandeln, wie wenn sich im Laufe des Vormittags die Richtung der Sonnenstrahlen allmählich verändert.
Mit einem Mal begannen die Großmütterchen aus dem Viertel, die den 24-Stunden-Laden immer als zu teuer betrachtet hatten und zum Einkaufen nur in die kleinen Lebensmittelläden in den Gassen oder in den Supermarkt gegangen waren, den Laden aufzusuchen, und wenn sie durch die Glastür hereinkamen und zwischen den Regalen umherschlenderten, hätte man den Eindruck gewinnen können, sie befänden sich auf einem Ausflug. Die Großmütterchen klopften Dok-go, wenn er gerade beim Saubermachen war, freundlich auf den Rücken und erkundigten sich nach diesem und jenem, und Dok-go führte sie zwischen den Regalen umher und machte sie auf 2+1- oder 1+1-Sonderangebote aufmerksam.
»Wenn Sie … das hier … und das hier nehmen, dann können Sie … richtig sparen.«
»Oh, dann ist das ja sogar billiger als im Supermarkt.«
»Was hab ich dir gesagt! Ein 24-Stunden-Laden muss nicht teuer sein! Wie gut, dass uns dieser Herr über alles so hervorragend informiert.«
»Unsere Augen sind ja auch nicht mehr so gut, da können wir vieles gar nicht genau lesen. Woher sollen wir das denn wissen, dass man zwei zum Preis von einem bekommt? Und woher sollen wir wissen, ob das dann auch genauso stimmt?«
Dok-go nahm den Einkaufskorb mit den Sachen, welche die alten Damen ausgewählt hatten, stellte ihn vor Seon-suk ab und lächelte. Sie fühlte sich an einen Golden Retriever erinnert, der brav den von Frauchen geworfenen Ball apportiert hat und nun zur Belohnung sein Leckerli einforderte. Doch halt, was tat er denn nun? Nachdem die Bezahlung abgeschlossen war, nahm er den vollen Korb und ging gemeinsam mit den Frauen nach draußen. Etwas später kehrte er mit dem leeren Korb wieder zurück. Als sie sich erkundigte, was das zu bedeuten habe, erklärte er, er habe den Frauen die Sachen nach Hause gebracht, weil er den Eindruck gehabt habe, sie hätten sonst zu schwer tragen müssen. War das jetzt die neueste Art von Lieferservice? Seon-suk war sprachlos. Dok-gos altersehrfürchtigem Lieferdienst war es allerdings zu verdanken, dass die Großmütterchen nun zur Stammkundschaft gehörten und am Vormittag für deutlich höheren Umsatz sorgten. Jetzt, in den Ferien, brachten sie außerdem oft ihre Enkelkinder mit, die sich darauf verstanden, in der Süßwarenecke Omas Kleingeld hervorzulocken.
»Wie kommt denn das? Der Vormittagsverkauf wirft jetzt irgendwie viel mehr Geld ab«, wunderte sich die Chefin. Seon-suk beeilte sich, darauf hinzuweisen, wie eifrig sie sich bemühe, den Verkauf am Vormittag anzukurbeln. Dabei war sie darauf bedacht, sämtliche Lorbeeren allein einzuheimsen, und ließ Dok-gos Bemühungen um die Anwerbung der zahlreichen Großmütter und Enkelkinder wohlweislich unerwähnt. Zumindest besaß sie so viel Anstand, Dok-go gegenüber nun etwas sanfter und aufgeschlossener aufzutreten.
»Sag mal, dem Kerl von neulich, gibst du dem immer noch Samgak-gimbap? Zu meiner Dienstzeit hat der sich hier überhaupt nicht mehr blicken lassen.«
»Der … kommt nicht mehr. Er meinte … er wollte wieder … nach Hause gehen.«
»Und das glaubst du? Du hast mir doch gesagt, der wohnt mit anderen Ausreißern in irgendeiner Halbkellerwohnung.«
»Er ist weg. Ich hab … nachgeguckt.«
»Wo?«
»In der Halbkeller…wohnung. Wo Jjamong und die anderen … gewohnt haben.«
»Was? Wieso bist du denn dahin?«
»Weil ich mir … Sorgen gemacht hab. Aber das Zimmer war … leer, und alle … waren weg.«
»Hör mal, das ist ja nett, dass du dir Sorgen um die machst, aber solltest du dir nicht lieber selber mal eine vernünftige Wohnung suchen?«
»Brauch ich … nicht. Leute wie mich … bezeichnet man ja nicht umsonst als … obdachlos.«
»Aber jetzt doch nicht mehr. Du bist doch jetzt ganz regulär berufstätig.«
»Davon bin ich noch … weit entfernt.«
»Was soll das heißen, weit entfernt?«
»Ich bin von allem … weit entfernt.«
»Na, na, keine falsche Bescheidenheit. Und … du weißt doch, dass es mir leidtut, dass ich dich eine Weile nicht richtig verstanden hab?«
»Mir … also mir … tut es leid, dass … ich so war, dass … man mich nicht verstanden hat.«
»Jedenfalls, zieh aus deiner Schlafzelle aus und erkundige dich nach einer Einzimmerwohnung. Du musst doch wenigstens richtig schlafen können.«
»Danke … für die freundlichen Worte.«
Er nickte brav wie ein großer Hund, der den Worten seines Frauchens folgte, und machte sich dann gemächlich auf, um — weit nach seinem eigentlichen Schichtende — Feierabend zu machen. Wo sonst auf der Welt gab es eine Teilzeitkraft, die vier Stunden länger arbeitete als von ihr verlangt? Er war der Grund dafür, dass der Laden seinen Umsatz steigerte und dass auch Seon-suks Arbeit am Vormittag reibungsloser vonstattenging, und so begann sie nun, Vertrauen zu ihm zu fassen. Es musste etwa zu dieser Zeit gewesen sein, dass sie ihn nicht mehr nur als Bären, sondern zumindest als Hund zu betrachten begann.
Das Jahr ging seinem Ende entgegen. Die Chefin verkündete, dass Si-hyeon von einer anderen Filiale des gleichen Unternehmens angeheuert worden sei und die Arbeitszeiten deshalb neu aufgeteilt werden müssten. Angeheuert? Na so was. Dok-go betrieb einen kostenlosen Lieferservice, und Si-hyeon wurde angeheuert. Es gab schon wirklich kuriose Aushilfsjobber … Da musste wenigstens sie selbst die Stellung halten. So war Seon-suk nicht unerfreut, als die Chefin ihr vorschlug, ihre Arbeitszeiten etwas auszudehnen. Si-hyeons ursprüngliche Arbeitszeit wurde zwischen Dok-go und ihr aufgeteilt, sodass sie nun zwei Stunden später nach Hause ging als bisher.
Das neue Jahr brach an, es gab viel zu tun, und sie versuchte, sich etwas mehr in Schwung zu bringen. Aber immer wieder fühlte sie sich müde, was vielleicht auch daran lag, dass sie eben wieder ein Jahr älter geworden war. Auch zu Hause ging es nach wie vor drunter und drüber. Nun, wo sie zwei Stunden später nach Hause kam, aß ihr Sohn zu Mittag immer Instantnudeln, wohlverstanden ohne einen Gedanken an anschließendes Aufräumen oder den anfallenden Abwasch zu verschwenden. Da sie davon ausgegangen war, dass das mit seiner konzentrierten Lernarbeit zusammenhinge, traf es sie um so härter, dass die aus seinem Zimmer dringenden Geräusche eher auf einen verstärkten Konsum von Online-Computerspielen hindeuteten.
Es war nicht daran zu denken, dass der Knabe ihr vielleicht irgendwie ein wenig Hilfe geleistet hätte, nein, das Einzige, wofür er sorgte, wenn sie nicht zu Hause war, war noch größere Unordnung. Sie hegte ja nicht einmal mehr den Wunsch, dass er ein guter Sohn sein möge und sich an der Hausarbeit beteiligte. Aber auch jetzt, wo das neue Jahr anbrach und sie durch die zusätzliche Arbeit an den Rand ihrer Kräfte getrieben wurde, verhielt sich ihr dreißigjähriger Sohn wie ein kleiner Junge. Beziehungsweise schien es so, als wollte er um jeden Preis in die aufmüpfigen Jahre seiner Jugend zurückkehren, vielleicht weil ihm in seiner Mittel- und Oberstufenzeit, als er noch ein Musterschüler gewesen war, nicht genügend Amüsement vergönnt gewesen war. Dass ihr Sohn, Anwärter auf die Diplomatenprüfung, sich aufführte wie ein Teenager, der im Internet-Café vor irgendwelchen Ballerspielen hockte, machte sie traurig und wütend.
Als sie nach Hause kam, hielt sie es nicht länger aus und klopfte an seine Tür, was allerdings aufgrund des Lärms, den das Computerspiel verursachte, keinerlei Wirkung zeigte. Sie griff nach der Türklinke. Es war abgeschlossen. Der Türgriff fühlte sich an wie die kalte Hand ihres Sohnes, der immer nur zu ihr kam, wenn er etwas brauchte. Nun konnte sie ihre Wut nicht länger zurückhalten. Mit voller Wucht hämmerte sie gegen die Tür.
»Mach auf! Ich muss mit dir reden!«
Offenbar war es ihr mit ihrem Gehämmere und Geschrei gelungen, die Dezibelzahl des Computerspiels zu überbieten, denn ihr Sohn öffnete und schaute ihr missmutig entgegen.
»Ich weiß schon, was du sagen willst. Lass es einfach, okay?«
Sein Tonfall stand dem Geballere aus dem Computerspiel an Aggressivität in nichts nach. Sein fettglänzendes Gesicht wirkte müde, und über den Shorts, die er trug, quoll sein Bauchspeck hervor. Shorts. Mitten im Winter. Da hockte er in der Wohnung und drehte bis zum Anschlag die Heizung auf. Es war erbärmlich. Nichts war mehr zu erkennen von dem jungen Mann, der einst in dunkelblauem Anzug und mit ordentlich geschnittenem Haar seinem ersten Tag in der großen Firma entgegengeblickt hatte. Übrig geblieben war ein Riesenbaby, das nicht einmal mehr sein Zimmer, geschweige denn das Haus verließ.
Die vorwurfsvollen Blicke seiner Mutter ignorierend, wollte er schon zurück in sein Zimmer gehen, da griff sie plötzlich nach seinem Arm und hielt ihn fest. Er verdrehte die Augen, vielleicht weil er nur ein T-Shirt trug und sich ihre Fingernägel schmerzhaft in seinen Unterarm krallten. Wennschon, dennschon. Sie packte umso fester zu.
»Lass mich los! Ich muss lernen.«
»Von wegen. Was machst du denn die ganze Zeit? Hä?«
»Du hast doch gesagt, ich soll Diplomat werden. Also pauke ich den Stoff durch, mache zwischendurch mal Pause und entspanne mich bei einem Computerspiel, na und? Schließlich bin ich kein Kind mehr. Ich habe fleißig gelernt, war auf einer guten Universität und in einem großen Unternehmen. Ich weiß, wie man lernt, also mach hier keinen Aufstand.«
»Na, du bist gut! Was soll ich denn machen? So sieht es also aus, wenn du lernst, ja? Verbarrikadierst dich in deinem Zimmer, spielst ununterbrochen Computerspiele und ernährst dich ausschließlich von Instantnudeln? Wenn du schon nicht zum Spazierengehen rausgehst, such dir lieber ein Zimmer im Wohnheim, wo du in Ruhe lernen kannst!«
»Boah, geht mir das auf den Sack! Dein ätzendes Genörgel!«, brüllte er, schüttelte ihren Arm ab und verschwand in seinem Zimmer. Peng! Er knallte die Tür zu und drückte den Knopf des Türschlosses. Seon-suk fühlte, wie irgendwo in ihr auch ein Knopf gedrückt wurde. Wieder hämmerte sie gegen die Tür. Das war ihre Antwort darauf, dass er sie so angeschnauzt hatte, als wäre sie nicht mehr bei Trost. Ihr Sohn allerdings reagierte damit, dass er den Sound des Computerspiels wieder voll aufdrehte. Bei dem jetzt umso heftigeren Geballere hatte sie das Gefühl, als würde ihr ganzer Leib von Gewehrkugeln durchsiebt.
Als ihre Hand zu schmerzen begann, fing sie an, stattdessen mit der Stirn die Tür zu rammen. Kung! Kungkung! Kungkung! Bis sich irgendwann in ihrer Stirn eine gewisse Taubheit einzustellen begann. Sie gab es auf. Ihr rannen Tränen übers Gesicht, und ihr Herz raste, aber sie hatte keinen Ehemann mehr, mit dem sie ihren Schmerz hätte teilen können. Nun blieb ihr nichts anderes übrig, als all ihren Freundinnen gegenüber lauthals zu klagen, was bloß aus ihrem Sohn geworden sei, mit dem sie doch früher immer so geprahlt hatte. Und wie ein fernes Echo klang in ihrem Ohr das neiderfüllte Getuschel hinter ihrem Rücken nach, damals, als ihr Sohn die Stelle in jenem Großunternehmen bekommen hatte.
Auch wenn sie nach dem vielen Weinen erst spät und vollkommen erschöpft in den Schlaf gesunken war, stand sie pünktlich um sieben Uhr morgens auf. Immer noch drangen die Geräusche des Computerspiels aus dem Zimmer ihres Sohnes. Es war abartig. Ohne sich um das Frühstück zu kümmern, das sie ihm für gewöhnlich hinstellte, warf sie sich nur den Mantel über und verließ fluchtartig das Haus. Am liebsten hätte sie dieses Haus und ihren Sohn für immer verlassen. Doch der einzige Ort, an den sie sonst gehen konnte, war ihr Arbeitsplatz.
Als sie die Tür öffnete und in den Laden trat, war Dok-go nicht an der Kasse. Sie drehte sich um und entdeckte ihn, wie er damit beschäftigt war, die neu eingetroffenen Bechernudeln im Verkaufsregal mit penibler Genauigkeit in Reih und Glied zu bringen. Obwohl sie einmal angedeutet hatte, ganz so akribisch müsse er dabei nicht vorgehen, hatte er sich nicht davon abbringen lassen, weiterhin ein Produkt nach dem anderen in schöner gerader Linie aufzustellen. Ihr drängte sich der Vergleich zu ihrem armseligen Sohn auf. Zum ersten Mal hatte sie das Gefühl, dass ihr Sohn mit diesem Mann mittleren Alters, der erst vor Kurzem sein Dasein als Straßenpenner hinter sich gelassen hatte, nicht mithalten konnte. Und bei diesem Gedanken fühlte sie sich selbst um so miserabler.
»Da sind Sie ja«, bemerkte er, noch immer eifrig mit der Auslage beschäftigt. Seon-suk gelang keine richtige Antwort. Wieder stiegen die Tränen in ihr auf. Schnell verdrückte sie sich in die Abstellkammer. Auch als sie sich ihre Dienstweste angezogen hatte, wollten die Tränen nicht versiegen. Ihr Sohn zog im Vergleich mit einem Straßenpenner den Kürzeren … Doch Moment, war Dok-go jetzt nicht ein solides Mitglied der Gesellschaft? Auch wie er sprach, klang viel natürlicher als früher. Im Vergleich zu ihm war ihr Sohn, der computerspielsüchtig in seinem Zimmer versumpfte, ein aus der Gesellschaft gefallener Loser, dem eine düstere Zukunft bevorstand. Er schien wirklich ganz nach seinem Vater zu kommen, und vielleicht, so dachte sie sich, würde aus ihm niemals ein erwachsener Mensch werden, sondern nach langer Zeit des Herumtrödelns schließlich auch ein Straßenpenner oder ein Gammler. Bei diesem bitteren Gedanken, der ihren Kopf nicht mehr verlassen wollte, sackte sie zu Boden und ließ ihren Tränen freien Lauf.
Als sie sich wieder gesammelt hatte, blickte sie auf. Da stand Dok-go und schaute durch die offene Tür der Abstellkammer zu ihr herunter.
Schweigend reichte er ihr die Hand. Sie griff danach und stand auf. Vor ihren Augen tauchte eine Rolle Klopapier auf, die er in der Hand hielt. Sie wischte sich ihren Rotz und ihre Tränen aus dem Gesicht. Auch den Speichel, der ihr aus dem Mund tropfte. Doch noch immer fühlte es sich an, als würde in ihr ständig etwas aufplatzen, und sie holte ein paarmal tief Luft, um wieder zu Atem zu kommen.
Dok-go führte sie aus der Abstellkammer heraus in den Laden, wo das strahlende Sonnenlicht durch die Fenster hereinfiel. Er ging zum Getränkeregal und nahm eine Flasche Maisbarttee heraus.
»Mais…maisbarttee. Hilft, wenn man … betrübt ist.«
Er hielt ihr die Flasche hin. Was sollte das nun wieder heißen? Sie war irritiert. Er schenkte ihr von dem Tee ein und reichte ihr den Becher. Sie sah, dass er es gut meinte, nahm ihm schließlich den Becher ab und trank. Irgendwie musste sie dem, was da in ihr an die Oberfläche drang, Einhalt gebieten. Sie stürzte den Maisbarttee hinunter wie kühles Bier im Hochsommer.
Der Durst war verschwunden, und nun sprudelte es ungehemmt aus ihr hervor. Dok-go, als hätte er darauf gewartet, hörte zu, was sie erzählte, während sie an der Kasse stand. Alles platzte aus ihr heraus, begonnen mit der Klage über ihren Sohn, der zu einem so erbärmlichen Schuft verkommen sei und sie zum Weinen bringe. Dok-go stand ihr gegenüber, nickte immer wieder bedächtig und hörte sich an, wie sie ihrem Unmut, begleitet von manchem Seufzer, Luft machte.
»Ich verstehe das einfach nicht. Warum hat er seinen sicheren Arbeitsplatz so leichtfertig aufgegeben und verschwendet sein Leben jetzt mit so nutzlosem Kram? Aktienspekulation, Filmproduktion, das ist doch das reinste Glücksspiel, oder nicht? Das sorgt doch nicht für ein verlässliches Einkommen. Und wann hat das bloß angefangen, dass er so komisch geworden ist? Wann?«
»Er ist doch … noch jung.«
»Er ist dreißig. Dreißig! Ein dreißigjähriger Arbeitsloser, der nicht erwachsen werden will.«
»Haben Sie … denn mal mit ihm … darüber gesprochen?«
»Der hört ja sowieso nicht auf mich. Sträubt sich und rennt vor mir weg. Ich habe immer wieder versucht, mit ihm zu reden. Zuerst hat er mich ignoriert, und jetzt weicht er mir aus. Ich bin für ihn nichts anderes als eine Dienstmagd oder eine Hauswirtin.«
»Hören Sie doch erst mal, was er … zu sagen hat. Ich glaube, im Moment … will er einfach nicht zuhören … Und Sie wollen … ihm auch nicht zuhören.«
»Was?«
»Sie hören mir doch auch gerade zu … Hören Sie Ihrem Sohn auch so zu. Warum er … in der Firma aufgehört hat, warum er … das mit den Aktien … gemacht hat, warum … er Filme gemacht hat. Solche Sachen.«
»Und dann? Es ist doch nur deshalb alles schiefgegangen, weil er einfach gemacht hat, worauf er Lust hatte. Und jetzt redet er auch nicht mehr mit mir!«
»Aber er hat doch vorher mit … Ihnen geredet, oder nicht?«
»Puh … Vor drei Jahren vielleicht. Als er gesagt hat, er schmeißt in der Firma hin, hab ich natürlich vor Wut geschäumt. Wie kann er in einem so angesehenen Unternehmen einfach aufhören, wo er die Stelle doch nur mit viel Mühe bekommen hat! Ist doch wahr!«
»Also … wissen Sie, warum er da … aufgehört hat?«
»Nein, woher denn?«
»Dann fragen Sie ihn noch mal. Warum er da … aufgehört hat. Was da so anstrengend … war. Das weiß doch nur er. Und Sie müssen es doch auch wissen … Es ist schließlich die Arbeit von … Ihrem Sohn.«
»Ich hatte damals Sorge, dass er wirklich hinschmeißt, wenn ich mir anhöre, was er sagt. Deshalb habe ich stattdessen versucht, ihm Druck zu machen. Als ich gefragt habe, was er sich eigentlich einbilde, hat er nur irgendwas vor sich hin genuschelt, und ich habe ihm gesagt, er solle unbedingt durchhalten. Ich bin einfach laut geworden. Wie damals, als sein Vater von zu Hause weggegangen ist.«
Seon-suk breitete ihre gesamte Geschichte aus. Sie spürte, wie ihre Augen wieder feucht wurden. Da erst begann sie sich zu fragen, was sie wohl für einen Eindruck auf Dok-go machte, und unterdrückte ihre Tränen. Einen Augenblick lang schien er scharf nachzudenken, ein Zucken in seinem Gesicht, dann lächelte er sie still an.
»Sie hatten Angst. Dass ihr Sohn … genauso wird wie sein Vater.«
Seon-suk hörte schlagartig auf zu weinen. Dann merkte sie, wie ihr Kopf nickte.
»Ja, das stimmt … Ich hatte gehofft … mein Sohn würde anders werden … Aber nun fürchte ich, dass ich ihn falsch erzogen habe. Ich habe mein Bestes gegeben, aber er will mich nicht verstehen. Sitzt nur den ganzen Tag im Zimmer und spielt am Computer …«
Dok-go hielt ihr wieder die Taschentücher hin. Sie trocknete ihre Tränen. Da kam ein Kunde in den Laden. Dok-go ging zum Lagerraum, und Seon-suk brachte ihre Kleidung in Ordnung und begab sich an die Kasse, um den Kunden zu bedienen.
Als der Kunde gegangen war, kam Dok-go wieder zu Seon-suk. Sie lächelte ihn etwas unbeholfen an. Inzwischen hatte sie sich ein wenig beruhigt.
»Ich habe wohl ein bisschen zu viel geredet, was? Es war einfach alles so anstrengend … Ich habe niemanden, mit dem ich sonst darüber sprechen könnte … Nach unserer Unterhaltung fühle ich mich etwas befreiter. Danke.«
»Es ist so.«
»Was?«
»Wenn jemand zuhört, dann befreit das.«
Seon-suk sah den Mann, der da vor ihr stand, mit großen Augen aufmerksam an.
»Hören auch Sie zu, was Ihr Sohn Ihnen sagt. Das … befreit. Wenigstens ein bisschen.«
Tatsächlich ging es ihr da erst auf, dass sie ihrem Sohn eigentlich nie richtig zugehört hatte. Sie hatte einfach nur gewollt, dass er genauso lebte, wie sie es sich für ihn wünschte, aber sie hatte nie gefragt, welche Sorgen und Probleme denn dazu geführt hatten, dass er, der einstige Musterschüler, die von ihr vorsorglich vorgezeichnete Spur verlassen hatte. Sie war so damit beschäftigt gewesen, ihn dafür zu kritisieren, dass er vom rechten Weg abgekommen war, dass sie gar nicht auf die Idee gekommen war, ihm zuzuhören und ihn nach den Gründen zu befragen.
»Das hier …«
Dok-go legte rasch etwas auf den Tresen. Ein 1+1-Set Samgak-gimbap. Sonderangebot. Als er Seon-suks fragenden Gesichtsausdruck sah, lachte er sie an.
»Geben Sie das Ihrem Sohn.«
»Meinem Sohn? Wieso?«
»Jjamong hat gesagt … Samgak-gimbap ist genau richtig … beim Computerspielen. Wenn Ihr Sohn Computerspiele macht, dann … geben Sie ihm das.«
Seon-suk starrte wortlos auf den Gimbap, den Dok-go auf den Kassentisch gelegt hatte. Ihr Sohn hatte Samgak-gimbap immer schon gerne gemocht. So sehr, dass er sie anfangs sogar darum gebeten hatte, ihm etwas von dem abgelaufenen Gimbap mitzubringen. Das hatte sie zunächst auch gemacht, aber dann irgendwann damit aufgehört. Weil sie es nicht länger ertragen hatte, wie er diesen Gimbap aß, in sein Zimmer verkrochen und vor dem Computer hockend.
Während sie den Samgak-gimbap weiter betrachtete, drangen Dok-gos leise dahingemurmelte Worte an ihr Ohr.
»Aber Sie sollten ihm nicht nur … den Gimbap geben. Geben Sie ihn ihm … zusammen mit einem Brief.«
Seon-suk hob den Kopf und sah Dok-go an. Er blickte ihr geradewegs in die Augen. Er hatte wirklich etwas von einem Golden Retriever, fand sie.
»Schreiben Sie in dem Brief, dass sie … ihm in der Zeit … nicht richtig zugehört haben. Und dass Sie ihm jetzt … zuhören wollen. Und bitten Sie ihn, dass er mit Ihnen redet. Und den Samgak-gimbap, den … den legen Sie obendrauf.«
Seon-suk betrachtete wieder den dreieckigen Reis-Snack auf der Ladentheke. Sie biss sich auf die Lippe. Dok-go holte drei zerknitterte Eintausend-Won-Scheine aus der Hosentasche.
»Das bezahle ich. Einmal … einscannen bitte.«
Seon-suk tat, wie ihr geheißen, als handelte es sich um die Anweisung ihrer Chefin, und hielt das Lesegerät an den Barcode. Man hörte den Piepton und eine elektronische Stimme: »Die Bezahlung ist abgeschlossen.« Da fühlte es sich an, als wäre auch eine lange, zermürbende Phase der Angst und Unsicherheit in ihrem Kopf nun abgeschlossen. Als sie hörte, was Dok-go, der aussah wie ein lieber großer Hund, sagte, da nickte Seon-suk, die Hunden mehr vertraute als Menschen, noch einmal.
Dok-go zeigte sein strahlendes Lächeln, dann drehte er sich um und ging aus dem Laden. Klingeling! Das Geräusch der Türglocke klang zu ihr herüber, und unwillkürlich begann der Brief, den sie ihrem Sohn unter den Samgak-gimbap legen würde, in ihrem Kopf Gestalt anzunehmen.