Kein einladender Laden

Das Leben ist eine endlose Folge zu lösender Probleme. In-gyeong schob ihren Koffer laut klappernd über den schlecht gepflasterten Gehweg. Sie sah sich um. Ihre erste zu lösende Aufgabe am heutigen Tag bestand darin, die Unterkunft für diesen Winter zu finden. Zum Glück stand schon fest, wo sie wohnen würde. Aber sie hatte einen ausgesprochen schlechten Orientierungssinn, und so war es für sie eine echte Herausforderung, im Gassengewimmel dieses alten Seouler Stadtviertels ein ganz bestimmtes Haus zu finden. Vom Bahnhof Namyeong bis zur Kirche von Cheongpa-dong hatte sie es mithilfe der App auf ihrem Handy problemlos geschafft, aber als sie hinter der Kirche in eine kleine Gasse eingebogen war, hatte sich ihr iPhone aufgehängt. Winter is coming! Kaum dass es Herbst geworden war und die kalte Jahreszeit begonnen hatte, hatte ihr altes Handy immer wieder unangekündigt gestreikt. So befand sich In-gyeong nun in einer Situation, in der nicht nur der Schwierigkeitsgrad der ohnehin komplizierten Wegsuche ein unwillkommenes Upgrade erfahren hatte, sondern auch ihr letzter Rettungsanker, die Möglichkeit, sich telefonisch nach dem Weg zu erkundigen, abhandengekommen war. So ein Mist … Das Fluchen konnte sie sich sparen, stattdessen musste sie irgendwo Hilfe finden.

Als sie inmitten der engen Gässchen an einer Weggabelung den Laden entdeckte, nahm sie ihre letzte Kraft zusammen, um ihren Koffer über die Ziellinie zu bugsieren. In diesem Laden, der rund um die Uhr für Kunden da war, musste man ihr doch helfen können. Sie ließ den Koffer im Eingangsbereich stehen und griff nach einer Tafel Schokolade im Regal direkt vor ihr. Sie drehte sich um. An der Kasse stand eine groß gewachsene Frau Mitte zwanzig und beobachtete sie.

Nachdem sie die Schokolade bezahlt hatte, riss In-gyeong die Verpackung auf und biss ein Stück ab. Nun, da sie ihren Blutzuckerspiegel wieder ins Gleichgewicht gebracht hatte, hörten ihre Arme und Beine, die vom mühsamen Koffertransport erschöpft gewesen waren, auf zu zittern. Sie spürte den Blick der Ladenmitarbeiterin auf sich ruhen, bis sie die gesamte Tafel Schokolade weggeknabbert hatte. Sie zerkaute die letzten noch in ihrem Mund verbliebenen Krümel, laut schmatzend, als wäre es Kaugummi, und fragte dann laut: »Kann ich hier mal telefonieren?«

Die Ladenmitarbeiterin gab ihre Erlaubnis. In-gyeong bedankte sich mit einem Kopfnicken, legte ihren Koffer auf den Boden, öffnete ihn und holte ein Notizheft heraus. Zum Glück hatte sie die Nummer darin notiert. Diese wählte sie nun auf dem Festnetztelefon des Ladens, und kurz darauf meldete sich am anderen Ende der Leitung die Stimme einer jungen Frau. In-gyeong sagte ihren Namen und erklärte in aller Ausführlichkeit, dass sie aus einem 24-Stunden-Laden anrufe, da ihre Handybatterie aufgebraucht sei. »24-Stunden-Laden? Sind Sie vielleicht gerade im Always?« Als In-gyeong bejahte, brach die Frau in lautes Lachen aus. Die Wohnung befinde sich im Haus direkt gegenüber, im zweiten Obergeschoss. In-gyeong ließ den Hörer sinken und sah aus dem Fenster. Da öffnete sich drüben im zweiten Stock ein Fenster, und eine Frau, die lächelte und genauso aussah wie Hui-su, winkte ihr zu.

In-gyeong hatte den vergangenen Herbst im Toji-Kulturzentrum in Wonju verbracht. Bak Gyeongni, die berühmte Autorin des Monumental-Epos Toji, hatte dieses Zentrum zu Lebzeiten als Residenz für den künstlerischen Nachwuchs gegründet, wo jungen Literaten und Künstlern kostenlos eine Schreibstube und drei Mahlzeiten am Tag angeboten wurden. In-gyeong war, seit sie Schriftstellerin geworden war, das erste Mal hier. Und hier, im Toji-Kulturzentrum, wohin sie sich nach langem Zögern aufgemacht hatte, wollte sie ihre Schriftstellerlaufbahn auch beenden.

Ihre Mietwohnung in der Daehangno hatte sie geräumt, sämtliches Gepäck in ihr Elternhaus geschickt und nur einen Koffer mit nach Wonju genommen. Das Toji-Kulturzentrum lag am Rande der Stadt in einer ruhigen Siedlung mitten im Wald und war für Menschen, die Bücher schrieben, ein idealer Rückzugsort. Hier war man für sich und wurde von niemandem gestört. Man konnte Tag für Tag auf einem schönen Waldweg spazieren gehen, der zum Verweilen und zum Entfalten der eigenen Gedanken einlud, und man bekam gesunde Mahlzeiten. Lebten die Schreibenden sonst weitgehend jeder für sich auf ihrem jeweiligen Planeten, bestand im hiesigen Alltag die anregende Gelegenheit, einander vorsichtig zu umkreisen und mit Blicken zu begegnen. Manche vergnügten sich nach dem Mittagessen zusammen beim Tischtennis, manche gingen nach dem Abendessen an den nahe gelegenen Wasserlauf, um dort gemeinsam einen Becher Makgeolli zu trinken. Normalerweise hätte sich In-gyeong, die ein lebhaftes Naturell besaß, überall schnell dazugesellt, diesmal hatte sie jedoch beschlossen, sich Zeit für sich selbst zu nehmen. Denn wieder war ihr der Gedanke gekommen, dass sie ganz mit dem Schreiben aufhören würde, wenn sie auch hier keinen Text zustande brächte. Dass sie für sich blieb, bedeutete zwar nicht, dass ihr das Schreiben nun leicht von der Hand gegangen wäre, besondere Anspannung jedoch empfand sie deswegen nicht. Das musste sie eben aushalten. Selbst wenn sie etwas geschrieben hätte, wäre vollkommen unklar gewesen, ob und wenn ja, wann das Stück schließlich auf die Bühne käme. Die Frage, ob sie weiter als Theaterautorin würde überleben können, nahm, ebenso wie das ringsum leuchtende Herbstlaub, immer kräftigere Farben an.

Es waren etwa drei Wochen seit ihrer Ankunft vergangen, da kam Hui-su auf sie zu. Sie war eine Schriftstellerin von mittlerem Bekanntheitsgrad, unterrichtete Literatur an einer Universität in Gwangju und hätte vom Alter her In-gyeongs Tante sein können. In-gyeong hatte ihr Sabbatjahr damit verbracht, eine Tour durchs ganze Land zu machen, um die nationale Literaturszene zu erkunden, und das Toji-Kulturzentrum war ihre letzte Station. Hui-su war auf In-gyeong aufmerksam geworden, die ihr befristetes Schriftstellerinnendasein einsam und abgesondert in ihrem Schreibzimmer verbrachte.

»Dass du dich in die Schreibstube zurückziehst, um mit dem Schreiben aufzuhören, klingt ja wirklich roma-nesk Als Bühnenstück käme wohl absurdes Theater dabei heraus?«

»Es ist einfach … hoffnungslos. Ich habe meine Grenzen gespürt. Erst habe ich ganz naiv gedacht, es sei einfach das normale Auf und Ab des Lebens, aber ich glaube, ich bin einfach erschöpft.«

»Ruh dich aus. Das hat Bak Gyeongni zu Lebzeiten immer gesagt. Auch wenn man das Gefühl hat, hier überhaupt nichts zu schreiben, sondern nur herumzuhängen, ist das vollkommen in Ordnung, denn auch das gehört zum Schreibprozess. Also, nutze auch du die Zeit hier, um nachzudenken und dich innerlich von dem zu befreien, was rausmuss. Schreiben, ohne nachzudenken, bedeutet nur, dass man etwas in den Computer tippt, mit wahrer Schreibarbeit hat es aber nichts zu tun.«

»Vielen Dank für die aufmunternden Worte. Ich habe das Schreiben nie richtig gelernt. Da sind Ihre Hinweise für mich wirklich eine große Hilfe, Frau Professor.«

»Nenn mich einfach Hui-su. Und wenn du einen Spaziergang machst, geh nicht immer allein, sondern lass uns ab und zu zusammen gehen.«

Auf ihrem ersten gemeinsamen Spaziergang spendete Hui-su ihr herzerwärmenden Trost. Von da an gingen sie immer gemeinsam spazieren. Sie machten Spaziergänge am Ufer des Sees, auf dem in der Nähe gelegenen Campus der Yonsei-Universität und auf den Waldwegen der Umgebung, und als sich ihr Aufenthalt dem Ende entgegenneigte, stiegen sie zusammen auf den Berg Chiaksan. Beide spürten, dass sie einander feste Wegbegleiterinnen geworden waren und ihnen der Abschied nicht leichtfallen würde.

Eine Woche vor ihrem Auszug fragte Hui-su sie nach ihrem nächsten Reiseziel. Zwar hatte In-gyeong hier nicht viel aufs Papier gebracht, aber sie hatte Energie getankt und wollte sich, nach Seoul zurückgekehrt, wieder eine Schreibstube suchen. Ihren Traum, der sich in Seoul zu entfalten begonnen hatte, wollte sie auch in Seoul zu Ende bringen. Hui-su nickte zustimmend.

»Und wo willst du dir eine Schreibstube suchen?«

In-gyeong dachte an ein Zimmer in einem Gosiwon, einem eigens zur Examensvorbereitung vorgesehenen Wohnheim. Ihr mangelte es an Geld, und ihr mangelte es an Willen, und wenn sie in einem Gosiwon wohnte, würde sie sich in völlige Isolation begeben. Sie würde dort überwintern, und wenn es ihr nicht gelänge, ein Stück zustande zu bringen, würde sie ihren Traum begraben und in ihre Heimatstadt Busan zurückkehren.

In Busan gäbe es einiges, was sie tun könnte. Sie könnte im familieneigenen Betrieb auf dem Kkangtong-Markt in Nampodong arbeiten oder auch in einem der Läden, die von Freunden geführt wurden. Außerdem würden ihre Eltern sich nach einem geeigneten Ehemann für sie umsehen, und wenn sie sich nicht widersetzte, würde es dazu kommen, dass sie heiratete und Kinder bekam.

»Wenn ich wieder nach Hause gehe, kann ich, abgesehen vom Schreiben, alles Mögliche machen«, sagte sie und lächelte schüchtern. Hui-su zog zur Antwort etwas bemüht die Mundwinkel nach oben.

Am nächsten Tag fragte Hui-su sie, ob sie sich vielleicht vorstellen könne, anstelle des Gosiwon ein anderes Quartier zu beziehen. Ihre Tochter sei Studentin und werde die Semesterferien zu Hause in Gwangju verbringen, sodass ihr Zimmer, das in der Nähe der Sookmyung-Frauen-Universität liege, in dieser Zeit frei sei. Hui-su schlug vor, dass In-gyeong sich doch dorthin zum Schreiben zurückziehen könne. Als sie die Mischung aus Erstaunen und Zögern in In-gyeongs Gesicht sah, meinte Hui-su, es wäre ja ohnehin nur für drei Monate, weil ihre Tochter dann wieder nach Seoul komme, da könne In-gyeong sich in dieser Zeit doch ganz entspannt dem Schreiben widmen. In-gyeong wären beinahe die Tränen gekommen, darüber, wie rücksichtsvoll Hui-su ihr gegenüber war und wie freundlich sie geradezu darum bat, das Angebot eines kostenlosen Zimmers anzunehmen. Obwohl sonst eher von der forschen Art und nicht nahe am Wasser gebaut, musste In-gyeong doch schlucken, und anstatt mit Worten dankte sie Hui-su mit einem strahlenden Lächeln.

So hatte sie nun also gewissermaßen ein weiteres Mal für befristete Dauer eine Schreibstube gefunden, die möglicherweise die Endstation ihrer Schreibtätigkeit sein würde. Der Ort, wo sie vielleicht zum letzten Mal ihr Leben in Seoul, ihr Leben als Schriftstellerin, ihr Leben als Theaterschaffende würde führen können: ein Zimmer im zweiten Obergeschoss eines kleinen Mietshauses im Viertel Cheongpa-dong im Bezirk Yongsan-gu.

»Meine Mutter hat gesagt, ich soll dir unbedingt mal das Viertel zeigen, wenn du kommst … Aber wie machen wir das? Ich muss gleich zusammen mit meinem Freund nach Gwangju runterfahren …«

»Das ist schon okay. Ich sehe mich einfach allein ein wenig um. Und das Zimmer werde ich den Winter über schon sauber halten.«

»Du bist ja cool. Meine Mutter ist ja eher von der strengen Sorte … Aber du bist ganz locker drauf, hab ich das Gefühl, gar nicht, wie man sich eine Schriftstellerin vorstellt, na, vielleicht, weil du auch Schauspielerin bist.«

»Damit hab ich aufgehört. Ich bin eine gar gestrenge Schriftstellerin.«

Als In-gyeong auch noch die Stirn in Falten und eine verbiesterte Miene zog, brach Hui-sus Tochter in schallendes Gelächter aus. Gute Menschen brachten offenbar auch gute Kinder hervor. In-gyeong erinnerte sich daran, was Hui-su ihr am letzten Tag im Toji-Kulturzentrum noch mit auf den Weg gegeben hatte. In-gyeong hatte gesagt: »Ich hatte hier wirklich eine schöne Zeit, und das habe ich Ihnen zu verdanken. Aber … warum sind Sie eigentlich so freundlich zu mir?« Eine nutzlose, unbeholfene Frage, aber irgendwie wollte sie ausdrücken, was sie empfand. Hui-su dachte einen Moment lang nach. Dann antwortete sie:

»Bob Dylans Großmutter soll zu ihm einmal gesagt haben: ›Das Glück liegt nicht auf der Straße, die man irgendwohin geht, sondern es ist die Straße selbst. Und sei freundlich zu allen, die dir begegnen, denn sie alle haben hart zu kämpfen.‹«

Und sie sagte, als sie In-gyeong getroffen habe, sei ihr irgendwie Bob Dylan in den Sinn gekommen. Diese Antwort reichte ihr aus, und so konnte In-gyeong lediglich erwidern, dass sie auch Bob-Dylan-Fan sei.

Ein Jahr, nachdem Bob Dylan den Literaturnobelpreis erhalten hatte, hatte In-gyeong zu schreiben begonnen. So wie er als Sänger einen Literaturpreis gewonnen hatte, war sie als Schauspielerin Stückeschreiberin geworden, und deshalb hatte er für sie eine gewisse Bedeutung. Zu der Zeit, als er zum Nobelpreisträger gekürt worden war, hatte In-gyeong gerade eine Menge Kritik einzustecken, weil sie sich negativ über das Theaterstück eines Dramaturgen geäußert hatte, der älter war als sie. Der Vorwurf, dass eine Schauspielerin, die vom Schreiben keine Ahnung hatte, sich nicht anmaßen solle, über Dinge zu urteilen, von denen sie nichts verstand, war für sie nicht leicht zu schlucken. Deshalb reichte sie ein Theaterstück, an dem sie, immer geschrieben hatte, wenn sie gerade etwas Zeit gehabt hatte, beim großen literarischen Frühlingswettbewerb ein und trug tatsächlich den Sieg davon.

Das Problem war die Zeit danach. Nachdem sie sich dem Stückeschreiben zugewandt hatte, trat sie seltener auf und bekam kaum Gelegenheit, die selbst geschriebenen Stücke auf die Bühne zu bringen. Manche Regisseure fühlten sich unwohl bei dem Gedanken, dass eine Schauspielerin sich zur Theaterautorin gewandelt hatte, und manche Programmplaner nahmen die Stücke einer ehemaligen Schauspielerin von vornherein nicht ernst. In-gyeong hatte das Gefühl, nicht anerkannt zu werden, und wurde unruhig. So gab es eine Zeit, in der sie beim geringsten Anlass gereizt reagierte, sich auch den einen oder anderen Wutausbruch erlaubte und dann selbst Kritik einstecken musste.

Der Entschluss, das Theaterviertel an der Daehangno zu verlassen, fiel mit ihrem Rückzug aus dem Bühnenbetrieb zusammen. Fünf Jahre lang hatte sie im Sommer in einem Stück die Hauptrolle gespielt: »Binna, die Braut, die abhaut«, eine Siebenundzwanzigjährige, die zwei Tage vor ihrer eigenen Hochzeit von zu Hause ausreißt. Die Rolle war gewissermaßen ihr zweites Ich und ihre Visitenkarte. Im vorletzten Jahr jedoch, im Frühling, rief der Produzent sie zu sich und verkündete das Ende ihrer Zusammenarbeit. Er sagte, sie habe ihre Sache in all den Jahren gut gemacht, aber schließlich sei sie mittlerweile schon siebenunddreißig, und so sei es nun an der Zeit, einer jüngeren Kollegin die Rolle der Binna zu überlassen. Bis dahin war es noch keine Katastrophe, und sie war einverstanden. Doch dann fügte er noch hinzu, dass er sie in Zukunft gern in etwas reiferen Rollen auftreten lassen würde. Sie gab ein verächtliches Lachen von sich, verließ den Raum und knallte die Tür hinter sich zu. Auch zu Hause war ihr Ärger noch nicht verflogen. Reifere Rollen! Musste man dafür ein bestimmtes Alter erreicht haben? Sie schrie ihre Wut heraus: »Deine reifen Rollen kannst du dir sonst wohin stecken!« Und dann nahm sie sich vor, stattdessen ein reifes Bühnenwerk zu schreiben.

Seitdem waren zwei Jahre vergangen, aber die Zahl der Stücke, die sie in dieser Zeit vollendet hatte, hielt sich in Grenzen. Ihre Dramen, in Aktenordner geklemmt, waren alles andere als reif, vielmehr reiften sie vor sich hin bis zum Verschimmeln, und In-gyeong geisterte durch das Daehangno-Viertel, um als Hilfspersonal an Theaterprojekten von Kollegen mitzuwirken, oder hing in der Kneipe herum, um sich das alberne Gerede anderer Bühnenautoren anzuhören. Zwar war sie durch die unverhoffte Auszeichnung zur Autorin geworden, ihre Schreibfähigkeit jedoch war zu untrainiert, als dass sie sich im Autorenbetrieb hätte durchsetzen können. Sie schrieb und schrieb, um sich weiter zu verbessern, aber die von ihr eingereichten Stücke wurden zurückgeschickt oder gar nicht erst angenommen. Am Ende dieser Leidenszeit in diesem Sommer war es ihr schließlich gelungen, im Rahmen eines von einem älteren Kollegen geleiteten Projekts ihr erstes Werk auf die Bühne zu bringen. Was Besucherzahlen und Theaterkritiken anging, sollte ihr dieses Debüt allerdings als Desaster in Erinnerung bleiben.

Das Leben war nun mal eine endlose Folge zu lösender Probleme, und es schien, als hätte sie ihre Fähigkeiten als Problemlöserin komplett eingebüßt. Dass sie das für eine Jeonse-Kaution angesparte Geld, das sie mitgebracht hatte, als sie vor zehn Jahren nach Seoul gekommen war, um Schauspielerin zu werden, für monatliche Mietzahlungen benutzen musste, lag schon lange zurück, und nun war davon nichts mehr übrig. In-gyeong spürte, wie sich ein schwarzer Vorhang über ihren lang gehegten Traum vom Theater senkte. Es gab keine Bühne mehr, auf der sie hätte stehen können, und die Bühne, die sie sich erschreiben wollte, öffnete sich nicht. Ihre Ideen waren versiegt und ihre Schreibkraft so schnell aufgebraucht wie die Batterie ihres alten Handys.

Nachdem sie das für sie frei gehaltene Zimmer bezogen und ihr Gepäck ausgepackt hatte, setzte sie sich an den Schreibtisch und atmete einen Moment tief durch. Sie konnte nicht wissen, wie sich ihr Leben in den kommenden drei Monaten vielleicht verändern würde. Zum Glück befand sich der Seouler Hauptbahnhof in der Nähe. Wenn sie innerhalb von drei Monaten kein Stück zustande brächte, würde sie geradewegs zum Bahnhof gehen und in den Zug nach Busan steigen. In dem Moment klopfte Hui-sus Tochter an die Zimmertür. Sie lächelte und sagte, ihr Freund sei jetzt da, um sie abzuholen.

Man verabschiedete sich, dann war In-gyeong allein. Sie versuchte, ein wenig zu schlafen, und obwohl es noch früh am Abend war, fielen ihr bald die Augen zu.

Als sie aufwachte, war es Mitternacht. Sie musste wirklich müde gewesen sein. Ihr T-Shirt war durchgeschwitzt, und sie hatte Hunger. Sie erinnerte sich an ihren Vorsatz, die im Haus befindlichen Lebensmittel nicht anzurühren, und so schlüpfte sie schnell in ihre Jacke und verließ das Haus.

Atemwölkchen in die kalte Luft ausstoßend, ging sie hinüber zu dem Laden, wo sie tags zuvor schon gewesen war und wo sie nun von einer Baritonstimme begrüßt wurde. An der Kasse stand ein stämmiger Mann in mittlerem Alter, der sie an den Typ Schauspieler erinnerte, der im Theater immer die Rolle des Dicken übernahm. Auch sein Gesicht hatte etwas von einem Schauspieler. Von einem Schauspieler, der weniger durch sein attraktives Äußeres als vielmehr durch seine darstellerischen Qualitäten überzeugen musste. Einbrecher würden sich nachts nicht in diesen Laden wagen, so viel stand jedenfalls fest. Sie ging auf das Regal zu.

Die Wahl fiel ihr nicht leicht. Ihre Lieblingskekse gab es nicht, und in der Ecke mit den gekühlten Lebensmitteln sah es noch trostloser aus. Das Gimbap- und Sandwichangebot entsprach nicht ihrem Geschmack, und auch von den Lunchboxen waren nur noch zwei der wenig verlockenden Sorte übrig.

Ohne große Begeisterung griff sie nach einer Tiefkühlpackung Mandu-Teigtaschen und einer Tüte Dörrfleisch und ging dann zum Getränkeregal, um nach Bier zu suchen. Die Sorten, von denen man vier Dosen für zehntausend Won bekam, waren alle nicht ihr Fall, und so gab sie das mit der Viererpackung auf und entschied sich schließlich für zwei Dosen Heineken.

»An Lunchboxen haben Sie nicht so viele da, oder?«

»Wir … wollen nicht, dass wir am Ende so viel davon … wegwerfen müssen«, stotterte der Mann an der Kasse. Offenbar war er von ihrer Frage etwas überrascht worden. Das mangelnde Angebot an Lunchboxen war für sie insofern bedauerlich, als sie immer gern darauf zurückgriff, weil es bei der Arbeit für sie lästig war, ihren Schreibfluss eigens unterbrechen zu müssen, nur um sich etwas zu kochen. Als sie die Tiefkühlteigtaschen einpackte, fiel ihr ein, dass sie gar nicht nachgesehen hatte, ob in ihrem Quartier eine Mikrowelle vorhanden war. Sie sah sich im Laden nach der obligatorischen Mikrowelle um, konnte aber nichts dergleichen entdecken. Als sie den Mann danach fragte, meinte er, nach wie vor stotternd und unter vielfachem Bedauern, die Mikrowelle sei leider kaputtgegangen und heute zur Reparatur gebracht worden.

»Also, Sie müssen sich da nicht extra entschuldigen. Ohne Mikrowelle ist es halt einfach etwas … unbequem.«

»Ja, irgendwie … ist unser Laden etwas … unbequem … geworden …«

Sein ehrliches Eingeständnis war von einem gequälten Lächeln begleitet. Was sollte denn diese krampfige Selbstironie? Was hatte dieser Mann, der den Laden, in dem er arbeitete, selbst als unbequem bezeichnete, wohl gemacht, bevor er hier angefangen hatte? Sie sah ihm direkt ins Gesicht. Eine ausgeprägte untere Gesichtshälfte, eine klobige Nase, halb geschlossene Augen, dazu dieser massige Körperbau — all das hatte etwas von einem schläfrigen Bären oder einem erschöpften Orang-Utan. Aber davon ahnte der Mann wohl nichts, so unverhohlen wie er sie angrinste. Dann fragte er aus heiterem Himmel:

»Mögen Sie … die Lunchbox de luxe?«

In-gyeong sah ihn mit großen Augen an.

»Die ist besonders … beliebt. Ist immer gleich aus…verkauft. Soll ich Ihnen nächstes Mal … eine aufheben?«

»Nein, nicht nötig.«

In-gyeong schnappte ihre Sachen und flüchtete in Richtung Ausgang. »Auf Wiedersehen!«, hörte sie die sanfte, ölige Stimme noch hinter sich. Oh Mann … Ein Laden mit einem Warenangebot wie ein Mund voller Zahnlücken und als Krönung noch dieser unausstehliche Typ. Sie nahm sich vor, nur dann in den Laden zu kommen, wenn die weibliche Teilzeitkraft Dienst hatte, die ihr gestern Nachmittag erlaubt hatte zu telefonieren.

Als sie aufwachte, war es ein Uhr nachts. Verdammt! Sie bekam kaum noch auf die Reihe, wie der Tag eigentlich vorübergegangen war. Gestern hatte sie mitten in der Nacht Dörrfleisch gegessen und Bier getrunken und dann bis am Morgen versucht, ihr Zimmer in eine Schreibstube zu verwandeln. Dann war sie nach draußen gegangen, im Strom der Leute, die auf dem Weg zur Arbeit waren, an der Sookmyung-Frauenuniversität vorbei, über den Hügel und bis zum Hyochang-Park. Dort hatte sie fünf Runden gedreht und sich dann mit neuer Energie ein wenig im Viertel umgesehen und erkundet, wo es schöne Spazierwege, den Markt, Einkaufsläden und Restaurants gab. Anschließend war sie in ihre Unterkunft zurückgekehrt und hatte eine Dusche genommen. Zur Mittagszeit hatte sie sich trotz drückender Müdigkeit ein Nickerchen verkniffen, stattdessen Informationen über Schreibwettbewerbe gesucht und sich über aktuelle Trends der Theaterszene informiert. Wenn sie ein Manuskript schreiben wollte, dann brauchte sie eine Motivation und am besten ein Unternehmen, das eine exakte Deadline vorgab. Da sie allerdings nichts dergleichen gefunden hatte, hatte sie einmal mehr darüber gebrütet, dass ihr nur die selbst auferlegte Frist blieb. Am späten Nachmittag war sie in ein Restaurant gegangen, das sie am Morgen auf ihrem Spaziergang entdeckt hatte, und hatte dort Sundubujjigae, scharfe Suppe mit weißem Tofu gegessen. Sie sehnte sich nach dem gesunden Gratismenü im Toji-Kulturzentrum, aber nun war sie in Seoul und hatte beschlossen, aus Kostengründen nur einmal pro Tag essen zu gehen.

Zurück in ihrem Zimmer, hatte sie sich eine amerikanische Serie angesehen. Breaking Bad. Immer wenn sie verzweifelt war, hatte ihr diese Serie als Hausapotheke gedient, und immer wenn der Titel auf dem Bildschirm erschien, hatte sie zu sich selbst gesagt: »Das Schlechte zerbrechen!« Dass die tatsächliche Bedeutung des Titels eine ganz andere war, hatte sie erst später erfahren, aber die falsche Übersetzung auf der illegalen Datei, die ihr zu Beginn als Quelle gedient hatte, hatte bei ihr tieferen Eindruck hinterlassen. Denn das Leben der Hauptfigur namens Walter bestand darin, dass er, um all das Übel, das sich ihm in verschiedenster Weise entgegenstellte, zu zerschlagen und weiter voranzukommen, Drogen herstellte und verkaufte. Vielleicht griff In-gyeong deshalb immer auf diese Geschichte zurück, wenn ihr ihre eigene Zukunft unsicher und trüb erschien. Natürlich gab es auch jedes Mal wieder Interessantes zu sehen und Neues zu lernen. Und nun, wo sie die Serie schon so gut kannte, war sie auch eine gute Einschlafhilfe.

Jetzt, um ein Uhr morgens, machte ihr das Rumoren in ihrem Bauch unmissverständlich klar, dass ein neuer Tag begonnen hatte. Sie hätte tagsüber etwas einkaufen gehen sollen. Sie musste ihren Schlafrhythmus dringend wieder ins Lot bringen, sie musste die wertvolle Zeit, die sie hier verbringen durfte, sinnvoll nutzen … Aber erst einmal musste sie etwas gegen ihren leeren Magen tun.

Sie warf sich ihre Jacke über, um zum 24-Stunden-Shop zu gehen, da fiel ihr der dicke Mann von gestern ein, dessen pure Präsenz den Laden schon so wenig einladend erscheinen ließ. Kurz überlegte sie, ob sie vielleicht einen anderen 24-Stunden-Laden suchen sollte, kam dann aber zu dem Schluss, dass es besser sei, mal eben über die Straße nach drüben zu gehen und einen kurzen Moment der Unbehaglichkeit zu ertragen, als mitten in dieser bitterkalten Nacht in den Straßen umherzuirren.

Klingeling! Im Laden war es ruhig. Der Mann war nicht zu sehen, stattdessen aber in der Ecke am Fenster die nun offenbar reparierte Mikrowelle. Das Sortiment allerdings war genauso miserabel wie gestern. Ein Laden mit geringem Umsatz konnte sich kein breites Warenangebot leisten, was wiederum dazu führte, das die Zahl der Kunden weiter zurückging. Ein eindeutiger Teufelskreis. Bei dem Gedanken, dass ihre eigene Situation im Grunde ganz ähnlich war, fühlte In-gyeong ein Stechen in der Magengegend. Aber gleich darauf spürte sie umso deutlicher, dass ihr Magen noch immer leer war, und so steuerte sie rasch auf die gekühlten Waren zu.

Auch heute waren nur noch die beiden unappetitlichen Lunchboxen übrig. Es sah alles genauso unerquicklich aus wie gestern. Bei genauerem Hinsehen jedoch bemerkte sie, dass unter den beiden Lunchboxen noch eine weitere versteckt war. Sie schob die beiden oberen beiseite und griff nach der, die darunterlag. Die sah richtig gut aus. Zwölf verschiedene Beilagen, davon etliche mit Fleisch. Ihr lief das Wasser im Mund zusammen. Sie nahm die Lunchbox und ging damit zur Kasse. Aber der Mann tauchte nicht auf. Vielleicht war er gerade im Lager? Oder war er einfach irgendwoanders hingegangen und hatte den Laden unbeaufsichtigt zurückgelassen, mitten in der Nacht? In jedem Fall bedeutete das auch heute wieder Unannehmlichkeiten. In-gyeong war genervt. Was sollte sie tun? Sie sah sich um. Da entdeckte sie auf dem Tresen einen A4-Zettel. Darauf stand mit dickem schwarzem Filzschrift geschrieben:

FLOTTER OTTO! BIN GLEICH WIEDER DA.

Echt jetzt? In-gyeong musste laut lachen. Flotter Otto … Na gut, so etwas konnte vorkommen. Aber dann hätte er doch den Zettel an die Tür kleben und den Laden abschließen müssen. Wieso legte er seine Mitteilung denn hier auf den Tresen? Was, wenn jemand die Situation ausnutzte und einfach Geld oder Ware mitgehen ließ? Hieß das, dass sich hier jeder einfach nach Lust und Laune bedienen konnte? Klar, es gab die Überwachungskamera, aber sicher war das nicht. In so einer Situation würde es doch manchen in den Fingern jucken. In-gyeong, die anderen gern erklärte, was richtig sei und was nicht, war niemand, der das hier so einfach hinnehmen konnte.

Klingeling! Die Türglocke bimmelte, und herein kam er, mit erleichterter Miene, die unmissverständlich erkennen ließ, dass die Sache mit dem flotten Otto inzwischen geregelt war. Er sah sie an, murmelte irgendetwas und eilte an die Kasse. Sie ließ ihn vorbei und warf ihm einen scharfen Blick zu.

»Ja, die hier … ist gut«, sagte er, während er die Lunchbox abrechnete. Tatsächlich handelte es sich um die Sorte »Lunchbox de luxe«, die er gestern erwähnt hatte.

»Die hatte ich … versteckt. Gut, dass Sie sie … gefunden haben …«

»Was?«

»Gestern … Weil Sie doch nach einer … guten Lunchbox gesucht haben. Da hab ich die unter die anderen druntergelegt. Ja.«

Aha. Und? Sollte sie ihm dafür jetzt dankbar sein? Sie fühlte sich durch seine nebulöse Freundlichkeit irgendwie unter Druck gesetzt und wusste nicht, wie sie damit umgehen sollte. Nachdem sie bezahlt hatte, nahm sie die Lunchbox und ging zur Mikrowelle. In ihrer Unterkunft gab es keine, und so blieb ihr nichts anderes übrig, als das Essen hier aufzuwärmen. Sie entfernte die Plastikfolie, schob die Box in die Mikrowelle und wartete … Dabei fiel ihr Blick auf den Mann an der Kasse. Der nickte ihr zu und hielt den Daumen in die Höhe. Boah, war der nervig. Sie machte ein paar Schritte in seine Richtung.

»Hören Sie mal. Als ich vorhin reinkam, war der Laden völlig unbeaufsichtigt. Das geht doch nicht.«

»Ja, es war einfach … sehr dringend. Hier … Das hier.«

Hilflos hielt er das A4-Blatt hoch.

»Ja, eben. Den Zettel können Sie doch nicht einfach hier hinlegen. Den müssen Sie doch an die Tür kleben und dann müssen Sie abschließen, wenn Sie gehen. Wenn hier irgendein Jugendlicher reinkommt und Lust bekommt, einfach dies und das mitzunehmen, was machen Sie dann? Es gibt die Theorie der zerbrochenen Fensterscheibe. Demnach steigt die Zahl der Diebstähle und Verbrechen in einem Stadtteil, wenn man zerbrochene Fensterscheiben nicht repariert. Und wenn man einen Laden einfach unbeaufsichtigt lässt, kommt es häufiger zu Zwischenfällen. Außerdem gefällt es sicher keinem Ladenchef, wenn seine Mitarbeiter sich so verhalten, und Sie sind hier doch Mitarbeiter, oder? Da sollten Sie doch aufpassen, dass Sie Ihre Arbeit hier behalten.«

In-gyeong neigte von Natur aus zu Belehrungen, aber diesem nervigen Onkel mal ordentlich die Meinung zu sagen, war ihr ein ganz besonderes Anliegen. Normalerweise fanden die Männer das dann so unausstehlich, dass sie sich nicht länger aufdrängten. Und auch er senkte nun, nachdem er alles stillschweigend angehört hatte, verlegen den Kopf.

»Ja, also … Da haben Sie schon recht … Aber darf ich das Ganze vielleicht kurz … aus meiner Sicht … schildern?«

»Bitte.«

»Ich leide an einem Reizdarm…syndrom, das heißt … ich habe oft Durchfall und kann … es nicht gut zurück…halten. Vorhin, da … da wollte ich den Zettel eigentlich … noch an die Tür kleben und hab extra noch … nach dem Klebeband gesucht. Ich hab mich gebückt, und dabei ist schon … ein bisschen was … in die Hose gegangen. Deshalb hab ich das mit dem Klebeband nicht mehr … hingekriegt und den Zettel einfach hier liegen lassen. Ich musste rennen, da konnte ich nicht mehr ab…schließen. Und genau in dem Moment, wo ich die Hose runtergezogen hab, da …«

»Schon gut!«

Okay, es war was in die Hose gegangen, er hatte schnell aufs Klo gemusst und nicht mehr abschließen können, aber genauer brauchte sie es nun wirklich nicht zu wissen. Irgendwie hatte sie plötzlich das Gefühl, als kröche ihr der Geruch seiner Exkremente in diesem Augenblick in die Nase. Unangemessener und ekelhafter ging es nun wirklich nicht mehr.

»Ich habe schon verstanden. Passen Sie in Zukunft besser auf.«

Er nickte. Sie ging zur Mikrowelle, um ihre Lunchbox herauszunehmen. In-gyeong wollte den Laden schnell verlassen, da rief ihr der Mann an der Kasse mit schuldbewusst gesenktem Kopf noch hinterher:

»Und noch mal Entschuldigung … wegen des flotten Ottos!«

»Sag mal, geht’s noch? Ich hab mir hier gerade was zu essen gekauft! Hör endlich auf, die ganze Zeit von deiner Scheißerei zu reden!«

Wenn der seinem Dünnpfiff freien Lauf ließ, dann würde sie jetzt mal ihrer Wut freien Lauf lassen. Die Ladentür schon halb geöffnet, drehte sie sich noch einmal um und brüllte ihn aus vollem Hals an. Sie ertrug es einfach nicht länger. Und sie war schließlich nicht umsonst als die »feurige Furie der Daehangno« bekannt. Nun also offenbarte sich ihm ihr wahrer Charakter. Einen Augenblick stand er nur mit erschrockenem Blick wie benommen da, dann stotterte er in einem fort: »Ent…schuldigung …« Allein dieses Gestammel war unerträglich. In-gyeong drückte die Tür auf, ging nach draußen und sagte zu sich selbst: »Das war das letzte Mal, dass ich hierhergekommen bin …«

Es war eine Woche vergangen, seit sie in die Unterkunft in Cheongpa-dong eingezogen war, die Hui-su ihr angeboten hatte, und noch immer ging die Arbeit an ihrem Manuskript nur im Schneckentempo voran. Was sie im Toji-Kulturzentrum zu schreiben begonnen hatte, war inzwischen wieder verworfen, und stattdessen jonglierte sie nun mit ein paar neuen Ideen herum. Sie wollte ein Stück schreiben, dass sich nicht mit irgendwelchen abstrakten Ideen befasste, sondern eine realistische Geschichte erzählte, andererseits aber auch nicht in erster Linie auf kommerziellen Erfolg abzielte. Es sollte ein herzerwärmendes Drama sein, das in einem lebendigen Raum spielte, in dem verschiedenartige Charaktere aufeinandertrafen. Ein Stück, bei dem sich das Publikum nicht ausgeschlossen fühlte, sondern sich mit den Figuren auf der Bühne identifizieren und unmittelbar ins Geschehen eintauchen konnte. Ein Stück, das den Zuschauenden ununterbrochen Spaß und Spannung bot und das auch anschließend, wenn der Vorhang gefallen war, noch zum Nachdenken anregte.

Den ganzen Tag angestrengt zitternd am Schreibtisch zu sitzen, hatte etwas ausgesprochen Bedrückendes. Aber draußen wurde es allmählich immer kälter, und auch um Geld zu sparen, ging sie nun dazu über, seltener auswärts zu essen und sich öfter zu Hause etwas warm zu machen. Abends, am Ende ihres Arbeitstages, saß sie oft auf der Fensterbank, trank einen Tee und betrachtete verstohlen die Leute da draußen, die um diese Zeit von der Arbeit heimkamen.

In letzter Zeit war ihr immer wieder ein Mann mittleren Alters aufgefallen, der gegen elf Uhr abends am Plastiktisch vor dem 24-Stunden-Laden saß, um dort Instantnudeln zu essen und Soju zu trinken. Vielleicht sah das Ganze von oben betrachtet noch erbärmlicher aus, jedenfalls saß der Mann mit dem schütteren Scheitel, dem billigen Anzug und dem übergeworfenen Parka dort am Tisch, schlürfte seinen Soju und löffelte die Instantnudeln wie Reissuppe in sich hinein, indem er Gimbap hineintunkte. Offenbar hatte er Freude daran, auch bei diesem kalten Wetter abends hier noch einen Happen zu sich zu nehmen, bevor er nach Hause ging. Wie sie ihn dort unten so sah, dachte sie darüber nach, was er als Berufstätiger vielleicht für ein Leben führte und welche Art Freud und Leid wohl mitschwangen, wenn er sich betrank, so einsam, in winterlicher Nacht, unter freiem Himmel.

Aber an diesem Abend saß ihm doch tatsächlich der Dicke aus dem Laden gegenüber. Und der hielt in einer Hand einen großen Pappbecher, aus dem er irgendetwas trank. Wie Kaffee sah das nicht aus, eher wie Whiskey. Ach du meine Güte! Alkohol im Dienst? Hatte er deshalb so stockend gesprochen, als er sich mit ihr unterhalten hatte? Weil er schon hackevoll gewesen war? Das konnte sie so genau nicht wissen, aber dass er in vieler Hinsicht absonderlich war, stand fest. Womit er den Becher jetzt von Neuem füllte, war allerdings kein Alkohol. Eine PET-Flasche. War das Haneulbori-Gerstentee? Oder 17-Kräuter-Tee? Vielleicht auch Rosinentee … Das war wirklich merkwürdig. In-gyeong versuchte, die Szenerie noch genauer zu erkennen.

Da saßen der Ladenmitarbeiter und der berufstätige Mann zusammen, teilten sich ein dunkelbraunes Getränk und unterhielten sich mit leiser Stimme. Dann sprang der Kunde, ein paar heftige Worte von sich gebend, plötzlich auf und verschwand. Der Dicke zuckte mit den Schultern, machte den Tisch sauber und ging wieder in den Laden. Was war da los? Mit einem Mal war sie neugierig geworden. Die Neugierde war so unerträglich wie ein juckender Eiterpickel, der kurz davor war zu platzen. In-gyeong zog ihren Parka über und verließ das Haus.

»Kennen Sie den Mann von eben?«

Ohne zu zögern, hatte sie den Laden betreten und ihre Frage abgefeuert. Der Mann an der Kasse legte den Kopf schief.

»Ein St…ammkunde.«

»Was arbeitet der denn?«

»Weiß ich … auch nicht. Er mag gerne … Cham-Cham-Cham.«

»Cham-Cham-Cham?«

»Chamkkae-ramyeon, also Instantnudeln mit … Sesamaroma, Chamchi-gimbap, also Gimbap mit Thunfisch und … Chamiseul, also Soju-Schnaps der Marke ›Echter Tautropfen‹.«

»Deshalb heißt das Cham-Cham-Cham?«

»Genau. Cham-Cham-Cham.«

»Aber vorhin hat er doch was zu Ihnen gesagt und ist dann einfach weggegangen, oder? Er sah ziemlich wütend aus …«

»Das war, weil … ich ihm gesagt hab, er soll … aufhören, Alkohol zu trinken und stattdessen … was anderes trinken. Das hat ihm wohl … nicht gefallen.«

»Was anderes? Was denn?«

»Das hier.«

Er zeigte leichthin auf die PET-Flasche, die neben ihm stand. Maisbarttee.

»Das? Aber … wieso?«

»Das ist gut anstelle von … Alkohol. Wenn ich das … trinke, denke ich auch … nicht mehr an Alkohol.«

In-gyeong war sprachlos. Der war ja noch merkwürdiger, als sie gedacht hatte. Aber diesmal fand sie ihn nicht unbedingt nervig, sondern irgendwie ganz interessant. Einen Stammkunden mit Maisbarttee vom Trinken abbringen zu wollen, darauf musste man erst mal kommen … Und dann dieses Cham-Cham-Cham. Das könnte man direkt als Set verkaufen. In-gyeong wollte nun mehr wissen über diesen skurrilen Kerl, der so sonderbare Ideen hatte.

»Was haben Sie denn früher gemacht?«

»Sind Sie … gekommen, um mich das zu fragen?«

Oha! Mit anderen Worten: Wollen Sie denn gar nichts kaufen? In-gyeong nickte, wandte sich dann dem Regal zu, griff nach Chamkkae-ramyeon, Chamchi-gimbap, Chamiseul-Soju und Maisbarttee und legte die Sachen auf den Kassentisch. Während er sich um die Abrechnung kümmerte, stellte sie ihm die Frage noch einmal. Aber er legte nur den Kopf schief und gab keine Antwort.

»Waren Sie in irgendeiner kriminellen Bande?«

»N…ein.«

»Oder waren Sie im Gefängnis und haben nun ein neues Leben begonnen?«

»So einer … bin ich nicht.«

»Oder sind Sie ein Gänsevater? Ihre Frau ist mit den Kindern ins Ausland gegangen, damit die da die Schule besuchen können?«

»Das … auch nicht.«

»Ah, ich hab’s. Sie sind Frührentner! Heutzutage wollen doch viele gerne früher aufhören zu arbeiten. Stimmt doch, oder?«

Mit sichtlichem Unbehagen schüttelte er den Kopf und hielt ihr die Plastiktüte mit ihren Einkäufen hin. In-gyeong nahm sie nicht. Sie starrte ihn weiter an, offenbar fest entschlossen, nicht lockerzulassen, ehe sie seine Identität enthüllt hätte.

»Was waren Sie denn dann bloß? Das würde mich wirklich interessieren. Also?«

»Straßenpenner.«

»Wie? Etwa hier am Hauptbahnhof?«

»Ähm … ja.«

»Und davor?«

»Davor … weiß ich nicht. Gedächtnis…verlust. Ich hab zu viel getrunken …«

»Alkoholbedingte Demenz … Mhm, das kann schon sein. Wie lange waren Sie denn obdachlos?«

»Das … weiß ich auch nicht.«

»Aber wie sind Sie dann dazu gekommen, hier zu arbeiten? Wie haben Sie hier angefangen?«

»Das … Die Chefin hat gesagt, … ich soll bei der Kälte nicht draußen … am Bahnhof überwintern, … sondern hier. Da hab ich … hier angefangen.«

»Wow! Woooowww!«

In-gyeong war begeistert und betrachtete den Mann, der von sich sagte, er sei Straßenpenner gewesen, von allen Seiten. Und noch einmal fragte sie ihn, ob er sich denn wirklich nicht an seine frühere Vergangenheit erinnern könne, und wieder antwortete er, dass er beim besten Willen keine Erinnerung mehr daran habe. In-gyeong schlug vor, dass sie sich doch von nun an jede Nacht miteinander unterhalten könnten, je mehr er rede, desto mehr werde er auch sein Gedächtnis reaktivieren können. Widerwillig stimmte er zu. Bevor sie ging, fragte sie ihn noch nach seinem Namen.

Als sie wieder in ihrem Zimmer war und das Cham-Cham-Cham verzehrte, murmelte sie vor sich hin: »Dok-go … Vor- oder Familienname? Keine Ahnung.« Und als sie so bei sich dachte, was für einen spannenden Charakter sie da doch entdeckt habe, schmeckte der Soju mit einem Mal süßer. Auch diese nächtliche Mahlzeit, diese Ein-Personen-Trinktafel namens Cham-Cham-Cham, hatte etwas Erfrischendes. Der Maisbarttee passte zwar nicht recht dazu, ergab aber als Spirituosenersatz für jemanden, der unter alkoholbedingter Demenz gelitten hatte, durchaus Sinn. In-gyeong beschloss, den Mann im 24-Stunden-Laden in Zukunft noch genauer zu beobachten.

Und so blieb In-gyeong bei ihrem umgedrehten Tag-Nacht-Rhythmus. Sie stand mitten in der Nacht auf und ging dann, wie andere Leute zur Arbeit gehen, in den 24-Stunden-Laden, um ihre Lunchbox de luxe zu verzehren und mit Dok-go zu reden. Er war intelligenter und von schnellerer Auffassungsgabe, als sie gedacht hatte. Nachdem sie sich einige Tage mit ihm unterhalten hatte, ging sie dazu über, ein Notizheft mitzunehmen und Teile ihres Gesprächs zu notieren. Durch diese zunächst ganz absichtslose Recherche fühlte sie sich ermutigt, später vielleicht einmal eine Geschichte daraus zu machen.

Dok-gos Alkoholdemenz wirkte so, als wäre ein Teil seiner Erinnerungen durch ein psychisches Trauma gelöscht worden. In-gyeong hatte, seit sie mit dem Schreiben begonnen hatte, einige psychologische Studien gelesen und ihr Hauptaugenmerk dabei auf das Problemfeld emotionaler Verletzungen gerichtet. Die Figuren in den Theaterstücken hatten oftmals schlimme psychische Verletzungen erlitten, eine Erfahrung, die ihre gesamte Zukunft prägen sollte, weil sie stets darauf bedacht waren, solche Erfahrungen fortan zu vermeiden. Dok-go hatte diesen Erfahrungen gegenüber die Augen verschlossen und ihnen den Rücken zugewandt. Aber er war auf dem Weg der Genesung und gewann durch die Kommunikation mit anderen Menschen allmählich wieder an Kraft und Mut.

Die Bemühung und der Wille, auf die eigenen Verletzungen zu blicken und sie zu überwinden, werden zu einem inneren Motor, und daraus entsteht der Charakter einer Figur. Um einen Charakter zu zeigen, muss man deutlich machen, welche Entscheidungen die Figur in ihrem Leben getroffen und welchen Weg sie eingeschlagen hat. Dok-go hatte mithilfe der Chefin den Seouler Hauptbahnhof verlassen können und versuchte nun, in die Gesellschaft zurückzukehren und sich seinem Trauma zu stellen.

»Fest steht … dass ich ursprünglich nicht so gelebt habe. Ich glaube, ich hatte eigentlich nichts, das ich mit anderen … hätte teilen können. Freundliche Erinnerungen habe ich kaum.«

»Freundliche Erinnerungen … Was meinen Sie damit?«

»Dass ich mich … mit jemandem vertraulich … unterhalten kann, so wie jetzt mit Ihnen.«

»Aber mit dem Kunden, der immer das Cham-Cham-Cham gegessen hat, waren Sie doch auch ganz gut befreundet, oder nicht?«

»Ja, eben … Ich glaube … durch den Umgang mit … den Kunden, bin ich … den Menschen näher gekommen. Ich habe das Gefühl … selbst wenn man nur freundlich tut und es vielleicht gar nicht … ganz aufrichtig meint, wird man trotzdem freundlich.«

»Das klingt wirklich gut. Darf ich ein paar Sachen davon verwenden?«, fragte In-gyeong und notierte den Satz, den Dok-go gerade gesagt hatte, in ihrem Heft.

»Sie schreiben ja sowieso schon … da in Ihren … Notizblock …«

»Nein, ich meine, für das Theaterstück. Ich habe Ihnen doch erzählt, dass ich Stücke schreibe.«

»Ach ja … Stimmt. Sie schreiben an einem Theater…manuskript, nicht wahr? Komme … komme ich da auch vor?«

»Wo und wie ich was einbaue, weiß ich noch nicht. Es sind ja erst mal nur Skizzen … Auf jeden Fall sind Sie für mich eine große Hilfe. Ich stand schon kurz davor, ganz mit dem Schreiben aufzuhören, aber dank Ihnen habe ich neue Kraft geschöpft.«

»Hilfe? Na, dann … ist ja gut. Wollen Sie dann vielleicht … in diesem Sinne … hier etwas kaufen?«

»Ich hab das Gefühl, Sie haben früher mal Geschäfte gemacht.«

In-gyeong gab ein schnaubendes Lachen von sich und erschien kurz darauf mit vier Dosen Bier und einem Sandwich wieder an der Kasse. Mit dem zufriedenen Lächeln eines Fahrzeughändlers, der soeben ein Auto an den Mann gebracht hat, nahm Dok-go die Abrechnung vor. Das Zusammenspiel von Rechercheurin und Quelle lief bestens.

Nun, am Jahresende, wurde In-gyeongs Handy mit unzähligen trivialen Grußbotschaften vollgetextet. Massen-SMS ignorierte sie geflissentlich, und auch unter den Namen derer, die vergeblich versucht hatten, sie anzurufen, waren kaum welche, über die sich sich gefreut hätte. Sie musste zugeben, dass sie sich ihre soziale Verkümmerung selbst zuzuschreiben hatte. Da klingelte ihr Handy. Ganz so, als ahnte es etwas von ihrem einsamen und traurigen Herzen. Sie sah den Namen auf dem Display und zögerte.

Es war Intendant Kim vom »Theatre Q«. Er war es gewesen, der vor zwei Jahren mit dem Hinweis auf ihr biologisches Alter infragegestellt hatte, dass sie weiterhin Rollen von Frauen in den Zwanzigern übernehmen könne. Und der sie auf diese Weise dazu gebracht hatte, den Schauspielberuf an den Nagel zu hängen. Eine Zeit lang war er ihre wichtigste Stütze gewesen, indem er ihr ihren Lebensunterhalt ermöglicht hatte, aber in den letzten zwei Jahren war zwischen ihnen keine einzige SMS ausgetauscht worden.

In-gyeong hatte sich vom Schreibtisch erhoben und ging mit dem Handy zum Sessel am Fenster hinüber. Unschlüssig, ob sie den Anruf annehmen sollte oder nicht, fühlte sie in sich ein Zittern, das der Vibration des Handys in nichts nachstand. Wenn das Handy nun gleich aufhören würde zu vibrieren und alles wieder still wäre, dann wäre ihre Verbindung zu Intendant Kim ein für alle Mal beendet. Jiiiiing! Jiiiiing! Sie erinnerte sich daran, wie sie den armen Dok-go vor ein paar Tagen damit traktiert hatte, er solle sich seinem Trauma stellen. Sie sollte sich selbst mal sehen. Jiiiiing! Jiiiiing! Sie drückte auf die grüne Annahmetaste.

Intendant Kim meinte, jetzt, zum Jahresende, habe er an sie denken müssen und einfach mal nachfragen wollen, wie es ihr so gehe. In-gyeong hielt sich nicht zurück. »Letztes Jahr war es Ihnen also egal, oder was?« Er zog sich mit der Begründung aus der Affäre, dass er im vergangenen Jahr auf einen Anruf verzichtet habe, weil er das Gefühl gehabt habe, sie werde ohnehin nicht ans Telefon gehen, nun aber in der Hoffnung angerufen habe, dass ihr Ärger jetzt, nach zwei Jahren, vielleicht ein wenig verflogen sei. Als er das sagte, meinte In-gyeong, die nun auch das letzte bisschen Groll beiseiteschieben konnte, freiheraus, er sei doch niemand, der anrufe, nur um kurz zu fragen, wie es denn so gehe, es gebe doch bestimmt noch einen anderen Grund für seinen Anruf. Kim bemerkte, sie sei ja noch genauso unbändig wie früher, und fügte dann hinzu, dass er ihr die Bühnenbearbeitung eines Manuskripts vorschlagen wolle. Er habe die Rechte für einen Roman gekauft, der nun als Theaterstück auf die Bühne kommen solle. Eine Bühnenbearbeitung also, hm. Das vielleicht letzte Stück, dass sie schreiben würde, sollte eine Bearbeitung sein? Als er merkte, dass sie zögerte, setzte er nach.

»Wenn du dir unsicher bist, lies doch erst mal den Roman. Der ist im Sommer rausgekommen, liest sich ganz leicht und unkompliziert. Mit vielen Dialogen, wie für die Bühne gemacht. Für dich ein Kinderspiel.«

»Nee, lese ich nicht. Am Ende bekomme ich noch Lust, das zu machen.«

»Ach komm, ich ruf nach all der Zeit an, um dir das vorzuschlagen … Wenn du mich jetzt einfach so abblitzen lässt, bin ich echt betrübt …«

»Hören Sie, es könnte sein, dass ich bald ganz mit dem Schreiben aufhöre. Da sollte mein letztes Stück wenigstens ein Originalstück sein.«

»Na, hör mal, In-gyeong! Erst schmeißt du den Schauspielberuf und jetzt noch die Autorenkarriere hin … Du kommst an der Daehangno noch ganz groß raus, sag ich dir! Was soll das ewige Genörgel von wegen ›Ich mach Schluss‹?«

»Meiner Schauspiellaufbahn haben schließlich Sie den Arschtritt gegeben!«

»Deshalb geb ich dir jetzt doch Arbeit als Stückeschreiberin.«

»Jedenfalls meine ich es ernst. Ich habe mich seit vier Monaten in mein stilles Kämmerchen zurückgezogen und bin dabei, mein letztes Werk zu schreiben.«

»Und? Ist was halbwegs Brauchbares dabei rausgekommen? Oder nur irgend so ’n absurdes Palaver?«

Absurdes Palaver … In-gyeong griff nach der am Fenster stehenden Flasche mit Maisbarttee, nahm einen großen Schluck und erklärte dann mit energischer Stimme:

»Der Plot steht. Muss nur noch aufgeschrieben werden.«

»So? Lass mal hören.«

»Nein, danke. Wenn man vorher schon alles ausplappert, geht es am Ende noch schief.«

»Ach komm. Würd mich echt interessieren. Na los, nun erzähl schon. Wenn es gut ist, nehmen wir das zuerst und die Romanbearbeitung danach.«

Dass sie dabei sei, ein eigenes Stück zu schreiben, hatte sie eigentlich nur gesagt, um der Sache mit der Romanadaption einen Riegel vorzuschieben. Festgelegt hatte sie allerdings im Grunde noch gar nichts, sie war lediglich dabei, den seltsamen Ladenmitarbeiter zu interviewen und so etwas wie einen roten Faden zu spinnen. Während sie überlegte, was sie sich jetzt aus den Fingern saugen sollte, sah sie weiter aus dem Fenster und blickte erneut auf den Laden.

»So besonders überzeugt von deinem Projekt scheinst du ja selber nicht zu sein. Pass auf, dann schieben wir das noch ein bisschen auf und machen lieber erst mal die Adaption. Dafür sind auch die Produktionskosten schon gesichert. Du bekommst von mir sofort die Anzahlung, und dann —«

»Ein 24-Stunden-Laden. Das Ganze spielt in einem 24-Stunden-Laden.«

»In einem Laden?«

»Die Bühne ist der Laden. Ein Laden, in den alle möglichen Leute kommen. Die Hauptfigur ist der Mitarbeiter, der die Nachtschicht macht und von dem keiner genau weiß, wer er eigentlich ist.«

»Hm …«

»Ein Mann im mittleren Alter, der seine eigene Vergangenheit vergessen hat. Alkoholbedingte Demenz. Und die Leute, die in den Laden kommen, die stellen alle ihre Vermutungen über den Mann an. Krimineller, Ex-Knacki, Nordkorea-Flüchtling, Frührentner, Außerirdischer … Und der Mann empfiehlt den Kunden immer ganz ungerührt irgendwelche Sachen aus dem Laden, die sie überhaupt nicht kennen … Aber … merkwürdigerweise ist es dann so: Wenn die Leute die Sachen kaufen, die er ihnen empfohlen hat, dann lösen sich plötzlich ihre Probleme.«

»Das wäre ja ganz ähnlich wie Midnight Diner, oder?«

»Midnight Diner? Na ja, das ist auch nicht schlecht, aber wie gesagt, mein Stück spielt in einem 24-Stunden-Laden! Die Hauptfigur kocht auch nichts. Und in Midnight Diner fragt ja auch niemand den Imbissinhaber nach seiner Vergangenheit. Aber bei mir dreht sich alles darum, die Identität des Mannes an der Kasse aufzudecken. Dessen Vergangenheit wird auch in Rückblenden dargestellt, und es wird im Verlauf des Stücks auch klar, warum er in dem Laden arbeiten muss. Und er sitzt jede Nacht da an der Kasse und wartet. Auf irgendwas.«

»Darauf, dass die Ware geliefert wird, vermutlich.«

»Ach, jetzt machen Sie doch nicht alles kaputt … Das ist vom Stil her so ein bisschen wie Warten auf Godot. Der Mann unterhält sich jeden Abend mit einem Stammkunden, der immer zum Trinken vorbeikommt. So wie Vladimir und Estragon. Es gibt sehr viele Dialoge. Und zwischendurch auch Cham-Cham-Cham.«

»Cham-Cham-Cham? Ist das ein Spiel?«

»Na ja, das ist eine Art Set-Menü. Chamkkae-ramyeon, Chamchi-gimbap und Chamiseul.«

»Klingt nicht schlecht. Könnte man für Product Placement verwenden. So, dass die Zuschauer das selbst auch probieren können.«

»Stimmt, wenn die Zuschauer mitmachen und man denen so ein Paket als Geschenk mitgibt und die das als Foto auf Instagram hochladen, könnte man Werbegeld dafür bekommen. Also, jedenfalls ist dieses Cham-Cham-Cham so ein Set-Menü, das der Mann aus dem Laden dem Stammkunden empfiehlt, und so übernehmen die beiden dann den Dialogpart. Und dann gibt es da noch eine kratzbürstige Frau, die in dem Viertel wohnt und Schriftstellerin ist. Die unausstehliche Horrorkundin. Die arbeitet immer nachts und kommt immer nachts in den Laden und trifft dann auf den Mann, und daraus entwickelt sich dann auch noch eine Story …«

»Diese Schriftstellerin, das klingt irgendwie nach dir.«

»Nein, nein, die Frau findet den Laden nämlich total schrecklich. Weil der Mann an der Kasse einen so miserablen Eindruck macht und das Sortiment so mickrig ist. Aber es ist Winter und kalt draußen, und da hat sie keine Lust, extra weit zu laufen, um irgendwo Essen zu besorgen, und deshalb geht sie wohl oder übel immer in diesen Laden … Obwohl das für sie total nervig ist.«

»In-gyeong, hör mal.«

»Was?«

»Das machen wir.«

»Was, echt? Ich hab das doch noch gar nicht fertig geschrieben.«

»Klar hast du das. Im Kopf. Nächstes Jahr kommt das auf die Bühne. Und ich garantiere dir, das wird nicht dein letztes Stück sein. Nach diesem Stück kannst du gleich das nächste schreiben.«

»Meinen Sie wirklich?«

»Mhm.«

»Also so was … Ich stand hier bis eben eigentlich einen Schritt vorm Abgrund. Und jetzt geben Sie mir so einfach Ihr Okay. Wie gesagt, ich habe das alles noch gar nicht geschrieben.«

»Schreib mir bis morgen erst mal nur den Titel auf. Erst muss sowieso der Vertrag geschrieben werden und danach das Manuskript.«

»Herr Kim?«

»Was?«

»Danke. Echt!«

»Ich bin kein Idiot. Der Inhalt ist gut. Und man spürt, dass du voll dabei bist. Ich bin sicher, das wird gut.«

»Na logisch wird das gut!«

»Oh Mann, ein kleines Lob, und schon wirst du übermütig … Sag mal, wie ist überhaupt der Titel?«

»Der Titel?«

»Der Titel von dem Stück.«

»Hm … Der Laden … Ein sehr unbequemer, nerviger … ähm … Laden, also … Kein einladender Laden. So ist der Titel.«

Kaum war das Gespräch beendet, nahm In-gyeong ihr Notebook, öffnete das Schreibprogramm und fing an zu tippen. Den Titel, dann zwei Leerzeilen, und dann begann sie das Werk zu schreiben, von dem sie nicht wusste, ob es nicht vielleicht ihr letztes sein würde. Sie tippte ununterbrochen. Manchmal ist das Schreiben nicht mehr als bloßes Tippen. Wenn du dir über eine lange Zeit hinweg den Kopf zerbrochen hast und einen Haufen Gedanken in deinem Kopf hast wachsen lassen, so viele, dass du sie nur anzuticken brauchst, damit sie herausschwappen, dann ist das Einzige, das dir noch zu tun bleibt, die Finger fleißig auf der Tastatur tanzen zu lassen. Und wenn die Gedanken so schnell fließen, dass die Finger nicht nachkommen, dann machst du deine Sache gut. Während sie tippte, sprach In-gyeong die Dialoge, als stünde sie selbst auf der Bühne. Es war, als führten ihre linke und ihre rechte Hand ein Gespräch miteinander, als wäre sämtliche bis dahin in ihr versiegelte Schreibkraft nun vollkommen befreit. So schrieb In-gyeong, ohne auch nur einmal innezuhalten, ihre Geschichte. Sie hatte am Abend begonnen, bald schon war es nach zwölf Uhr, und je tiefer in der Winternacht, desto mehr Details kamen ihr in den Sinn.

In dieser Nacht gab es im ganzen Viertel nur zwei Orte, wo zu dieser Zeit noch Licht brannte: Dok-gos Laden und In-gyeongs Schreibzimmer.