Vier Dosen für zehntausend Won

Min-sik dachte über sein Unglück nach. Sein Leben war insgesamt weitgehend unglücklich verlaufen, doch nun grübelte er darüber, wann dieses Unglück eigentlich begonnen hatte. Vielleicht war es in der Grundschule gewesen, als er nicht in die Baseballgruppe hatte gehen dürfen. Er war groß, kräftig und bewegungsbegabt gewesen, und der Baseballtrainer hatte sogar schon eine Aufnahmezeremonie für ihn veranstaltet, aber seine Eltern hatten anders entschieden und ihn auf die Lernspur geschubst. Das war das erste Unglück gewesen. Jeder Mensch hatte doch andere Begabungen und Interessen, warum bloß fanden sie es so wichtig, dass er, statt sich um Dinge zu kümmern, die er gern hatte, immer nur fleißig lernte und dass aus ihm ein gewöhnlicher Erwachsener wurde? So hatte ihr eigenes Leben ausgesehen, so sah auch das Leben seiner älteren Schwester aus, und deshalb waren sie der Auffassung, dass auch Min-sik, der Jüngste, der einzige Sohn, selbstverständlich diesem Weg folgen müsse.

Das zweite Unglück war vermutlich die Entscheidung gewesen, zum Studieren in die Provinz zu gehen. Seine Eltern hätten ihn gern an die renommierte Seouler Universität geschickt, an der sie auch selbst studiert hatten, aber leider reichten Min-siks Noten nicht aus, und so bestand der Plan B seiner Eltern darin, dass er statt des Seouler Hauptcampus den Provinzableger jener großen Universität besuchen solle. Während sie vermutlich überall damit prahlten, dass ihr Sohn an derselbenUniversität studiere wie sie früher auch, verwandte Min-sik auf dem auswärtigen Campus im Studentenwohnviertel der Provinzstadt fleißig all seine Energie auf Dinge wie Saufen, Billiard, Starcraft und die Aktivitäten der Baseball-AG. Mit anderen Worten, er war gut darin, Spaß zu haben. Zwar gelang ihm mit Ach und Krach der Uni-Abschluss, doch bekam er im Folgenden die traurige Realität eines Provinzcampusabsolventen hautnah zu spüren und fand schließlich — nach nicht unerheblichen Verletzungen seines Selbstwertgefühls und seiner Antriebskraft — an der Front des Arbeitsmarktes einen heldenhaften Tod.

Das dritte Unglück war der sogenannte Erfolg. Im Gegensatz zu dem sicheren Leben, das seine Eltern im Beamtenstatus und im Lehramt geführt hatten, und zu dem seiner älteren Schwester, die um ihre Tätigkeit in einem Fachberuf von allen beneidet wurde, war Min-siks Leben ein Dschungel, durch den er sich mit bloßen Händen kämpfen musste. Er war nicht besonders clever und sein Hochschulabschluss nicht grandios, aber er war körperlich gesund und konnte gut reden, also beschloss er, jede Arbeit zu machen, die ihm Geld einbringen würde. Geld war das Einzige, das ihm in der Familie zu einer gewissen Anerkennung verhelfen würde, und das Einzige, das er selbst zum Leben brauchte. Geld war das Einzige, das ihn zu dem machen würde, der er war, alles andere würde sich dann schon von selbst ergeben.

Um Geld zu verdienen, war ihm so gut wie jedes Mittel recht, und so bewegte er sich in den Tätigkeiten, die er ausübte, geschickt auf der Grenze zwischen Legalität und Illegalität. Es gab nichts zu bereuen. Er verdiente nicht schlecht, und noch vor seinem dreißigsten Lebensjahr konnte er sich eine eigene Apartmentwohnung und einen Importwagen leisten. Nun, da er zu Geld gekommen war, hielten sich auch seine Eltern, seine Schwester und ihr Ehemann, dieser Klugscheißer, mit schlauen Ratschlägen zurück. Gut so. All diese Besserwisser waren eingeschüchtert durch die Macht des Geldes, das er nun besaß. Wenn er noch ein wenig mehr verdiente, würde die gesamte Familie vor ihm angekrochen kommen. Wenn er seinem Vater, der gerade in Rente gegangen war, ein üppiges Taschengeld und seiner Mutter reichlich Opfergeld für die Kirchenkollekte spendierte, würden sie ihm zu Füßen liegen. Und ganz sicher würden seine Schwester und ihr Mann ihn unwahrscheinlich umschmeicheln, um ihn dazu zu bewegen, in die Arztpraxis zu investieren, die sie beide gemeinsam führten. Es fehlte nicht mehr viel, und er hätte es geschafft. Aber dann war es schiefgegangen. Angetrieben von dem Drang, nur noch ein klein wenig mehr zu verdienen, um sich anschließend wie ein König aufführen zu können, hatte er sich bei seinen Geschäften zu weit aus dem Fenster gelehnt und Tribut zahlen müssen.

Das vierte Unglück schmerzte ihn bis in die Knochen. Es bestand darin, der Frau begegnet zu sein, die er später heiraten sollte. Er traf sie in seinem neu gegründeten Unternehmen, das ihm das große Comeback bescheren sollte. Sie war nicht weniger geschäftstüchtig als er. Er galt als jemand, der sich nicht so leicht übers Ohr hauen ließ, aber dieser Frau war er so verfallen, dass seine Großzügigkeit ihr gegenüber nach nur sechs Monaten keine Grenzen mehr kannte. Irgendjemand hatte zwar gesagt, so sehe wahre Liebe aus, er allerdings sah nun, dass es sich nur um eine zeitweilige Verrücktheit gehandelt hatte. Im gleichen Zug war es dann auch zur Heirat gekommen, und nachdem sie zwei Jahre lang versucht hatten, einander auszutricksen, und seine Frau dabei die Oberhand gewonnen hatte, endete ihre Beziehung damit, dass er ihr schließlich die Apartmentwohnung überließ, sein einziges noch verbliebenes Vermögen. Nun, da die Scheidung zwei Jahre zurücklag, dachte er, dass nicht nur sie großes Unglück über ihn gebracht habe, sondern auch er über sie. Zwei herzlose Menschen hatten einander fleißig mit Bomben beworfen und sich dabei simultan selbst in die Luft gesprengt, so konnte man es wohl bezeichnen. Dass sie die Sache schließlich beendet hatten, um noch Schlimmeres zu vermeiden, war einzig ihrem im Geschäftsleben geschulten strategischen Gespür dafür zu verdanken, im richtigen Zeitpunkt einen Rückzieher zu machen.

Doch das Unglück hatte trotzdem noch kein Ende genommen. Bitcoin. Er war sofort Feuer und Flamme gewesen. Das war DIE Gelegenheit. Er spürte es. Diese Einschätzung jedoch war das Ergebnis einer durch wiederholte Fehlschläge getrübten Wahrnehmung. Bitcoin war nicht nur kein greifbares, sondern auch ein geldfressendes Geld.

Nachdem er also sein fünftes Unglück erlitten hatte, hielt er alleine nicht länger durch und musste in der Wohnung seiner Mutter in Cheongpa-dong unterkriechen. Mit dem Erbe, das sein Vater, der ein paar Jahre zuvor verstorben war, hinterlassen hatte, hatte seine Mutter, wie er nun erfuhr, einen 24-Stunden-Laden eröffnet. Ganz sicher hatte auch ihm ein Teil der Erbschaft zugestanden, aber seine Mutter und seine Schwester hatten das Geld, ohne ihn davon in Kenntnis zu setzen, komplett in den Laden gesteckt. Es musste zu der Zeit gewesen sein, als er wegen seiner Scheidung und der Geschäftspleite ohnehin nicht mehr gewusst hatte, wo ihm der Kopf stand, und er jeglichen Kontakt zu seiner Familie abgebrochen hatte. Trotzdem fühlte er sich ungerecht behandelt, und nachdem er eines Tages seine Mutter in betrunkenem Zustand bedrängt hatte, den ihm zustehenden Anteil der Erbschaft herauszurücken, und es heftigen Streit gegeben hatte, war er Hals über Kopf ausgezogen und nacheinander bei verschiedenen ehemaligen Studienkollegen untergekommen.

An diesem Punkt kamen die Grübeleien über seine Vergangenheit zu einem Ende. Die unbedeutenderen Unglückshürden, die er in der Folge noch hatte nehmen müssen, lohnten nicht mehr, gezählt zu werden. Was er nun brauchte, war Geld für eine neue Geschäftsgründung. Dieses Geld lag im Laden seiner Mutter, genauer gesagt, in dem Laden, den seine Mutter, ohne seine Billigung unter Verwendung des ihm zustehenden Anteils der Erbschaft seines Vaters führte. Er würde sich seinen Anteil zurückholen, zu seinen Geschäftsaktivitäten zurückkehren und wieder viel Geld verdienen. Dann würde er seiner Mutter locker zwei Läden schenken können und dem nervigen Exkommilitonen, der ständig herumquengelte, wann Min-sik denn endlich ausziehe, einen ordentlichen Arschtritt verpassen.

Heute wollte sich Min-sik mit Gi-yong treffen. Gi-yong, der sich selber in Anlehnung an G-Dragon (den Sänger und Musikproduzenten Gwon Ji-yong) abwegigerweise Gi-Dragon nannte, ging ihm mit seinem übertriebenen Gehabe und seiner maßlosen Art zwar gründlich auf die Nerven, war aber durchaus ein cleverer Kerl. Seit einigen Jahren hatte Min-sik, wenn er wichtige Entscheidungen treffen musste, stets Gi-yong um seine Meinung gefragt. Dieser hatte, im Gegensatz zu ihm, Min-sik, die Gabe, seinen Kopf zu benutzen und Min-sik dazu zu bringen, noch einmal gründlich über seine Entscheidungen nachzudenken. Wenn Min-sik auf das hörte, was Gi-yong ihm sagte, hieß das nicht, dass er dann unbedingt Erfolg haben würde, aber das Risiko zu scheitern ließ sich dadurch reduzieren. »Wenn das Gerücht aufkommt, dass sich mit einer Sache Geld machen lässt, und man dann sofort einsteigt, ist es schon zu spät, sag ich dir. Komm da schnell wieder raus, ehe du komplett abgebrannt bist.« Auch dass er aus dem Bitcoin-Sumpf mit Müh und Not wieder herausgefunden hatte, verdankte er Gi-yong, ebenso wie den Umstand, dass er letztlich die Finger von einem Solarenergiegeschäft gelassen hatte.

Als ihm ein älterer Kumpel erzählt hatte, er treibe Geschäfte im Bereich der Sonnenenergie, und ihm eine Zusammenarbeit vorgeschlagen hatte, war ein befreiendes Gefühl wie ein Stromschlag durch seinen Körper gegangen, und es war ihm so vorgekommen, als würde nun endlich auch in seinem Leben die Sonne wieder scheinen. Das Geschäft mit der Sonnenenergie stieß im Zuge der staatlichen Förderung erneuerbarer Energien jenseits der Atomkraft bei zahlreichen Investoren auf Interesse, vor allem aber hatte Min-sik diesmal das Gefühl gehabt, sich seinen Anteil sichern zu können, ehe die Sache in aller Munde war. Nach einigen Monaten jedoch war ihm der unheilvolle Gedanke gekommen, dass es sich hier um einen Betrug handelte. Das große Geschäft bestand lediglich darin, ein paar Bagger auf ödem Gelände herumbuddeln zu lassen, um Investoren für einen Solarpark zu ködern, dessen Bau offenbar niemals geplant gewesen war. Auch dieses Mal hatte Min-sik Gi-yong am Telefon von seinen Sorgen berichtet und es anschließend geschafft, wieder aus dem Geschäft auszusteigen.

Der miese Schuft, der ihn für seine Machenschaften hatte gewinnen wollen, ging, nachdem Min-sik seinen Hals aus der Schlinge gezogen hatte, regelrecht an die Decke und warnte ihn, in Zukunft nachts auf der Straße aufzupassen. Was er selbst allerdings offenbar nicht tat, insofern er eines Nachts auf der Straße von der Polizei geschnappt wurde und seine Mahlzeiten seitdem vom Justizministerium gestellt bekam. Mit anderen Worten, wenn Gi-yong nicht gewesen wäre, hätte Min-sik seiner windigen Karriere als Geschäftsmann um ein Haar noch ein paar Knast-Anekdoten hinzufügen können.

Gi-yong, der also hier und da die Rolle von Min-siks Gehirn übernommen hatte, wollte heute über ein bestimmtes Projekt mit ihm sprechen, und Min-sik hatte sich die Entendaunen-Jacke seines Zimmergenossen geschnappt und sich mit dem Auto zur Gyeongnidan-Straße aufgemacht.

Anders als gewöhnlich war hier zu Neujahr nicht viel los. Es war nicht nur nicht viel los, die Straße lag geradezu ausgestorben und verlassen da. Wenn ein Ladenviertel nach oben strebte, hob sich — zack! — auch die Laune der Hausbesitzer, und schon stiegen überall wie einem Naturgesetz folgend auch die Mietpreise. Hier war es nun so, dass die Läden, die diesen Preisen nicht mehr gewachsen waren, einer nach dem anderen dichtmachten und das Geschäftsviertel langsam abzusterben begann. Man konnte davon ausgehen, dass die Gyeongnidan-Straße bald verschwinden und nur ihre kleinen Geschwister, die Mangnidan-Straße, die Songnidan-Straße und die Hwangnidan-Straße, zurücklassen würde. Min-sik fragte sich, weshalb Gi-yong, der doch ein gutes Gespür für Veränderungen hatte, ihn ausgerechnet hier treffen wollte.

Als er bei der Adresse ankam, die Gi-yong ihm genannt hatte, sah er in einer Ecke der leeren Gasse ein kleines Bierlokal. Er parkte den Wagen vor dem Eingang.

»Dein Ernst? Ich hab dir doch gesagt, du sollst nicht mit dem Auto kommen!«

Kaum hatte er das Lokal betreten, fing Gi-yong an, ihn zu bekritteln. Min-sik bekam augenblicklich schlechte Laune.

»Willst du damit sagen, ich soll bei dieser Kälte mit dem Bus fahren, oder was?«

»Taxi! Es gibt doch Taxis!«

»Drauf geschissen. Ich fahr doch nicht Taxi, wenn ich ein Auto hab.«

»Das hat schon alles seinen Grund. Ich sag dir nicht umsonst, dass du nicht mit dem Auto kommen sollst. Du musst heute ein bisschen was trinken.«

»Was, hier? Bier ist mir zu lasch, das rühr ich nicht an. Jetzt sag nicht, du wusstest das nicht.«

Gi-yong, offenbar ungewillt, weiter auf Min-siks Genörgel einzugehen, drehte sich um und steuerte direkt auf die Theke zu. Min-sik ließ sich auf einen metallenen Stuhl plumpsen, stützte die Arme auf den schmalen Tisch vor sich und sah sich um. Der Raum war funzelig beleuchtet, aus einem Lautsprecher hörte man die E-Gitarren-Klänge von lauter Rockmusik, und hier und da standen westliche Möbel im antiken Stil, die wohl nach dem Geschmack der hier einkehrenden amerikanischen Soldaten sein mochten. Im hinteren Teil des Lokals hing ein altes Plakat mit der Aufschrift »Drink Beer, Save Water«, und wenn man ausatmete, kamen einem die Nebelschwaden aus dem Mund, ganz so, als würde hier absichtlich nicht geheizt, um den Alkoholkonsum der Gäste anzukurbeln.

Min-sik war genervt. Bier war für ihn gewöhnlich nur mit Soju oder Whiskey gemischt genießbar, und nun hatte Gi-yong ihn in diesem Bierlokal antanzen lassen. Über welche geschäftliche Angelegenheit er auch mit ihm sprechen wollte, Min-siks Vertrauen war bereits schwer erschüttert. Ob Gi-yong seinen Missmut wahrnahm oder nicht, war nicht erkennbar, jedenfalls ließ er sich von dem langhaarigen Barkeeper irgendetwas servieren und kam damit zu Min-sik herüber. Er trug ein Holzbrett, in das kleine Vertiefungen gebohrt waren, und in jeder dieser Mulden befanden sich kleine Gläschen, etwas größer als Schnapsgläser, jeweils mit verschiedenfarbigen Flüssigkeiten gefüllt, dunkel kürbisfarben oder beinahe schwarz. Die sojasoßenfarbene Flüssigkeit wirkte ein wenig wie dunkles Bier, die kürbisfarbene Flüssigkeit erinnerte eher an Cognac.

»Ist das Bier?«, fragte Min-sik.

»Probier mal«, antwortete Gi-yong, die Mundwinkel leicht nach oben gezogen und mit der Hand eine Trinkbewegung andeutend. Allein die Tatsache, Bier aus Sojugläsern zu trinken, war Min-sik schon zuwider, aber schließlich musste er es nicht bezahlen, sondern konnte sich kostenlos betrinken, und so griff er nach einem kürbisfarben gefüllten Glas und trank es in einem Zug aus.

Ziemlich stark. Intensives Aroma, am Ende leicht bitter, durchaus speziell. War das Kognak? Oder Bier? Es schmeckte ganz anders als das lasche Bier, das er oft getrunken hatte. Wenn man einen Whiskey-Cocktail sehr gut mixte, dann käme vielleicht so etwas Besonderes heraus.

Ohne sich noch einmal bitten zu lassen, wählte Min-sik nun ein Getränk von etwas dunklerer Färbung. Oh ja! Das war noch voller im Geschmack. In faszinierender Weise überlagerten sich das leicht Bittere und das Erfrischende. Nun eines mit gelblicher Tönung und viel Schaum. Min-sik fühlte sich an Hoegaarden-Bier erinnert, das er früher manchmal getrunken hatte. Aber das hier war viel stärker und herber, ganz nach seinem Geschmack. Auch das letzte noch verbliebene dunkle Bier trank Min-sik, nachdem er nur daran geschnuppert hatte, in einem Zug aus. Na, so was, so mild und weich konnte Bier schmecken? Oder hatte er gerade mit Sesamöl vermischten schwarzen Bohnensaft getrunken?

»Wie kann Bier denn bitte so schmecken?«

»Gut, was?«

»Jetzt räum diese Kostproben hier mal weg und schenk mir richtig ein, dass es schäumt!«

»Von welchem?«

»Von dem ganz dunklen da.«

Gi-yong nahm das Holzbrett und verschwand, um kurz darauf mit zwei hohen, frisch mit Bier gefüllten Gläsern zurückzukommen. Min-sik prostete Gi-yong zu und trank weiter. Leicht bitter und erfrischend, das hier war besser als ein aus 30-jährigem Ballantine’s gemixter Cocktail. Wahnsinn! Dabei hatte er schon lange kein Bier mehr getrunken, weil es ihm zu fad und unbefriedigend gewesen war … Wo um alles in der Welt war ein Bier mit so überwältigendem Geschmack entstanden?

»Das nennt sich Ale und wird in Europa gerne getrunken.«

»Ale? Und das Cass-Bier, das wir trinken, was ist das denn dann?«

»Das ist Lager. Steht doch auch auf den Bierdosen drauf.«

»Was? Das, was da neben ›Cass‹ draufsteht, heißt Lager? Nicht Läidschor?«

»Boah … Ich kann zwar auch kaum Englisch, aber du bist ja echt ein Knaller.«

»Das war ein Dad-Joke, Alter. Glaubst du echt, ich weiß das nicht?«

»Ach komm. Auf jeden Fall, bei uns und in Amerika trinkt man hauptsächlich Lager und in Europa Ale. Seit ein paar Jahren ist hier in Gyeongnidan und auch in Itaewon der Ale-Frühling angebrochen. Die Hipster trinken nur noch so was.«

»Aber ich könnte mir vorstellen, das ist auch was für Durchschnittsheinis. Wirklich ganz mein Fall. Intensiver Geschmack, vom Aroma her auch, da braucht man mir mit Kognak gar nicht kommen. Hey, das könnte man doch bestimmt auch in Roomsalons vertreiben.«

»Och, was kommst du denn jetzt mit so was? Wenn man sich auf das Geschäft mit den Roomsalons einlässt, hat man dauernd mit schmutzigen Kerlen zu tun. Wir bleiben schön sauber.«

»Hey, Geschäfte machen heißt, davon leben, dass man anderen was wegnimmt. Leicht verdient sich da gar nichts.«

»Was ich meine, ist, dass wir das Risiko minimieren. Der Punkt ist: Der Markt für Ale wächst. Und die Gesetzeslage ist mittlerweile so, dass man eine kleine Brauerei, die solches Ale herstellt, auch privat führen darf.«

»Echt?«

»Schlappe zweihundert bis dreihundert Millionen Won, und du kannst in Gyeonggi-do, irgendwo, wo es reichlich Wasser gibt, deine eigene Brauerei aufmachen. In Gapyeong oder Cheongpyeong oder so. Wie wäre es, wenn wir so was da herstellen und dann hier in Seoul verkaufen? Du hast doch letztens gesagt, du würdest gerne eine Kneipe führen? Dann wirst du jetzt nicht Kneipen-, sondern Brauereibesitzer. Um so ein fabelhaftes Bier werden sich die Läden reißen, sag ich dir. Das wird der absolute Renner.«

»Heißt das, man kann so ein Bier auch in einer kleinen Brauerei herstellen?«

»Ja, sag ich doch.«

»Und wer macht das?«

In diesem Moment erschien, umhüllt von feinem Bratöldunst, der langhaarige Barkeeper und brachte einen Teller mit Chicken Wings und Pommes frites. Gi-yong wies auf den jungen Mann, als wollte er Min-sik ein neues Produkt vorstellen. Der Barkeeper begrüßte Min-sik und setzte sich zu ihnen an den Tisch.

»Der Schwager von meinem Freund hier ist Brew Master. Brew heißt Bierbrauen und Master heißt … ähm … Meister. Also, jedenfalls … Er ist so etwas wie ein Küchenchef, der Bier herstellt. Er heißt Steve, kommt aus Portland und führt in Paju eine kleine Brauerei.«

Min-sik schaute etwas verwirrt zwischen Gi-yong und dem Barkeeper hin und her. Dann übernahm freundlicherweise Letzterer das Erklären. Seine große Schwester habe in Portland, der hippsten Stadt Amerikas, studiert, und Steve habe dort das hippste Bier gebraut. Die beiden hätten sich dort getroffen, und Steve sei vor vier Jahren mit ihr nach Korea zu Besuch gekommen. Als er das koreanische Bier getrunken habe, sei ihm der Gedanke gekommen, dass man hier mit selbst gebrautem Bier ein großes Geschäft machen könnte, und so seien die beiden nach ihrer Heirat vor zwei Jahren nach Korea gezogen, hätten in Paju eine kleine Brauerei gegründet und würden seitdem Bier vertreiben. Steve und seine Schwester kümmerten sich um die Brauerei und er, der Barkeeper, würde diese und auch andere Kneipen mit dem Bier beliefern und Werbung für die Bierproduktion seines Schwagers machen.

»Aber was hat das denn alles mit Amerika zu tun, wenn Ale in Europa getrunken wird?«

»Ach komm. Schon mal was von Globalisierung gehört? Und wenn es in Europa was Neues gibt, übernehmen die Amerikaner das doch sofort und machen damit riesige Geschäfte. Wusstest du das nicht? Na ja, jedenfalls läuft die Brauerei von seinem Schwager wie geschmiert, und die wollen expandieren. Deshalb brauchen die jetzt noch einen Unternehmer, der da mitmacht. Und Mitarbeiter. Und an dieser Stelle kommen wir ins Spiel.«

»Hm … Ein bisschen plötzlich zwar, aber … Brauereichef … Schon ein komisches Gefühl, dass mir nach so langer Zeit endlich mal wieder vernünftige Arbeit angeboten wird … Aber wenn das alles so gut läuft, dann müsste es doch massenweise Investoren geben? Wieso bekommen denn ausgerechnet wir beide diese Chance?«

»Okay, okay, du kannst jetzt gerne anfangen, hier an irgendwelchen Kleinigkeiten herumzumosern …«

»Nee, ich meine, du hast doch damals bei den Solaranlagen selbst gesagt: Warum anderen Leuten den Arsch abputzen, wenn der Kuchen schon gegessen ist?«

»Oh Mann. Ich bin eben Gi-Dragon, klar? Der Steve, der ist total wählerisch, was Leute angeht. Als ich ihn getroffen hab, da hat der sich erst mal über mein Konglisch total kaputtgelacht. Hat aber natürlich auch gleich gecheckt, dass ich ein zuverlässiger Kerl bin. Und irgendwann hat er auch zu meinem Kumpel hier gesagt: Bei den Koreanern, da weiß man ja nie so genau, woran man ist, aber der Gi-Dragon hier, der ist total nice, dem würde er absolut vertrauen, und Beziehungen sind schließlich superwichtig, wenn man ein Geschäft vergrößern will.«

Gi-yong warf dem Barkeeper einen Zustimmung heischenden Blick zu, und dieser reckte prompt den Daumen in die Höhe und versicherte, sein Schwager sei zwar extrem pingelig, von Gi-yong habe er aus irgendeinem Grund aber eine sehr hohe Meinung. Min-sik hatte Gi-yong immer schon als albernen Lackaffen betrachtet, aber wenn er sich auch bei diesem Amerikaner zunächst so lächerlich gemacht hatte, dann war es schon sehr eigenartig und ziemlich zweifelhaft, dass ihm nun diese große Gelegenheit gegeben wurde. Und nur weil einer aus Amerika kam, hieß das ja nicht, dass er kein ausgemachter Betrüger sein könnte.

Da Min-siks Skepsis nicht weichen wollte, stand der Barkeeper auf, um etwas zu holen. Es war eine unbedruckte 500-Milliliter-Bierdose. Der Barkeeper öffnete die Dose, goss deren Inhalt in ein frisches Glas und reichte es Min-sik. Der trank einen Schluck, nicht ohne auch diesmal wieder begeistert zu sein.

»Man kann das auch in Dosen verkaufen. Das ist der Grund, weshalb der Betrieb vergrößert werden soll.«

Min-siks Kopf nickte wie von selbst.

»Min-sik, hör mal, Steves Bier wird von nun an auch in Supermärkten und 24-Stunden-Läden verkauft. In manchen 24-Stunden-Läden gibt es wohl schon Bier aus anderen Brauereien. Wir müssen uns beeilen. Wir machen das Bier mit dem besten Geschmack, und wenn jetzt noch du als Mann mit langjähriger logistischer Erfahrung zu unserem Team dazustößt, dann läuft die Sache.«

Min-sik nahm noch einen Schluck und dachte nach. Er spürte, wie sich süßlicher Malz- und bitterer Hopfengeschmack in seinem Mund ausbreiteten. Und schließlich war er sich sicher: Das war der Geschmack des Erfolgs. Gi-yong setzte nach, um die Sache endgültig festzuklopfen.

»Du weißt schon, dass im Sommer das Bier aus Japan komplett ausfällt? Deine Mutter hat doch einen 24-Stunden-Laden, oder? Geh da mal hin. Asahi, Kirin, Sapporo, die hatten alle das Viererpack für zehntausend im Angebot. Und? Alle weg. Der Boykott japanischer Erzeugnisse im Moment, das ist für uns DIE Chance. Überleg doch mal. Die Lücke, die entsteht, wenn das japanische Bier wegfällt. Wer wird die füllen? Cass? Hite? Nee, mein Lieber, Steves selbst gebrautes Ale!«

»Aber der Japanboykott … Ob der so lange anhält?«, versuchte Min-sik noch, seinen letzten Zweifeln Ausdruck zu verleihen. Sichtlich genervt leerte Gi-yong sein Glas und knallte es auf den Tisch.

»Na hör mal! Hast du vergessen, zu welchem Volk wir gehören? Die Unabhängigkeitsbewegung haben wir damals zwar noch nicht mitmachen können, dafür aber die Sache mit dem Japanboykott! Deswegen ist doch auch gerade die Hölle los! Wir sind Koreaner! Dae-han-min-guk! Im Baseball und im Fußball, da sind Korea und Japan doch die absoluten Feinde, oder ist dir das neu? Wer da verliert, der kann sich zu Hause aber auf was gefasst machen. Japanisches Bier? Trinkt kein Mensch mehr, sag ich dir! Du hast ja nicht einen Funken Nationalstolz, echt. Hätte ich gar nicht von dir gedacht.«

»Was hat denn das mit Nationalstolz zu tun … Ich boykottiere Japan doch auch. Ich hab schon lange keine Mevius mehr geraucht.«

»Also, machst du nun mit oder nicht? Ich biete dir hier ein Sprungbrett, und nur weil du zurzeit Probleme hast, machst du hier einen auf pingelig, echt. Weißt du eigentlich, wie genau ich das alles nehme? Als du damals diesen ganzen Kram machen wolltest, der so grandios aussah, da war doch ich derjenige, der dir abgeraten hat. Und was ich dir jetzt empfehle, willst du nicht? Dass du so ein Hasenfuß bist, hätte ich wirklich nicht gedacht.«

Min-sik antwortete nicht. Stattdessen zeigte er auf sein leeres Glas. Der Barkeeper sprang auf und füllte ein neues Glas. Min-sik nahm es und kostete noch einmal von dem selig machenden kürbisfarbenen Trank. Dann stellte er das Glas ab und klopfte Gi-yong, der zusammenzuckte und das Gesicht verzog, einmal auf den Hinterkopf und sagte feierlich:

»Du kannst dich auf mich verlassen. Wie viel braucht ihr?«

Min-sik hatte den Chauffeurservice gerufen und sich in seinem Wagen zum Haus seiner Mutter in Cheongpa-dong fahren lassen. Er war schon im Begriff, die Wohnung zu betreten, doch dann zögerte er. Zum einen war es ihm unangenehm, sich nach so langer Zeit wieder bei seiner Mutter blicken zu lassen, vor allem aber brauchte er irgendwas, um sie von seinem neuen Vorhaben zu überzeugen. Seiner Mutter, die ja keinen Alkohol trank, eine Bierprobe aufzuschwatzen, um ihr die Qualität des neuen Produktes begreiflich zu machen, wäre vermutlich keine gute Idee. Da kam ihm schlagartig ein Gedanke. Er machte kehrt und lenkte seine Schritte nun in eine andere Richtung.

Der Laden. Der 24-Stunden-Laden seiner Mutter, der zur Hälfte von dem ihm zustehenden Erbteil seines Vaters finanziert worden war. Gi-yong hatte gesagt, das Dosen-Ale sei in manchen 24-Stunden-Läden bereits im Angebot. Wenn dem so war, dann könnte er seiner Mutter mit einem in ihrem Laden gekauften Ale-Bier doch anschaulich das Expansionspotenzial dieser Branche vor Augen führen!

Jetzt, um elf Uhr abends, gab es keine Kunden, der Laden lag leer und öde da, und am Eingang blinkte noch immer trostlos die Weihnachtsbeleuchtung vom vergangenen Jahr. Mit bitterer Miene öffnete er die Tür und trat ein.

»’n Abend!«, begrüßte ihn mit voluminöser, tiefer Stimme ein Mann im mittleren Alter. Min-sik ging an ihm vorbei und auf das Kühlregal zu. Er hatte nicht so genau hingesehen, aber die Aushilfe für die Nachtschicht schien gewechselt zu haben. Von ziemlich rundlich zu irgendwie viereckig. Ihm fiel ein, dass seine Mutter ihn vor zwei Monaten gebeten hatte, für die Nachtschicht einzuspringen, bis sie einen neuen Mitarbeiter gefunden habe. Ein hirnverbrannter Vorschlag. Dass sie ihn offenbar noch immer für jemanden hielt, der mal eben Aushilfe spielen konnte, hatte ihn damals zur Weißglut gebracht. Nicht, dass er es nicht irgendwie auch bedauert hätte. Vielleicht wäre es ganz vernünftig gewesen, ein wenig auf seine Mutter zu hören, bevor er seinen Anteil einforderte. Aber nicht eine Sekunde wollte er so leben wie runde oder viereckige Typen, die sich an den Rand der Gesellschaft hatten drängen lassen und nun nachts auf irgendeinen Laden aufpassen mussten. Er mit seinen vierzig Jahren befand sich schließlich im besten Alter, oder etwa nicht? Wer in dieser Welt nicht mithalten konnte, fiel doch sofort auf die Schnauze. Er aber würde nun auf einem Chefposten sein zweites Leben beginnen, sei es als Kneipen- oder als Brauereibesitzer.

Er stand vor dem Bierregal und überlegte, was er kaufen solle. Dort, wo sonst das japanische Bier gestanden hatte, befanden sich nun irgendwelche unbekannten einheimischen Marken. Von den Sorten aus eigener kleiner Produktion, die Gi-yong erwähnt hatte, fielen ihm allerdings keine auf. Er öffnete die Tür des Getränkeschranks, ließ seinen Blick über die in Reih und Glied stehenden Dosen wandern und machte mit knapper Not zwei Dosen mit etwas unprofessionell wirkendem koreanischsprachigem Markenaufdruck ausfindig. »Bierberg Sobaeksan — Pale Ale« und »Bierberg Taebaeksan — Golden Ale«. Min-sik nahm jeweils eine Dose davon und als Vergleichsprobe noch zwei Dosen Tsingtao und ging zur Kasse.

Der viereckige Mann hinter dem Tresen sah von Nahem noch bulliger aus. Er hatte etwas von einem Bären und gleichzeitig auch etwas von einem Urmenschen, der gerade unterwegs war, um Bären zu jagen. Min-sik betrachtete ihn mit einer gewissen Faszination. Bei so einem Ladenmitarbeiter brauchte man sich keine Sorgen machen, dass sich in der Nacht ein Dieb hier hereinwagen könnte. Beim Anblick des Urmenschen, der in behäbiger Weise das Lesegerät über den Barcode gleiten ließ, musste Min-sik schmunzeln.

»Dieses Bier hier, verkauft sich das gut?«, fragte Min-sik und zeigte auf das Sobaeksan.

»Hm … eher nicht.«

»Haben Sie das mal probiert? Wie schmeckt das denn so?«

Nachdem er alles eingescannt hatte, hob der Mann an der Kasse den Kopf und sah Min-sik an.

»Weiß ich … nicht. Ich trinke … keinen Alkohol.«

Hm, klar. Sieht selber aus wie zwei Kisten Bier, trinkt aber nichts, wer’s glaubt … Der Kerl wollte ihn wohl zum Narren halten.

»Ach so? Sie machen den Eindruck, als würden Sie ab und an gern einen trinken, deshalb frag ich.«

»Macht vierzehntausend … Won.«

»Was denn. Vier Dosen, das sind doch zehntausend Won.«

»Das hier … das koreanische Bier, da gibt es keinen Rabatt.«

»Was? Bei vier für zehntausend würde sich das doch viel besser verkaufen?«

»Hm … das … weiß ich nicht.«

»Tja, stimmt. Darüber können Sie ja nicht Bescheid wissen. Na dann, eine Tüte bitte.«

Der Mann stand unbeweglich da, den Blick auf ihn gerichtet. Wieso das denn? War der jetzt schlecht gelaunt, weil er sich nicht ausreichend respektiert fühlte? Der kleine Aushilfsarbeiter … Aber als er ihn immer weiter anstarrte, wurde es Min-sik doch ein wenig mulmig. Dieses viereckige Gesicht und diese schmalen Schlitzaugen machten ihn ein wenig nervös, aber auch fuchtig.

»Na, was ist? Sie sollen mir das in eine Tüte packen!«

»Sie müssen das noch bezahlen.«

»Ach so, bezahlen. Ich bin der Sohn der Chefin. Packen Sie es einfach ein.«

Da erst fiel ihm ein, dass er bisher gar nicht gesagt hatte, wer er war. Trotzdem stand der Mann an der Kasse noch immer da und starrte ihn an. Hatte der schon Altersbeschwerden, oder was?

»Was ist? Keine Lust zu arbeiten?«

Da war jetzt wohl ein anderer Ton vonnöten. Aber der Mann an der Kasse rührte sich noch immer nicht.

»Ich hab gesagt, ich bin der Sohn der Chefin. Kapierst du das nicht?«

»Beweis … mir das.«

»Was?«

»Du sollst mir das … beweisen. Dass du der Sohn von … der Chefin bist.«

»Hast du mich etwa gerade geduzt?«

»Ja. So wie du mich auch.«

»Ich fass es nicht. Weißt du nicht, wie die Chefin aussieht? Wir sind uns doch ähnlich! Die gleichen Augen, die gleiche Adlernase, oder etwa nicht?«

»Nee … Find ich nicht. Ihr seid euch … nicht ähnlich.«

Min-sik stand hilflos da. Es war nicht nur dieser spöttische, nervtötend schwerfällige Tonfall, der ihn verunsicherte, der stechende Blick, den der stattlich gebaute Kerl auf ihn herabwarf, wirkte regelrecht bedrohlich. Mit einer so komplizierten Lage hatte er nicht gerechnet, doch es dauerte nicht lange und seine Sprachlosigkeit wich der in ihm aufsteigenden Wut und dem Verlangen, hier mal ordentlich auf den Putz zu hauen.

»Du blödes Arschloch! Wenn du demnächst gefeuert wirst, würde dir das als Beweis genügen? Wenn ich das meiner Mutter sage, dann … Wobei, eigentlich gehört der Laden nämlich mir! Schon gewusst? Ich könnte dich auf der Stelle feuern! Klar?«

»Du … kannst mich nicht feuern.«

»Ich werd noch wahnsinnig. Was sagst du da, du Spinner?«

»Wenn du mich jetzt sofort … feuerst, wer macht dann … die Nachtschicht?«

»Gibt doch jede Menge Leute, muss man halt wen finden, da brauchst du dich nicht weiter drum zu kümmern, wenn du deinen Job los bist!«

»Du kannst mich … nicht feuern. Du findest keinen … für die Nachtschicht. Du selber … kommst dafür nicht infrage und … die Chefin ist … im Moment krank.«

»Was?«

»Ja. Die Chefin hat mir … das gesagt. Dass sie einen Sohn hat. Und dass der sie vollkommen ignoriert, obwohl … sie krank ist.«

»Das hat meine Mutter gesagt? Tsss, na so was …«

»Du weißt das … noch gar nicht, was? Dass die Chefin seit ein paar … Tagen regelmäßig zum Arzt muss?«

»Was?«

»Deine Mutter ist seit ein paar Tagen … ziemlich krank. Kannst nicht … für deine kranke Mutter sorgen … aber willst mich feuern. Und die Nachtschicht? Die soll dann … deine Mama … machen, was? So verhält sich doch … kein Mensch …«

Min-sik spürte, wie irgendetwas in seinem Körper in die Tiefe stürzte. Es fühlte sich an, als ob ein ungeheurer Schmerz seine Gedärme durchbohrte und seinen ganzen Körper zu Boden drückte. Weder hatte er gewusst, dass seine Mutter krank war, noch, dass sie anderen Leuten gegenüber so über ihn sprach. Als hätte der Mann an der Kasse soeben das Gerichtsurteil über ihn verkündet, schnappte Min-sik nach Luft, die noch im Raum hängenden Worte wurden zu einem bleiernen Gewicht und zogen ihn immer weiter in die Tiefen eines dunklen Ozeans hinab.

»Wenn du der Sohn … bist, dann … darfst du das … doch nicht machen.«

»Hm … Ähm …«

»Jedenfalls … kann ich dir das Bier … und die Tüte nicht … so einfach geben. Weil ich keinen Beweis habe, dass du … der Sohn bist.«

Min-siks Gesicht war puterrot. Er ballte die Fäuste.

»Verdammte Scheiße! Ich pfeif drauf!«

Nachdem er dem Mann an der Kasse diese letzten Worte hingespuckt hatte, stürmte er aus dem Laden. Nicht weil er vor dem stämmigen Mann Angst gehabt hätte. Sondern weil er sich schämte.

Min-sik ging geradewegs zum Haus seiner Mutter, gab den Geheimcode an der Eingangstür ein und betrat die Wohnung. Das einzige Licht im dunklen Raum stammte vom Bildschirm des Fernsehers, auf dem eine Unterhaltungssendung mit alten Trot-Schlagern lief. Ungeachtet der lauten Musik lag seine Mutter zusammengekauert auf dem Sofa und war eingeschlafen.

Min-sik seufzte. Dann schaltete er das Wohnzimmerlicht an und weckte seine Mutter. Als er sie an der Schulter rüttelte, öffnete sie die Augen, sah ihn benebelt an und richtete sich mühsam auf.

»Was’n los …«

»Ich hab gehört, du bist krank. Da bin ich schnell hergekommen.«

»Krank … Eher mache ich mir Sorgen um dich. Wo hast du denn bloß die ganze Zeit gesteckt?«

»Och, komm. Immer musst du meckern … Ich war bei einem Freund. Aber sag mal, was hast du denn?«

»Irgendeine Erkältung, Gliederschmerzen, so was.«

»Deshalb habe ich dir doch gesagt, du sollst die Grippeimpfung machen. Im Krankencenter gibt es die für Senioren gratis.«

Frau Yeom erhob sich ächzend, ging, ohne noch etwas zu erwidern, in die Küche und setzte eine Kanne mit Gerstentee auf. Min-sik wuselte um sie herum, eifrig bemüht, die krampfige Atmosphäre irgendwie aufzulockern.

»Mensch, warum ist es denn hier drinnen so kalt? Kein Wunder, dass du dich erkältest. Dreh doch mal die Heizung richtig auf.«

»Schon gut. Jetzt, wo du da bist, ist es hier schon nicht mehr so kalt. Der Körpertemperatur nach zu urteilen, bist du ja möglicherweise noch ein Mensch.«

»Was soll das denn heißen? Wie haben deine Schüler bloß eine Lehrerin ertragen, die ständig so bissige Bemerkungen macht?«

»Willst du Gerstentee?«

»Mhm.«

Min-sik setzte sich an den Esstisch und zog die Socken aus. Frau Yeom brachte zwei Becher mit heißem Gerstentee, schnalzte beim Anblick der auf den Boden geworfenen Socken verächtlich mit der Zunge und nahm Platz. So saßen sie schweigend da, tranken Tee und spürten die nächtliche Stille, nun, da es auf zwölf Uhr zuging. Min-sik war sich unschlüssig, wie er das Gespräch beginnen sollte. Wenn er das Ale-Bier aus dem Laden mitgebracht hätte und es ihr nun zeigen könnte, wäre es nicht so kompliziert gewesen, ihr seine Geschäftspläne zu erklären, aber der Idiot im Laden hatte ihm mit seinen Sperenzchen einen Strich durch die Rechnung gemacht. Was immer das für ein dahergelaufener Spinner gewesen sein mochte, der Kerl war verdammt nervig gewesen, und beim bloßen Gedanken an ihn fühlte Min-sik von Neuem die Wut in sich aufsteigen.

»Was machst du denn für ein Gesicht?«

Seine Mutter sah ihn an.

»Mama, ich habe gerade im Laden vorbeigeschaut, sag mal, wer ist denn bitte dieser Brocken mit dem Schurkengesicht?«

»Meinst du Dok-go? Der macht die Nachtschicht.«

»Der ist ja irgendwie nicht normal … Total arrogant und unverschämt.«

»Na ja, ein Ladenmitarbeiter ist natürlich keine Kaufhausbedienung. Aber unverschämt, wieso?«

»Erst mal weiß der überhaupt nicht, wie man mit Kunden umzugehen hat. Ich habe mir nicht gleich anmerken lassen, dass ich der Sohn der Chefin bin, und als ich ihm an der Kasse gesagt habe, er soll mir die Sachen einfach so geben, meint der doch glatt, ich soll ihm beweisen, dass ich dein Sohn bin.«

Frau Yeom brach in schnaubendes Gelächter aus. Das brachte Min-sik umso mehr auf die Palme. Er griff nach dem Becher und kippte den Tee hinunter.

»Dok-go überprüft halt alles ganz genau. Er ist einfach sehr gründlich.«

»Was soll das? Das ist für mich doch entwürdigend! Mama, kannst du den nicht einfach feuern?«

»Soll ich?«

»Ja. Der gefällt mir nicht. Hundert Pro, dass wegen dem noch gewaltig was schiefgeht. Ich habe mich ja zusammengerissen, aber lass da mal einen Betrunkenen in den Laden kommen. Das kann ganz böse ausgehen. Am Ende musst du noch Entschädigung zahlen oder so was.«

»Ich habe gehört, dass er mit betrunkenen Kunden schon ganz gut zurechtgekommen ist. Und am Vormittag begegnet er den alten Damen aus dem Viertel auch immer sehr zuvorkommend. Seitdem steigt auch unser Umsatz.«

»Und wenn schon. Das bisschen Umsatz, das der Laden macht! Es geht im Grunde auch gar nicht darum, ob du den feuerst oder nicht, lass uns einfach den Laden endlich verkaufen.«

»Abgelehnt.«

»Wieso?«

»Wenn ich den Laden schließe, verlieren Frau Oh und Dok-go ihre Arbeit. Die beiden leben davon.«

»Puh … Bist du Jesus, oder was? Hängt sich jeder, der in die Kirche geht, so am hehren Ideal der Nächstenliebe auf?«

»Das hat nichts damit zu tun, ob man Christ ist oder nicht. Das ist einfach ganz gewöhnlicher Anstand. Als Chefin muss ich natürlich an den Lebensunterhalt meiner Mitarbeiter denken.«

»Als Ladenchefin? Was ist denn das für eine Chefin?«

»Das ist genau der Grund, weshalb du, mein Sohn, es niemals bis zum Chef bringen, sondern immer mit kleinen Jobs herumkrebsen wirst. Verstanden?«

»Oh Mann! Schon wieder eine Predigt … Na gut, stellen wir den Verkauf des Ladens mal zurück. Als Erstes feuerst du diesen Typen.«

»Kommt nicht infrage.«

»Und warum nicht?«

»Ich brauche jemanden für die Nachtschicht. Falls du einspringen willst, überleg ich es mir.«

»Mama, warum willst du mir ständig so eine billige Arbeit aufhalsen? Fändest du es gut, wenn dein Sohn im 24-Stunden-Laden jobbt?«

»Es gibt keine guten oder schlechten Berufe. Der Mindeststundenlohn ist mittlerweile so hoch, dass man in einem Monat mehr als zwei Millionen Won verdienen kann, wenn man fleißig Nachtschicht macht.«

»Alles klar. Lass mal gut sein.«

Min-sik leerte erneut seinen Becher mit Gerstentee. Aber seine Wut legte sich nicht, das Gespräch verlief dafür schlichtweg zu unerfreulich. Vielleicht sollte er einfach wieder nach Hause gehen. Er sprang auf. Es war frustrierend. Nicht nur, dass er die Sache mit dem Verkauf des Ladens und der Investition in seine Geschäfte bisher nicht hatte regeln können, nun musste er nach dem Gemeckere seiner Mutter möglicherweise unverrichteter Dinge wieder abziehen wie ein auf dem Schlachtfeld verirrter Kämpfer. Vielleicht sollte er erst mal einen Schluck kühles Wasser trinken, bevor er ihr seine Pläne unterbreitete. Er ging zum Kühlschrank.

Nanu? Als er die Kühlschranktür öffnete, um sich eine Flasche Wasser zu nehmen, erblickte er etwas, das sich im Hause seiner Mutter nie und nimmer hätte befinden dürfen. Vier Dosen Bier, noch dazu genau die Sorte, die er vorhin aus dem Laden mitbringen und ihr hatte zeigen wollen, um ihr sein Projekt schmackhaft zu machen.

Er nahm eine Dose »Bierberg Sobaeksan« und kehrte an den Esstisch zurück. Als seine Mutter sah, was er da in der Hand hielt, schien sie leicht zusammenzuzucken, brachte ihre Gesichtszüge aber sofort wieder unter Kontrolle. Min-sik öffnete die Dose und goss sich Bier in den nun leeren Gerstenteebecher ein. Der aromatische Ale-Geruch kitzelte seine Nase. Nun ging es darum, diese glänzende Gelegenheit nicht ungenutzt verstreichen zu lassen.

Min-sik trank den Becher in einem Zug aus. Ah, wie erfrischend! Zwar nicht ganz so gut wie das Bier von Steve, das er am Abend getrunken hatte, aber das reiche Aroma und der kräftige Geschmack waren eindeutig anders als bei herkömmlichem Bier.

»Ah, lecker. Wusste gar nicht, dass du Bier im Haus hast.«

»Die Firma hat mir das empfohlen, die Marke ist neu … Da hab ich das mal ausprobiert. Schmeckt nicht schlecht.«

»Was denn, heißt das, du hast das Bier selbst getrunken? Darfst du das denn?«

»Erzähl das nicht rum. Ich trinke das nur wegen der Arbeit. Ich muss doch über die Sachen Bescheid wissen, die ich in meinem Laden verkaufe.«

»Verstehe. Dann testest du sicher auch alle Zigarettenmarken gewissenhaft durch, was? Alles andere wäre ja unverantwortlich.«

Min-siks Sticheleien trieben Frau Yeom missmutige Falten auf die Stirn, während sie ihren Tee austrank und den Becher abstellte.

»Quatsch nicht rum und schenk mir was ein.«

Na bitte! Frohlockend goss Min-sik seiner Mutter Bier in den Becher, dass es bis zum Rand schäumte.

Eine Stunde saßen sie beisammen und tranken Bier. Sie leerten alle vier Dosen, die im Kühlschrank waren. Es war das erste Mal überhaupt in Min-siks Leben, dass er seiner Mutter gegenübersaß, mit ihr trank und sich mit ihr unterhielt. Es war sehr ungewohnt, dass seine Mutter Alkohol trank, und es war eigenartig, so lange mit ihr zu reden. In den vergangenen Jahren war es immer so gewesen, dass Min-sik irgendetwas von ihr gefordert und sie alles ausnahmslos abgelehnt hatte und das Gespräch damit jedes Mal beendet gewesen war. Nun aber waren sie beide hinreichend beschwipst, um miteinander über dies und das zu plaudern. Sie erinnerten sich — nicht ohne Spott — an Min-siks Vater, diesen Sturkopf, der nun nicht mehr lebte, und zogen gemeinsam über Min-siks große Schwester und ihren Mann her, die sich beide so unausstehlich aufführten, außerdem hörte Min-sik sich an, wie es den Leuten aus der Kirche ging, in die auch er eine Weile zum Gottesdienst gegangen war, und dass manche Mieter hier im Haus zuweilen so laut waren, dass die Nachbarn sogar schon die Polizei gerufen hätten. Frau Yeom schüttete ihrem Sohn ihr Herz aus, die Worte sprudelten aus ihr heraus, als wäre ein Damm gebrochen. Für Min-sik war es ganz neu, zu hören, was seine Mutter über die Menschen in ihrem Umfeld dachte. So waren sie in Bezug auf seinen Vater, seine Schwester und deren Mann hundertprozentig einer Meinung, was die Leute in der Kirche und in der Nachbarschaft anging, allerdings meist uneinig.

Seine Mutter berichtete ihm auch von einer seiner früheren Mitschülerinnen aus der Kirchenschule, die sich kürzlich habe scheiden lassen und nun wieder zur Kirche gehe. Nach zwei Jahren kinderloser Ehe sei sie nun wieder alleine, genauso wie er auch, ob er nicht diesen Sonntag mal in die Kirche mitkommen wolle, um Hallo zu sagen. Ein Vorschlag, den Min-sik schroff zurückwies. Er werde weder in die Kirche gehen noch diese Frau treffen. Seine Mutter schmatzte bedauernd mit den Lippen und leerte ihren Becher.

»Weißt du, warum ich die ganze Zeit keinen Alkohol getrunken habe?«

»Weil du in die Kirche gehst.«

»Hältst du mich wirklich für so verklemmt? Das erste Wunder, das Jesus vollbracht hat, bestand darin, dass er bei einem Fest, wo es nicht genug zu trinken gab, Wasser zu Wein hat werden lassen. Alkohol zu trinken, ist nicht das Problem. Das Problem ist, dass man Sachen falsch macht, wenn man getrunken hat.«

»Ja, eben. Dann wird Alkohol doch zum Problem. Na egal.«

»Bei mir nicht. Deine Mutter kann ordentlich was ab. Vor meiner Heirat haben die männlichen Kollegen aus der Schule ordentlich versucht, mich abzufüllen. So schnell werde ich nicht betrunken. Aber es schmeckt mir halt einfach nicht. Soju ist mir zu bitter, Bier zu lasch, Wein zu süß … Aber dieses Bier hier, das hat mir geschmeckt. Gutes Aroma, leicht bitter, irgendwie bekömmlich, wirklich nicht schlecht.«

Sie griff nach dem Teller mit den Knabbereien und steckte sich ein knuspriges Blatt getrockneten Seetang in den Mund. Min-siks Augen blitzten auf. Der Augenblick war gekommen. Der Augenblick, sie um den Finger zu wickeln. Sein routiniertes Gefühl für Timing sagte ihm, dass nun die Zeit reif war, um die Katze aus dem Sack zu lassen und seiner Mutter von seinem Brauereiprojekt zu erzählen. Ihr schmeckte das Ale sehr gut. Und auch wenn sie ihre Trinkfestigkeit betonte, machte sich der Alkohol bei ihr doch inzwischen bemerkbar. Vielleicht ließe sie sich, wenn er ihr noch einen Becher aufschwatzte, am Ende tatsächlich dazu bewegen, den Laden zu verkaufen und in sein Projekt einzusteigen.

Nur: Es war kein Alkohol mehr da. Min-sik sah die eingedrückten leeren Bierdosen auf dem Tisch und beschloss, noch einmal in den Laden zu gehen, um Nachschub zu besorgen. Er nahm sein Handy und setzte sich neben seine Mutter.

In aller Eile lief er zum Laden, steuerte dort sofort den Glaskühlschrank mit den Getränken an und ging mit vier Dosen Ale zur Kasse. Dok… oder wie auch immer er hieß, war nicht zu sehen. Wo war der Kerl bloß hin? So etwas Nerviges … Min-sik nahm eine Plastiktüte aus dem Kassentisch, in die er die Dosen hineinlegte. Da sah er den klotzigen Kerl aus dem Lagerraum kommen, über und über mit Instantnudel-Packungen beladen. Min-sik tat noch etwas genervter als nötig. Der Kerl hatte inzwischen mitbekommen, dass außer ihm noch jemand im Laden war, stellte die Nudelboxen auf dem Tisch am Fenster ab und kam auf Min-sik zu. Der holte sein Handy hervor und hielt dem Kerl, der ihn offenbar für einen Betrüger hielt, das Foto auf dem Display entgegen.

»Da. Reicht das als Beweis?«

Es war das Foto, das er fünf Minuten zuvor mit seiner Mutter gemacht hatte. Bierselig drückten sie darauf ihre Wangen aneinander und bildeten mit den Fingern ein Herzchen. Der Kerl sah das Foto eine Weile an, dann nickte er. Min-sik lächelte zufrieden und wollte schon gehen, als er plötzlich innehielt.

»Wie oft wurde das hier heute verkauft?«

»Das ist heute … das erste Mal. Ich wollte der Chefin sagen, dass sie … das nicht mehr bestellen soll.«

»Na hör mal! Das sagst du nur, weil du das noch nie getrunken hast. Die Chefin hat gesagt, ich soll noch mehr davon besorgen, weil ihr das so gut schmeckt.«

»Das Geschäft funktioniert nicht so, dass man … Sachen verkauft, weil man sie … selber mag. Man verkauft Sachen, die … andere mögen.«

»Andere mögen das doch auch!«

»Die Verkaufszahlen … lügen nicht.«

»Hm. Das werden wir ja sehen.«

Schnaubend stieß Min-sik die Tür auf und verließ den Laden.

Als er zu Hause ankam, hatte seine Mutter ihr rosiges Gesicht auf den Esstisch gedrückt und schnarchte leise vor sich hin. Eine Weile stand Min-sik da und betrachtete stumm seine schlafende Mutter, die kleine Frau, die mittlerweile mehr graue als schwarze Haare hatte. Dann trug er sie ins Schlafzimmer hinüber. Der Körper der Mutter war leicht, das Herz des Sohnes schwer.

Nachdem er sie aufs Bett gelegt hatte, kam er an den Esstisch zurück und öffnete noch eine Dose Bier. Allerlei Bilder und bittere Erinnerungen hinunterspülend, trank er in großen Schlucken das Bier, das er bald selbst herstellen und verkaufen wollte, diesen ersten Alkohol, den er mit seiner Mutter zusammen getrunken hatte, diesen goldenen Trank, der ihm wieder auf die Beine helfen würde.

Es war ein schöner Abend gewesen. Sie hatten zusammen angestoßen, sich lange unterhalten und ein gemeinsames Foto gemacht. Seit Langem hatte er wieder einmal so etwas wie familiäre Wärme gespürt, und das genügte ihm. Über die Ladenauflösung und die Geldanlage konnte er auch morgen mit ihr sprechen. Schließlich mochte seine Mutter das Bier. Und auch wenn sie sich Sorgen darum machte, um ihren Lebensunterhalt sollten sich Frau Oh und Dok-go oder Dok-geo oder wie auch immer gefälligst selbst kümmern. Frau Oh musste man nur ein bisschen einschüchtern, dann machte sie sicher einen Rückzieher. Über den anderen wusste er zu wenig, da würde er noch etwas forschen müssen. Fest stand, dass jemand, der behauptete, die Verkaufszahlen würden nicht lügen, und der eindeutig etwas gegen Ale-Bier hatte, hier nicht bleiben durfte. Wenn der anfing, unliebsame Bemerkungen darüber zu machen, was bestellt werden sollte und was nicht, würde es sehr schwierig werden, seine Mutter zu überzeugen. Eile war geboten.

Min-sik beschloss, genauer in Erfahrung zu bringen, wer dieser Typ eigentlich war. Als er seine Mutter gefragt hatte, wie sie dazu gekommen sei, ihn einzustellen, hatte sie nur gelacht und keine richtige Antwort gegeben. Das hatte die Sache nur noch verdächtiger gemacht. Dem Kerl war nicht zu trauen, und er war ein eindeutiges Hindernis. Er musste aus dem Weg geräumt werden, und dafür brauchte Min-sik Hintergrundinformationen. Wenn bei den Nachforschungen etwas herauskam und er seiner Mutter davon berichtete, würde sie bei ihrem ausgeprägten Moralbewusstsein sicher nicht zögern, den Kerl in die Wüste zu schicken. Min-sik nahm sich vor, gleich an diesem Morgen bei Gwak anzurufen, einem alten Bekannten, der als Privatdetektiv arbeitete und zu dem er seit seiner Arbeit in Yongsan einen guten Draht hatte.

Er trank das Bier aus und versuchte, auch den Gedanken an seine Mutter zu Ende zu bringen. Er nahm sein Handy heraus und installierte das Foto, das er vorhin gemeinsam mit ihr gemacht hatte, als Hintergrundbild auf dem Startbildschirm.

Das Herzchen, das Mutter und Sohn etwas wackelig mit Daumen und Zeigefinger gebildet hatten, sah doch irgendwie liebenswürdig aus.